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Editorial

vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 1-4

Finanz- und Eurokrise, Griechenland-Schuldenkrise, Flüchtlingskrise, Brexit … immer wieder wurde in den letzten Jahren diagnostiziert, die Europäische Union (EU) befinde sich in der Krise. Ob die jeweiligen Krisen wirklich so überraschend, dramatisch und existenziell waren, wie manche Beobachter/innen meinten, mag bezweifelt werden. Fest steht jedoch, dass die europäische Integration bei vielen Bürger/innen in eine Legitimationskrise geraten ist: für sie sind die Entscheidungen von Kommission und Europaparlament kaum nachvollziehbar, ist die EU gleichbedeutend mit Bürokratie und Lobbyismus. Derweil erhalten anti-europäische Bewegungen und Parteien erheblichen Zulauf, rechtspopulistische und nationalistische Gruppierungen steigerten ihren Einfluss im Europaparlament. Die vielbeschworene Wertegemeinschaft zeigt erkennbare Brüche, zahlreiche Mitglieder fremdeln untereinander. Der knappe Abstimmungssieg für den Brexit hat die Krise der EU verschärft. Wird der Brexit vollzogen, wird die europäische Integrationszone erstmals in ihrer 60jährigen Geschichte seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft im Jahr 1957 räumlich schrumpfen.

Aber welche Zusammenhänge gibt es zwischen den aktuellen Krisenphänomenen und der seit vielen Jahren artikulierten Kritik an der EU, die unter Stichworten wie Demokratiedefizit, Festung Europa oder neo-liberale Integration zusammengefasst werden kann? Mit dieser Frage befasst sich der Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe der vorgänge. Die Beiträge beleuchten die Defizite der EU aus verschiedenen Blickwinkeln, diskutieren staatstheoretische, demokratische und ökonomische Ursachen für die Schwierigkeiten der EU. Und sie setzen sich mit den mittlerweile vorliegenden Vorschlägen zur Überwindung der Krise(n) auseinander. So legte die Europäische Kommission im März 2017 ihr „Weißbuch zur Zukunft Europas“(1) vor. Darin stellte sie als Reaktion auf den Brexit und die anderen Krisen der EU fünf verschiedene Szenarien zur Diskussion:

(1) „Weiter wie bisher“,
(2) „Schwerpunkt Binnenmarkt“,
(3) „Wer mehr will, tut mehr“,
(4) „Weniger, aber effizienter“ und
(5) „Viel mehr gemeinsames Handeln“.

In einer Rede an der Pariser Sorbonne positionierte sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am 26. September 2017. Er plädierte – ohne es explizit zu nennen – für Szenario 5: Denn er schlug viel mehr gemeinsames Handeln der europäischen Staaten vor, insbesondere auf Feldern wie Zuwanderung und Asyl, Klimaschutz, Terrorismus, Cybersicherheit und Militär. Auch forderte er einen gemeinsamen Haushalt für die Mitgliedstaaten der Eurozone. Schließlich hat der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner jährlichen Rede zur Lage der Union seine Pläne zur Überwindung der Krise erläutert. Diese Vorschläge stellen wir in einer Dokumentation ab Seite 105 dieser Ausgabe kurz vor.

Den Themenschwerpunkt eröffnet ein Interview mit dem früheren Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm. Er hat sich in den letzten Jahren mehrfach zu Fehlentwicklungen der EU geäußert, seine Aufsätze zum Thema erschienen kürzlich als Sammelband. Im Gespräch mit Rosemarie Will geht er auf die rechtspolitischen Ursachen für die manchmal technokratischen Züge der Union ein, setzt sich kritisch mit dem Verhältnis von europäischem und nationalem Recht sowie mit den Vorschlägen zur Stärkung des Europaparlaments als Überwindung der demokratischen Legitimationsdefizite auseinander. Grimm unterbreitet einen Gegenvorschlag, um die von ihm diagnostizierte Überkonstitutionalisierung der EU zu beenden; eine Idee, wie die von der EU geregelten Fragen repolitisiert werden könnten. Sein Vorschlag setzt jedoch eine Vertragsänderung voraus – was angesichts der divergierenden Vorstellungen unter den Mitgliedern wenig Aussicht auf Erfolg hat.

Der darauffolgende Beitrag von Wilfried Loth zeigt, dass der Brexit und die anderen EU-Krisen der letzten Jahre in einer Linie mit zahlreichen Krisen der europäischen Einigung stehen, die die Union seit ihrer Gründung begleiten. Loth verweist dazu auf die verschiedenen Antriebskräfte und Motivationen, die der Gründung der EWG zugrunde lagen, und die unterschiedlichen Vorbehalte und Bedenken, die seit jeher geltend gemacht wurden. Als vorrangig zu lösendes Problem macht er das Demokratiedefizit der EU aus. Loth diskutiert mögliche Szenarien für die weitere Entwicklung und wagt die Prognose, dass die EU nicht zerfallen wird, sondern aus der derzeitigen Situation gestärkt hervorgehen könnte, auch und gerade im Hinblick auf die Unterstützung der Bevölkerung.

Hartmut Aden skizziert im Folgenden die Probleme, die aus der Mehrebenen-Struktur der EU entstehen: das Hin- und Herschieben politischer Entscheidungen zwischen nationaler und europäischer Gesetzgebung; die Doppelzuständigkeiten und Kompetenzkonflikte zwischen EU und Nationalstaaten; die Grenzen europäischer Regulierungsmöglichkeiten durch das Konsensprinzip; die lange Verfahrensdauer für Gesetzgebungen der Union; die unterschiedliche Umsetzung europäischer Vorgaben in den Mitgliedstaaten … Im Ergebnis führe dies oft zu einer Verantwortungsdiffusion in der EU, bei der kaum auszumachen ist, welche Stelle für schlechte bzw. schlecht umgesetzte EU-Politik verantwortlich ist. Die Lösung sieht Aden jedoch nicht in einer Zentralisierung der EU, sondern in der deutlicheren Abgrenzung von Zuständigkeiten für einzelne Politikfelder und der Stärkung der Koordinationsmechanismen. Letztlich gehe es aber auch um eine Neuausrichtung der EU-Politik, die die Interessen der Bevölkerung stärker in den Blick nehmen müsse, um den konkreten Nutzen der Union für die/den Einzelne/n wieder sichtbar zu machen.

Auf einen besonderen Aspekt der Mehrebenen-Struktur der EU geht Uwe Kranenpohl ein: den Grundrechtsschutz im Zusammenspiel der beiden europäischen Gerichte (EGMR, EuGH) und der nationalen Verfassungsgerichte. Zunächst beschreibt Kranenpohl das Verhältnis zwischen europäischem und nationalem (Grund-)Rechtsschutz – was die Fragen nach der Unter- oder Überordnung bzw. Kooperation der beteiligten Gerichte einschließt. Konflikte zwischen den Gerichten werden nach Kranenpohl sowohl in der Kompetenzdimension (Welches Recht ist als vorrangig?) als auch in der Interpretationsdimension (Was ist der „richtige“ Inhalt einer Rechtsnorm?) ausgetragen. Auf lange Sicht führt nach Kranenpohl kein Weg um ein europäisches Grundrechtsschutzregime herum, denn eine kohärente gerichtliche Kontrolle des staatlichen Handelns der Union und der Mitgliedstaaten sei durch nationale Verfassungsgerichte nicht mehr hinreichend zu gewährleisten.

Die ökonomischen Ursachen für die Euro-Finanzkrise stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Rainer Land. Er geht vom Zustand einer divergierenden wirtschaftlichen Entwicklung aus, welche die europäische Wirtschaft seit Jahren prägt. Dem deutschen Wirtschaftswachstum und Exportüberschüssen stehen substantielle Konjunkturkrisen und beträchtliche Handelsdefizite anderer (europäischer) Staaten gegenüber, allen voran Großbritannien, Frankreich und Griechenland. Der Autor verweist auf die strukturellen Probleme, die sich aus einem längerfristigen Exportüberschuss ergeben – nicht nur für die sich immer stärker verschuldenden, wirtschaftspolitisch in die Abhängigkeit geratenden Länder, denen Arbeitslosigkeit und De-Industrialisierung drohen. Anhaltende Handelsungleichgewichte bergen auch für ein Überschuss-produzierendes Land wie Deutschland zahlreiche Risiken: sinkende Reallöhne und die Zunahme relativer Armut; ausbleibende Investitionen in die Infrastruktur und damit in die Zukunft; der drohende Wertverlust für die mit Krediten/Schuldverschreibungen finanzierten Exportüberschüsse … Die europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik sieht Land derzeit in einem Widerspruch verfangen: Einerseits versuchten die einzelnen Mitgliedstaaten, gegenüber anderen Nationen möglichst wettbewerbsfähig zu sein und Exportüberschüsse zu erzielen; andererseits setze die europäische Finanzpolitik alles daran, dass für den Konsum dieser Überschüsse keine neuen Defizite entstünden. Beides sei aber nicht miteinander zu vereinbaren – kein Überschuss ohne ein entsprechendes Defizit an anderer Stelle. Rainer Land plädiert dafür, die Handelsungleichgewichte innerhalb der EU und des EU-Außenhandelns aufzulösen. Dies sei umso wichtiger, als die bisherige Orientierung auf Wettbewerbsvorteile auch den notwendigen ökologischen Umbau der Wirtschaft blockiere. Für die Eurozone sieht Land dabei drei grundsätzliche Optionen: den Ausgleich der Überschüsse/Defizite durch Transferzahlungen (die jedoch mehrere Hundert Milliarden jährlich betrügen); eine koordinierte Dynamik der nationalen Lohnniveaus in den Mitgliedstaaten, die strikt am Maßstab der Produktivität zu orientieren wären (um Defizite/Überschüsse zu vermeiden); oder die Auflösung der Eurozone bzw. der Austritt einzelner Staaten aus dem Verbund.

Die folgenden beiden Beiträge widmen sich den Gegnern der europäischen Integration: Jörg Ukrow analysiert die letzten Parlamentswahlen in verschiedenen EU-Mitgliedsländern im Hinblick auf den Einfluss eurokritischer, rechtspopulistischer und nationalistischer Parteien. Deren Erfolge gehen einher mit dem Niedergang der Sozialdemokratie, die in fast allen Abstimmungen (bis auf die britische Labour Party unter Jeremy Corbyn) erhebliche Verluste einstecken musste. Nach Ukrows Auswertung sind es vor allem die älteren Wähler/innen sowie die Menschen in ländlichen Regionen, die zu den Wahlerfolgen der europakritischen Parteien beitragen. Zudem erweist sich die Zustimmung zur bzw. Ablehung der europäischen Integration als stark abhängig vom Einkommen und Bildungsstatus der Menschen, was die sozialpolitischen Defizite der EU offenlege.

Tobias Peter untersucht den Einfluss rechtspopulistischer und -nationalistischer Parteien im Europaparlament. Er unterscheidet dabei vier Varianten: die extreme, ethnozentristische, populistisch-autoritäre sowie eine religiös-fundamentalistische Rechte. Da sich Vertreter/innen dieser vier Richtungen (und teilweise sogar die Abgeordneten einer Partei, s. AfD) verschiedenen Fraktionen anschließen, ist die Stärke der Rechten im Parlament nicht ganz leicht auszumachen. Im Vergleich zu den letzten Wahlen stieg die Zahl rechtsgerichteter Abgeordneter von 46 auf 81 an. Sie verteilen sich derzeit auf drei Fraktionen: Europäische Konservative und Reformer, Europa der Freiheit und der direkten Demokratie sowie Europa der Nationen und der Freiheit. Ihr Einfluss reicht jedoch weit darüber hinaus, denn zu ihrem Erfolg gehört nach Peter auch, dass die Rechten mittlerweile die Agenda der anderen Fraktionen beeinflussen und diese thematisch vor sich hertreiben.

Antonio López-Pinas Blick von außen auf die deutsche Rolle in Europa beschließt diesen Schwerpunkt. Er geht vor allem auf die sozialpolitischen Defizite der EU ein, deren Regulierungsbemühungen bisher einseitig zugunsten der Wirtschaft und des freien Handels ausfielen. Der Aufbau einer Sozialunion sei daher dringend geboten, die kürzlich verabschiedete Initiative einer Sozialen Säule der EU (2) keineswegs ausreichend. Um derartige Vorhaben umsetzen zu können, müssten die deutsche Bundesregierung und die Öffentlichkeit jedoch ihre Zahlmeister-Mentalität ablegen und dürften nicht jede Reform mit dem Kostenargument abwürgen. Darüber hinaus fordert López-Pina die Deutschen auf, endlich ihre führende Rolle innerhalb Europas anzuerkennen und dieser gerecht zu werden, indem sich deutsche Politiker wirklich um Europa und nicht mehr nur um deutsche Egoismen kümmern.

Wir wünschen Ihnen viele neue Einsichten und eine anregende Lektüre mit dieser Ausgabe der vorgänge,

Hartmut Aden und Sven Lüders für die Redaktion.

Anmerkungen

1 Europäische Kommission, Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien, Brüssel, COM(2017)2025.

2 Parlament, Rat und Kommission der Europäischen Union: Europäische Säule Sozialer Rechte. Göteborg am 17.11.2017, abrufbar unter https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/socialsummit-european-pillar-social-rights-booklet_de.pdf.

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