Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 220: Europa in der Krise

Vorschläge zur Reform der Europä­i­schen Union

vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 105-113

Emmanuel Macrons „Initiative für Europa“

Am 26. September 2017 hielt der französische Staatspräsident eine vielbeachtete Rede an der Pariser Sorbonne, in der er seine Vorschläge zur Reform der Europäischen Union erläuterte. Angesichts der globalen Herausforderungen könne die Antwort nur eine neu begründete, stärkere EU sein:

Es liegt an uns und an euch, den einzigen Weg, der unsere Zukunft sichert, zu ebnen, und davon möchte ich heute sprechen. Es ist die Neubegründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europa. Haben wir gemeinsam den Mut, uns diesen Weg zu bahnen. … Das Europa, wie wir es kennen, ist zu schwach, zu langsam, zu ineffizient, aber allein Europa kann uns eine Handlungsfähigkeit in der Welt geben angesichts der großen Herausforderungen dieser Zeit. … Allein Europa kann tatsächliche Souveränität gewährleisten, das heißt, die Fähigkeit, in der heutigen Welt zu bestehen, um unsere Werte und unsere Interessen zu verteidigen. Es gilt, eine europäische Souveränität aufzubauen und es besteht eine Notwendigkeit, sie aufzubauen.“ (S. 3)

Inwiefern Macrons Vorschlag eine genuine Souveränität der EU oder eine Stärkung der nationalen Souveränitäten meint, erschließt sich nicht eindeutig aus dem Text. Folgende konkreten politischen Vorschläge bzw. Forderungen nennt Macron in seiner Rede (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

Sicherheit: stärkere Zusammenarbeit bei der Cybersicherheit; Schaffung eines gemeinsamen Raums der Sicherheit und des Rechts (S. 4); Schaffung einer europ. Zivilschutztruppe für Katastrophenfälle mit eigenen Rettungskräften (S. 5)

Verteidigung: die EU soll neben der NATO militärisch selbständig handlungsfähig werden; die im Juni 2017 beschlossene verstärkte Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen ist rasch zu konkretisieren, z.B. durch die Entwicklung gemeinsamer militärischer Strategien, die Integration von Soldaten anderer Mitgliedsstaaten in die eigenen Streitkräfte; mittelfristig: Schaffung einer gemeinsamen Einsatztruppe, eines gemeinsamen Verteidigungshaushalts und einer gemeinsamen Militärdoktrin (S. 4)

Terrorismusbekämpfung: Schaffung einer Europäischen Akademie für nachrichtendienstliche Tätigkeit (S. 4); Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft für organisierte Kriminalität und Terrorismus, deren Kompetenzen über die bestehender Einrichtungen hinausgeht (ebd.)

Migration: Reform der europäischen Asylpolitik; Schaffung einer echten Europäischen Asylbehörde zur Beschleunigung und Vereinheitlichung der Asylverfahren; (stärker?) vernetzte Datenbanken und sichere biometrische Ausweisdokumente; schrittweise Übernahme der Kontrollen an den Außengrenzen durch eine europäische Grenzpolizei; gemeinsames Bildungs- und Integrationsprogramm und abgestimmtes Verfahren der Lastenverteilung (S. 5)

Außenpolitik: gemeinsame (Entwicklungs-)Politik gegenüber Afrika und anderen Anrainerstaaten

Finanzen & Steuern: Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer, aus der u.a. entwicklungspolitische Maßnahmen finanziert werden (S. 6); Einführung des Prinzips einer Wertschöpfungssteuer, die Gewinne am Ort der Wertschöpfung besteuert (um die Steuervermeidung globaler Unternehmen zu unterbinden; S. 10); Ausweitung der Eurozone; stärkerer gemeinsamer Haushalt, der Reserven für Kriseninterventionen bereithält (S. 12); stärkere politische Steuerung und parlamentarische Kontrolle des EU-Haushalts (ebd.); Harmonisierung der Körperschaftssteuer und anderer nationaler Steuern als Voraussetzung für den Zugang zu einem europ. Kohäsionsfond (S. 13)

Wirtschaftspolitik: einheitliche Besteuerung von CO2-Emmissionen, um den ökologischen Wandel der Wirtschaft zu beschleunigen und Ausgleichsmaßnahmen zu finanzieren; europäische Energie-Verbundnetze (S. 7); europäisches Förderprogramm zur Entwicklung sauberer Fahrzeuge (S. 8); Koordination der nationalen Wirtschaftspolitiken; volle Integration der Märkte und einheitliches Unternehmensrecht (S. 21)

Sozialpolitik: gemeinsame wirtschaftspolitische Strategien zum Abbau der Arbeitslosigkeit (S. 11); Konvergenz der Sozialsysteme (S. 12/14); Stärkung sozialer Gerechtigkeit, z.B. durch europäische Aufsichtsbehörden zur Einhaltung von Sozialstandards (etwa bei Entsenderichtlinie/S. 13); Entwicklung eines europäischen Sozialmodells (S. 14)

Agrarpolitik: Neuausrichtung der GAP auf den Schutz vor Weltmarkeinflüssen (die die Nahrungsmittelsouveränität Europas gefährden) sowie Steuerung des Wandels (S. 8f.); europaweit einheitliche Standards zur Sicherheit und Qualität von Lebensmitteln (S. 9); europäische Forschung zu Umweltrisiken

Digitalisierung: Gründung einer europäischen Agentur für radikale Innovationen (z.B. Künstliche Intelligenz oder Weltraum/S. 10); Schaffung eines digitalen Binnenmarktes mit einheitlichen Regulierungsvorgaben; Stärkung digitaler Urheberrechte zur gerechten Entlohung der Autoren/Schaffenden (S. 11)

Bildung: Stärkung des europ. Schüler- und Studentenaustauschs; Einrichtung europäischer Universitäten (S. 15)

Struktur & Dynamik der EU: Vereinfachung des Europarechts; Verkleinerung der Kommission auf 15 Mitglieder – große Mitglieder sollten auf „ihren“ Kommissar verzichten (S. 19); Gemeinschaft der verschiedenen Geschwindigkeiten, d.h. partielle Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen interessierten Mitglieder (S. 20); öffentliche Diskussion über die Reformen der EU in Konventen (S. 17)

Erweiterung: Beitrittsperspektive für die Balkanländer (S. 19f.); Rückkehr Großbritanniens in eine reformierte EU (S. 20)

Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überle­gungen und Szenarien
Weißbuch zur Zukunft Europas

Im März 2017 stellte die Kommission ihr Weißbuch zur Zukunft Europas vor. Im Mittelpunkt stehen dabei fünf Szenarien zu verschiedenen möglichen Entwicklungspfaden der Gemeinschaft, die auf den folgenden Seiten kurz zusammengefasst werden. Den Szenarien stellt die Kommission eine Diagnose der gegenwärtigen Herausforderungen voran, mit der die Rahmenbedingungen und der Handlungsbedarf skizziert werden:

  • Die abnehmende Bedeutung Europas in der Welt: Im Jahr 2060 werden weniger als 5 Prozent der Weltbevölkerung in Europa leben (1900: 60 Prozent), der Anteil der europäischen Wirtschaft am weltweiten Bruttoinlandsprodukt wird unter 20 Prozent sinken, ebenso verliert der Euro als Handelswährung an Bedeutung.
  • Die Gefahr einer militärischen Eskalation von Konflikten nimmt zu, die friedensstiftende/-wahrende Funktion der EU gerät unter Druck. Die Kommission erwartet deshalb für die meisten Mitgliedstaaten eine Verdopplung ihrer jährlichen Militärausgaben bis 2045.
  • Die wirtschaftliche Entwicklung gewährleistet nicht mehr – wie bisher – einen automatischen Wohlstandsgewinn für nachfolgende Generationen: erstmals drohen die Jüngeren im Vergleich zu ihren Eltern zu verarmen.
  • Die zunehmender Alterung der europäischen Gesellschaften stellt die Renten- und Sozialversicherungssysteme vor große Herausforderungen.
  • Der industrielle Wandel (Digitalisierung), die zunehmende Rohstoffknappheit und der notwendige ökologische Umbau der Wirtschaft (zur Verringerung der Klimafolgen) verlangen nach technologischen Innovationen und stellen neue Anforderungen an Bildungssysteme und die Regulierung der Arbeitsverhältnisse.
  • Die zunehmende Migration in die EU hinein stellt die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft sowie den Lastenausgleich und die Solidarität der Mitglieder untereinander auf eine harte Bewährungsprobe.
  • Eine steigende Unzufriedenheit mit der europäischen Politik führt zu einem Vertrauensverlust und einer Legitimitätskrise der Gemeinschaft – was u.a. im Erstarken antieuropäischer Parteien und Bewegungen sichtbar wird (s. dazu die Beiträge von Ukrow & Peter in diesem Heft). Eine zentrale Ursache dieser Enttäuschung sieht die Kommission vor allem in der Kluft zwischen (zu hohen) Erwartungen/ Versprechen und (zu schlechten) Ergebnissen der Gemeinschaftspolitik. Erschwerend komme hinzu, dass europäische Rechtsetzung und dessen Umsetzung in den Mitgliedstaaten oft getrennt sind, die EU meist nicht über die nötigen Mittel zur Durchsetzung einmal verabschiedeter Standards verfüge.


Europäische Kommission, Die EU der 27 im Jahr 2025 – Überlegungen und Szenarien. Weißbuch zur Zukunft Europas. Brüssel, COM(2017)2025.

[die tabellarischen Übersichten finden sich in der angehängten PDF-Version des Beitrags]

Reformen jenseits der Vertrags­än­de­rung

Die aktuelle Rechtsgrundlage der Europäischen Union ist der Lissaboner Vertrag, der eigentlich aus zwei separaten Verträgen besteht:

  • dem Vertrag über die Europäische Union (EUV)
  • dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).

Beide Verträge wurden am 13. Dezember 2007 in Lissabon von den Regierungschefs der damals 27 Mitgliedstaaten unterzeichnet und traten am 1. Dezember 2009 in Kraft. In ihnen sind die Kompetenzen der Europäischen Union, also jene Politikfelder definiert, in denen die Gemeinschaft die Rechtsetzung übernommen hat. Darüber hinaus beschreiben die Verträge die Organe, die Struktur und Arbeitsweise der Union.

Eine reguläre Änderung der Rechtsgrundlagen der Union ist nur durch neu ausgehandelte Verträge möglich – der alle Mitglieder zustimmen müssen. Eine solche Änderung wird jedoch mit der zunehmenden Mitgliederzahl der Gemeinschaft immer schwieriger, weil zuvor ein Konsens über die Neuausrichtung der EU hergestellt werden müsste.

Obwohl die Europäische Union nicht über eine juristische Souveränität im engeren Sinne verfügt, also ihre Kompetenzen selbst und unabhängig von den sie begründenden Mitgliedsstaaten festlegen kann (s. dazu das Interview mit Dieter Grimm in diesem Heft ab S. 5), sieht der Lissaboner Vertrag für einige Verfahren und Kompetenzen bereits vereinfachte Änderungsklauseln vor, die unterhalb der Schwelle einer formalen Vertragsänderung möglich sind. Diese sogenannten „Passerelle-Klauseln“ erlauben beispielsweise, dass für bestimmte Fragen vom Prinzip der Einstimmigkeit abgewichen wird und Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat möglich werden. Zum Ausgleich für die generelle Passerelle-Klausel (in Artikel 48 Absatz 7 EUV) wurde den nationalen Parlamenten ein sechsmonatiges Vetorecht eingeräumt.

Auf den folgenden Seiten dokumentieren wir die generellen und einige spezielle Passerelle-Klauseln des Vertrags von Lissabon, da sie die kurzfristigen und realistischen Handlungsmöglichkeiten für eine Reform der EU jenseits der Vertragsänderung beschreiben.

Rat der Europäischen Union: Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Ratsdok. 6655/08, Brüssel den 15.4.2008, abrufbar unter http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/08/st06/st06655.de08.pdf

[die tabellarischen Übersichten finden sich in der angehängten PDF-Version des Beitrags]

Dateien

nach oben