"Solange das Grundgesetz in Kraft ist, könnte sich Deutschland an einer Verstaatlichung der EU nicht beteiligen."
Dieter Grimm zu Überkonstitutionalisierung, Demokratiedefiziten und Reformperspektiven der EU. Auszug aus: vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 5-20
Unter dem Titel „Europa ja, aber welches“ legte Dieter Grimm 2016 im C.H. Beck-Verlag eine Zusammenstellung von 12 seiner zwischen 2009 und 2015 veröffentlichten Aufsätze zum Thema Europa vor. Als Buch ist dieser Aufsatzsammlung ein außerordentlicher Erfolg beschieden, der mit der derzeit 3. Auflage immer noch anhält. Für juristische Texte ungewöhnlich, gelangte das Buch sogar in die Bestsellerlisten und war für den Titel „Bestes politisches Buch 2016“ nominiert.
Dieter Grimm ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin und unterrichtet regelmäßig an der Yale Law School. Von 1987 bis 1999 war er Richter am Bundesverfassungsgericht und von 2001 bis 2007 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Bereits seit 2000 ist er Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Rosemarie Will befragt im folgenden Interview Grimm zu den Hauptthesen seines Buches. Im ersten Teil geht es darum, inwiefern der EuGH die völkerrechtlichen Verträge zwischen den EU Mitgliedstaaten wie eine Verfassung behandelt bzw. auslegt und sie damit konstitutionalisiert hat. Der zweite Teil geht auf den völkerrechtlichen Status der EU und die Frage ein, auf welchen juristischen Begriff sich die Union bringen lässt. Zum Schluss werden aktuelle Debatten zu Krisenerscheinungen und Reformperspektiven der EU aufgegriffen.
Konstitutionalisierung der Verträge durch den EuGH
Welchen Vorgang erfasst und beschreibt der Begriff der Konstitutionalisierung der EU-Verträge?
Mit diesem Begriff haben amerikanische Europarechts-Wissenschaftler die Wirkungen zweier grundlegender Urteile des Europäischen Gerichtshofs beschrieben. In diesen Urteilen von 1963 und 1964 (1) ging es um das Verhältnis der Europäischen Verträge zum nationalen Recht. In den Verträgen hatten sich die Mitgliedstaaten zur Herstellung des Gemeinsamen Marktes verpflichtet. Diese Verpflichtung schloss die Aufgabe ein, nationales Recht, das den Gemeinsamen Markt behinderte, an europäisches Recht anzupassen. Für den Fall, dass ein Mitgliedstaat seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkam, sahen die Verträge ein Vertragsverletzungsverfahren vor, das die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anstrengen konnte. Individuen werden dagegen durch internationale Verträge regelmäßig weder berechtigt noch verpflichtet. Ausnahmen von der Regel müssen ausdrücklich angeordnet sein. Die Europäischen Verträge hatten das nicht getan.
In dem ersten Urteil wich der EuGH aber von dieser Tradition ab und erklärte die Verträge für direkt in den Mitgliedstaaten anwendbar. Die objektivrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten waren damit in subjektive Rechte der Marktteilnehmer verwandelt worden. Sie konnten die Europarechtswidrigkeit nationalen Rechts vor den nationalen Gerichten geltend machen. Diese mussten im Zweifel die Vereinbarkeitsfrage dem EuGH vorlegen. Kam er zu dem Ergebnis, dass nationales Recht mit europäischem Recht unvereinbar war, setzte er es außer Anwendung, ohne dass die Mitgliedstaaten eine Chance hatten, ihr Recht zu verteidigen.
In dem zweiten Urteil fügte der EuGH hinzu, dass europäisches Recht nicht nur unmittelbar, sondern auch vorrangig gelte. Europarecht gehe allem nationalen Recht vor, selbst dem höchstrangigen, den nationalen Verfassungen. Diese Wirkung kommt in Verfassungsstaaten der Verfassung zu. Deswegen der Ausdruck „Konstitutionalisierung“. Die Verträge wurden dadurch freilich nicht in eine Verfassung verwandelt, das stand nicht in der Macht des EuGH. Das hätten nur die Mitgliedstaaten durch einstimmige Vereinbarung gekonnt. Aber sie wurden mit den Wirkungen einer Verfassung versehen.
[…]
Du machst einen Vorschlag, wie dieser Konstitutionalisierung abgeholfen werden kann. Wie soll das gehen?
Ich will nicht die Konstitutionalisierung rückgängig machen. Die beiden Urteile des EuGH von 1963 und 1964 sind akzeptiert worden, von den Mitgliedstaaten und vor allem von den nationalen Gerichten, die dem EuGH ja die Fälle liefern. Später haben die Mitgliedstaaten sie sogar in einem Protokoll, wenn auch nie in den Verträgen selbst, anerkannt. Problematisch wird die Konstitutionalisierung erst durch einen weiteren Umstand. Die Verträge, die nunmehr konstitutionalisiert sind, enthalten ja nicht nur Regeln, wie sie sich üblicherweise in Verfassungen finden. Verfassungen organisieren politische Einheiten und regeln das Zustandekommen politischer Entscheidungen, überlassen die Entscheidungen selbst aber dem politischen Prozess. Hier schlagen sich die Präferenzen, die in Wahlergebnissen zum Ausdruck kommen, nieder.
Die Europäischen Verträge, die nicht als Verfassungen gedacht waren, folgen dieser für den Konstitutionalismus grundlegenden Unterscheidung von Verfassungsrecht und Gesetzesrecht nicht. Sie sind voll von dem, was in jedem Mitgliedstaat gewöhnliches Gesetzesrecht wäre. Deswegen sind sie so umfangreich. All diese Regelungen partizipieren nun aber an der Konstitutionalisierung. Das Ergebnis ist eine Überkonstitutionalisierung, und diese beschert der EU ein gewichtiges, aber selten bemerktes Demokratieproblem. Was auf Verfassungsebene geregelt ist, ist dem demokratischen Prozess entzogen. Wahlen bleiben hier folgenlos. An der Verfassung endet der Handlungsspielraum der demokratisch legitimierten und verantwortlichen Organe. Hier hat das Gericht das letzte Wort. Die demokratischen Organe sind nicht nur ausgeschlossen, sie können auch nichts ändern, selbst wenn sie die Rechtsprechung des Gerichts für unvereinbar mit ihren Intentionen beim Vertragsschluss oder für schädlich in ihren Wirkungen halten.
Die Überkonstitutionalisierung verschiebt die Gewichte von den demokratisch legitimierten und kontrollierten zu den administrativen und judikativen Institutionen. Politische Entscheidungen von höchstem Gewicht fallen in einem unpolitischen Modus und entziehen sich jeder demokratischen Korrektur. Das einzige Mittel, die Entscheidungen in den demokratischen Prozess zurückzuholen, sind Vertragsänderungen, die aber einstimmig von allen Mitgliedstaaten vereinbart und dann in jedem Staat ratifiziert werden müssen. Für Zwecke wie die Korrektur einer Rechtsprechungslinie sind sie unerreichbar. Der EuGH ist freier als jedes staatliche oder internationale Gericht.
Welche Vorschläge hast Du, um die Überkonstitutionalisierung der EU zu überwinden? Und wo sollen die politischen Kräfte innerhalb der EU herkommen, die das umsetzen können?
Der erste Teil der Frage ist leichter zu beantworten als der zweite. Die Überkonstitutionalisierung samt ihren demokratieschädlichen Folgen wäre überwunden, wenn sämtliche Vertragsbestandteile, die ihrer Natur nach nicht Verfassungsrecht, sondern Gesetzesrecht sind, auf die Stufe europäischen Sekundärrechts abgesenkt würden. Sie blieben also europäisches Recht und der EuGH würde sie weiterhin auslegen, aber er könnte jederzeit durch Gesetzesänderungen umprogrammiert werden, wie das in jedem demokratischen Staat der Fall ist. Die Abstufung der Vorschriften, die ihrer Natur nach einfaches Recht sind, also die große Mehrzahl, bedarf aber einer Vertragsänderung, die wiederum einen einstimmigen Beschluss der Mitgliedstaaten und eine Ratifikation in jedem Land voraussetzt. Das dämpft die Erfolgsaussichten, erst recht, solange das Problem nicht einmal erkannt ist.
Auffällig ist, dass Du das aktuelle Demokratie- und Legitimationsdefizit der EU nicht durch eine Stärkung des Europaparlaments beseitigen willst. Warum würde es in der von Dir beschriebenen strukturellen Krise der EU nicht helfen, das Europaparlament in vergleichbarer Weise auszustatten wie ein nationales Parlament?
Das ist der Vorschlag, der üblicherweise gemacht wird, wenn es um die Behebung der Akzeptanzschwäche der EU geht. Er würde jedoch meines Erachtens nicht zum Erfolg führen, und das aus mehreren Gründen. Der erste liegt nach dem bisher Gesagten auf der Hand. Eine Stärkung des Europäischen Parlaments ginge am Problem der Überkonstitutionalisierung völlig vorbei. Alles was auf der Vertragsebene geregelt ist, bleibt dem Parlament entzogen. Wahlen sind insoweit folgenlos. Wer das Parlament ins Spiel bringen möchte, müsste also erst einmal hier ansetzen.
Es kommen aber auch andere Gründe hinzu, die die Hoffnungen, die mit einer Parlamentarisierung der EU verbunden werden, dämpfen. Der erste ist die geringe Repräsentativität des Europäischen Parlaments. Sie hängt wiederum mit dem Wahlrecht für dieses Parlament zusammen. In jedem Mitgliedstaat wird nach nationalem Wahlrecht gewählt, und wählbar sind nur nationale Parteien, die konsequenterweise mit nationalen Themen Wahlkampf machen. Die nationalen Parteien – übrigens mehr als 200 – spielen im Europäischen Parlament aber keine Rolle. Dort geben die europäischen Fraktionen den Ton an, die jedoch in keiner Gesellschaft verwurzelt sind und mit den Wählern nicht in Kontakt treten. Der Legitimationsstrom von den Wählern zum Parlament ist also in Europa unterbrochen. Die Parteien, die wir wählen können, haben im Parlament nichts zu sagen. Die Fraktionen, die etwas zu sagen haben, können wir nicht wählen. Auf die Europapolitik hat der Wähler folglich keinen nennenswerten Einfluss. Europäische Programme stehen nicht zur Wahl. Sie werden nach der Wahl von den Fraktionen gemacht.
Das ließe sich freilich durch Neuregelung des Wahlrechts ändern. Wäre damit das Demokratiedefizit gedeckt? Doch wohl nur, wenn das Europäische Parlament, das die Unionsbürger vertritt, auch in einen europaweiten politischen Diskurs eingebettet wäre, in dem die Unionsbürger ihre Meinungen bilden und ihre Interessen vertreten können. Dafür sind vermittelnde Institutionen zwischen Wählern und Organen nötig, außer Parteien also Gewerkschaften, Interessengruppen, Bürgerinitiativen und -bewegungen, ganz besonders aber europäische Medien, ohne die ein europaweiter Diskurs nicht in Gang kommen und aufrechterhalten werden kann. Das alles ist auf europäischer Ebene aber schwach ausgebildet oder fehlt völlig. Es gibt bisher 28 nationale Diskurse über Europa, aber nur einen schwächlichen europäischen Diskurs. Ohne ihn ist das Europäische Parlament seiner gesellschaftlichen Basis aber ferner als jedes nationale Parlament.
Schließlich kann man das Europäische Parlament nicht aufwerten, ohne andere Organe abzuwerten. Abgewertet würde der Rat, also das einzige europäische Organ, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind. Er soll zum Juniorpartner des Europäischen Parlaments werden. Aus den Mitgliedstaaten kommt über den Rat bisher aber die stärkste Legitimationszufuhr für die EU. Die Legitimationszufuhr über die Europa-Wahl ist demgegenüber schwach. Mit der Aufwertung des Europäischen Parlaments würde die Legitimation der EU aber von der nationalen auf eine europäische Legitimationsquelle umgestellt. Und die Frage ist: Wo sollen die Ressourcen für eine europäische Eigenlegitimation herkommen? Ich fürchte, die EU stünde nach einer Parlamentarisierung demokratisch nicht besser, sondern schlechter da als jetzt.
Was ist die EU derzeit?
[…]
Wenn man den für die EU geltenden Vertrag von Lissabon nimmt: Wie muss man die dort aufgestellten Regeln verstehen?
Der Lissabon-Vertrag bildet wie alle seine Vorgänger die Rechtsgrundlage der EU. Seiner Rechtsnatur nach ist er ein internationaler Vertrag. Er ist es aufgrund seiner Entstehungsweise, und er bleibt es, weil nur die Mitgliedstaaten ihn ändern können, und zwar einstimmig. Er ist also, obwohl manchmal so genannt, keine Verfassung, denn Verfassungen sind Akte der Selbstbestimmung einer Gesellschaft über ihre Herrschaftsform. Die EU gibt sich dagegen ihre Rechtsgrundlage nicht selbst, sie wird ihr von den Mitgliedstaaten gegeben.
Wenn man sich den vom EuGH vorangetriebenen Konstitutionalisierungsprozess anschaut: Kann man die Behauptung aufrechterhalten, dass das Vertragsänderungsrecht allein bei den Mitgliedsstaaten liege und die EU über keine Kompetenz-Kompetenz verfüge? De facto kommen doch die Mitgliedsstaaten – wie Du es beschreibst – nicht wirklich an substanzielle Änderungen der Verträge heran, auch nicht an die Kompetenzerweiterungen, die sich aus der Interpretation durch den EuGH ergeben?
Ja, aber zwischen der Übertragung einer Kompetenz und der Interpretation einer übertragenen Kompetenz besteht nach wie vor ein erheblicher Unterschied. Die Vertragsform, im Unterschied zur Verfassungsform, verhindert, dass die EU sich Kompetenzen von den Mitgliedstaaten nehmen kann. Sie lässt es aber zu, dass die übertragenen Kompetenzen ausgelegt werden, und zwar unter Umständen sehr weit. (3) Wenn die Auslegung den Mitgliedstaaten zu weit geht, haben sie die Korrektur in der Hand: Vertragsänderungen. Dass diese wegen des Einstimmigkeitserfordernisses schwer sind, steht auf einem anderen Blatt. Das Grundverhältnis zwischen Mitgliedstaaten und EU ändert sich dadurch nicht.
Zum Lissabon-Vertrag gibt es das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem das Gericht dezidiert die Grenzen der Integration gezogen hat. Was darf die EU eigentlich nach dieser Entscheidung sein?
Das Bundesverfassungsgericht lässt keinen Zweifel daran, dass die deutschen Staatsorgane unter dem geltenden Grundgesetz nicht der Umwandlung der EU in einen europäischen Staat zustimmen dürfen. Die Befugnis, die eigene Staatlichkeit aufzugeben, hat das Grundgesetz den Staatsorganen nicht erteilt. Auch durch eine Verfassungsänderung ließe sich die Hürde nicht beseitigen, denn Grundgesetzänderungen werden von den Staatsorganen beschlossen. Die Erlaubnis zur Einverleibung des deutschen Staates in die EU kann laut Bundesverfassungsgericht aber nur vom Volk kommen. Ich halte das für völlig zutreffend. Die Aufgabe der deutschen Staatlichkeit ist eine Entscheidung von solcher Größenordnung, dass sie nicht einer Mehrheit im Bundestag und Bundesrat überlassen werden kann. Das bedeutet, dass die Bundesrepublik zwar Hoheitsrechte an die EU übertragen darf, das sieht Art. 23 GG vor, aber nicht die Souveränität. Ebenso wenig darf die Kompetenz-Kompetenz, also die Befugnis, über die Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten zu bestimmen, an die EU übertragen werden.
Davon zu unterscheiden ist die Frage, wann europäische Rechtsakte in Deutschland keine Geltung beanspruchen können. Das ist – weiter nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – zum einen dann der Fall, wenn diese Rechtsakte sich nicht auf eine Kompetenz stützen können, welche die Mitgliedstaaten der EU übertragen haben. Das ist völlig unbestritten. Umstritten ist lediglich, wo im Streitfall das letzte Wort darüber liegt, ob eine Kompetenz übertragen worden ist und wie weit sie reicht. Der EuGH nimmt dieses Recht für sich in Anspruch, das Bundesverfassungsgericht hält sich für zuständig, soweit Deutschland betroffen ist. Zum anderen schließt das Bundesverfassungsgericht die Anwendung europäischer Rechtsakte in Deutschland aus, die mit der Identität des Grundgesetzes unvereinbar sind.
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Heißt das, es wurde eine Grenze errichtet – aber wenn diese erreicht wird, wird es den Protest vermutlich nicht geben?
Ich kann das nicht vorhersehen. Aber im Rückblick lässt sich sagen, dass man dem Bundesverfassungsgericht schwerlich einen Vorwurf hätte machen können, wenn es bei der Vorratsdatenspeicherung und dem Honeywell-Fall die europäischen Rechtsakte für vertragswidrig erklärt hätte. Auch im OMT-Fall (7), der die Befugnis der Europäischen Zentralbank betraf und in dem das Bundesverfassungsgericht den EuGH erstmals die Frage der Vertragsmäßigkeit einer europäischen Maßnahme vorgelegt hat, war die Antwort aus Luxemburg nicht befriedigend. Das Bundesverfassungsgericht hätte Gründe gehabt, auf seinen Bedenken im Vorlagebeschluss zu beharren. Großer Schaden wäre dadurch nicht angerichtet worden; OMT war nie zur Anwendung gekommen.
Noch einmal zurück zur Frage nach der EU: Wann entsteht bei Kompetenzübertragungen eine eigene Souveränität? Kann man das quantifizieren oder inhaltlich benennen? Ich habe Dich so verstanden, dass Du zwischen der Übertragung von Hoheitsrechten und dem Souveränitätsstatus unterscheidest. Beides hängt nach meinem Verständnis aber zusammen, und irgendwann schlägt das eine in das andere um.
Souveränität ist mehr als nur ein Bündel von Hoheitsrechten. Deswegen muss man zwischen beidem unterscheiden. Das Grundgesetz sieht nur die Übertragung von Hoheitsrechten vor. Es kann aber sein, dass ein Mitgliedstaat derart viele oder derart gewichtige Hoheitsrechte überträgt, dass der verbleibende Rest nicht mehr den Namen „Souveränität“ verdient. Dann hätte dieser Mitgliedstaat seine Souveränität preisgegeben, aber das würde nicht bedeuten, dass die EU sie gewonnen hätte. Denn sie wäre ja durch den Kompetenzgewinn noch immer nicht im Besitz der Kompetenz-Kompetenz und der Selbstbestimmung über ihre Existenz und Rechtsgrundlage. Das ist aber für die Souveränität ausschlaggebend.
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Finanz- und Flüchtlingskrise – sowie die Diskussion um eine Reform der EU
Jetzt mal zu den Vorschlägen des französischen Präsidenten Emmanuel Macrons für eine Stärkung der EU (8), wozu Du ja schon Stellung genommen hast in einem FAZ-Artikel. (9) Ist das, was er vorschlägt, nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes möglich?
Macron hat in seiner Sorbonne-Rede nicht näher erläutert, was er sich unter einem souveränen Europa vorstellt. Wenn man ihn beim Wort nimmt, also das gebräuchliche Verständnis von Souveränität zu Grunde legt, dann hieße das: Selbstbestimmung für die Europäische Union und damit zugleich das Ende der Selbstbestimmung der Mitgliedstaaten. Mit den Grenzen der Integration, die das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil aus dem Grundgesetz abgeleitet hat, wäre das unvereinbar. Solange das Grundgesetz in Kraft ist, könnte sich Deutschland an einer Souveränitätsübertragung und der damit einhergehenden Verstaatlichung der EU nicht beteiligen, und folglich wäre sie ausgeschlossen. Sollte „souverän“ dagegen nur bedeuten, dass weitere Politikfelder vergemeinschaftet würden, zum Beispiel die Verteidigung, oder dass Europa selbstbewusster gegenüber den USA auftritt, wäre das nur eine bildhafte, keine begriffsscharfe Redeweise über Souveränität.
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Wie beurteilst Du die Legitimierung der EZB? Muss man die nicht auch in verfassungsrechtlicher Sicht hinterfragen?
Es ist interessant zu sehen, dass die Autonomie der Bundesbank nicht im Grundgesetz garantiert war. Sie war das Ergebnis einer Praxis: Die Bundesbank wusste immer, dass sie von der Politik korrigiert werden konnte, und die Politik wusste immer, dass die Autonomie der Bundesbank ein wichtiger Legitimationsfaktor für die Bundesrepublik war. Aus Angst davor, dass dies in der EU anders sein könnte, drängte die Bundesrepublik auf die Festschreibung der EZB-Kompetenzen in den Verträgen. In der Finanzkrise zeigte sich nun die Kehrseite. Sie rief das Bundesverfassungsgericht auf den Plan, das ja im Lissabon-Urteil die Direktive ausgegeben hatte, der EU dürfe keine Blanko-Vollmacht erteilt werden. Das von EZB-Präsident Draghi verkündete OMT-Programm erweckte aber den Eindruck, dass es für das Krisenmanagement der EZB keine Grenzen gebe. Der EuGH, den das Bundesverfassungsgericht deswegen anrief, hat die Bedenken aus Karlsruhe zerstreut, meine nicht unbedingt.
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Noch einmal zur Flüchtlingskrise: Im gemeinsamen Umgang der Mitgliedstaaten mit den Flüchtlingen ist man ja schnell bei den Grundelementen von Souveränität, der Personal- und Gebietshoheit. Wir brauchen die Absicherung der Außengrenzen, des gemeinsamen Territoriums nach außen; wir brauchen einheitliche Maßstäbe, was den Zugang zum EU-Territorium angeht; und wir brauchen eine gemeinsame Verteilung der Flüchtlinge. Was ist, wenn wir tatsächlich eine einheitliche Flüchtlingspolitik haben, die ja schnell in eine einheitliche Ein- und Zuwanderungspolitik umschlagen kann? Wäre das qualitativ etwas, was Souveränität generiert?
Die Mitgliedstaaten der EU haben die umfassende Personal- und Gebietshoheit bereits bei der Gründung der EWG 1957 aufgegeben. Zu den vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten der Europäischen Verträge gehören auch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit für Unternehmer aus den Mitgliedstaaten. Daraus hat niemand den Schluss gezogen, dass die Souveränität auf die EU übergegangen sei. Personal- und Gebietshoheit bestehen weiter bezüglich Personen aus Nicht-EU-Staaten. Käme es zu einer Vereinheitlichung der Flüchtlingspolitik in der EU, würden die Bedingungen für den Aufenthalt von Personen aus Nicht-EU-Ländern von der EU festgesetzt. Der Kreis der Personen, über deren Aufenthalt auf dem Staatsgebiet nicht mehr die Staaten selbst entscheiden könnten, würde sich also erweitern. Einen Umschlag von Quantität in Qualität kann ich darin nicht erkennen.
[…]
Die Frage der Personalhoheit ist eine Seite der staatlichen Souveränität, die angesichts der Globalisierung immer wichtiger wird; die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU eine andere. Wenn man das formal-juristisch betrachtet, tangiert das nicht den Kernbereich staatlicher Souveränität?
Ich muss noch einmal daran erinnern, dass dies schon seit 1957 aufgrund der vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten so ist, ohne dass darin irgendjemand einen Souveränitätsverlust gesehen hätte. Der Unterschied liegt darin, dass wir gegen Holländer und Österreicher, die zu uns kamen, nichts einzuwenden hatten – kulturell nicht und wirtschaftlich nicht. Bei Unionsbürgern aus den früher sozialistischen Staaten war das schon anders. Wegen der wirtschaftlichen Grundfreiheiten mussten sie aber nach einer Übergangszeit akzeptiert werden. Durch den plötzlichen Andrang zahlreicher mittelloser Migranten aus anderen Kulturen hat sich die tatsächliche Lage erheblich geändert, aber nicht das grundsätzliche Souveränitätsproblem.
Aber auf welcher Grundlage kann man denn jetzt eine Einigung in der Flüchtlingsfrage herstellen, wenn die EU kein Staat ist, sie keine einzelnen Mitglieder zwingen kann?
Wie bei vielen anderen Fragen, die bisher in den Verträgen keine Regelung gefunden haben, geht es nur über intergouvernementale Absprachen oder Vertragsänderungen. Dass das schwer ist, lässt sich nicht bestreiten. Man erfährt es täglich in den Nachrichten. Aber ist das ein Grund, die EU in einen Staat zu verwandeln?
Wenn die EU den Einlass und die Verteilung der Flüchtlinge tatsächlich regelt, und auch die Sicherung der Außengrenzen internationalisiert – dann hat sie doch eigentlich eine klassische staatliche Souveränität? Sie verteidigt ein Territorium und sie entscheidet bei den ankommenden Personen, wer rein darf und wer nicht. Das kommt dem klassischen juristischen Souveränitätsverständnis nahe. Wäre es dann nicht sinnvoll, an dieser Stelle eine staatliche Souveränität der EU zu generieren?
Nochmals: Die EU wird nicht dadurch souverän, dass sich die Zahl der übertragenen Hoheitsrechte vergrößert. Sie würde souverän, wenn die Mitgliedstaaten ihr Selbstbestimmungsrecht abgäben und es der EU übertrügen. Das steht ihnen frei, sofern ihre Verfassung sie nicht daran hindert, aber dann ist es mit ihrer eigenständigen Staatlichkeit vorbei, und die EU würde zum Staat, ob man sich dessen bewusst war oder nicht. Die bisherigen Verhältnisse würden sich dann umkehren. Nicht mehr die Mitgliedstaaten bestimmten über Existenz, Zweck und Formen der EU, die EU täte das selbst. Sie bekäme Ihre Befugnisse nicht mehr von den Mitgliedstaaten, sie nähme sie sich von ihnen. Sie würde sich über Unions-Steuern finanzieren, nicht mehr über mitgliedstaatliche Beiträge.
Die Frage spitzt sich also darauf zu, ob ein europäischer Staat wünschenswert ist. Für mich ist diese Frage in allererster Linie eine Demokratiefrage. Wäre ein solcher Staat demokratiefähig – Demokratie nicht in einem formalen Sinn verstanden derart, dass regelmäßig Wahlen genügen, sondern in einem substantiellen Sinn, dass es eine Gesellschaft gibt, die sich diskursiv über ihren Zustand, ihre Ambitionen und ihre Probleme verständigen kann, so dass sich die Demokratie nicht in Wahlen erschöpft, sondern in Wahlen gipfelt? Und in dieser Hinsicht gibt es wohl wenig Zweifel, dass die Voraussetzungen für eine lebendige Demokratie in der EU erheblich schlechter sind als selbst in einem nur leidlich demokratisch funktionierenden Mitgliedstaat.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Rosemarie Will.
[Das vollständige Interview können Sie in Ausgabe 220 der Zeitschrift vorgänge lesen. Diese kann als gedruckte oder elektronische Variante über den Online-Shop der Humanistischen Union bestellt werden.]
Anmerkungen:
1 Die direkte Anwendbarkeit (Einklagbarkeit) des europäischen Primärrechts nicht nur für Mitgliedstaaten, sondern auch für Personen begründet der EuGH in seinem Urteil 26/62 v. 05.02.1963 (Van Gend & Loos). Den prinzipiellen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen (Verfassungs-)Recht begründet der EuGH in seiner Entscheidung 6/64 v. 15.07.1964 (Costa/ENEL).
2 Fritz W. Scharpf (1996): Negative and Positive Integration in the Political Economy of European Welfare States, in: Gary Marks, Fritz W. Scharpf, Philippe C. Schmitter & Wolfgang Streeck (Eds.), Governance in the European Union, London: Sage, pp. 15-39; id. (1998): Negative and Positive Integration in the Political Economy of European Welfare States, in: Martin Rhodes & Yves Mény (Ed.), The Future of European Welfare. A New Social Contract?, London: Palgrave Macmillan, pp. 157-177.
3 S. dazu auch die Dokumentation über die sog. Passerelles-Klauseln in den Europäischen Verträgen in diesem Heft.
4 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 02. März 2010 – 1 BvR 256/08 (= BVerfGE 125, 260 – 385), abrufbar unter http://www.bverfg.de/e/rs20100302_1bvr025608.html.
5 Insbesondere im 4. Aufsatz: Zum Stand der demokratischen Legitimation der Europäischen Union nach Lissabon.
6 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 06. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 (= BVerfGE 126, 286-331),
http://www.bverfg.de/e/rs20100706_2bvr266106.html.
7 BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 21. Juni 2016 – 2 BvR 2728/13 (= BVerfGE 142, 123 – 234), http://www.bverfg.de/e/rs20160621_2bvr272813.html. Die Klage richtete sich gegen den Beschluss zu Outright Monetary Transactions (OMT), d.h. den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische
Zentralbank sowie die nicht erfolgte Intervention der Bundesregierung dagegen.
8 Rede des Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Athen v. 7. September 2017, abrufbar unter https://de.ambafrance.org/Staatsprasident-Macron-in-Athen-Vorschlage-fur-eine-Neugrundung-Europas.
9 Dieter Grimm: Ein souveränes Europa?, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.11.2017.