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Israel­kritik und Antise­mi­tis­mus­vor­wurf - Veran­stal­tungs­ver­bote als Problem der Meinungs­frei­heit

vorgänge Nr. 220 (Heft 4/2017), S. 117 – 126

2016 wehrte sich die „Jüdische Stimme“, ein in Berlin ansässiger Verein jüdischer Mitbürger/innen, gegen die Kündigung seines Vereinskontos durch die Bank für Sozialwirtschaft. Die Kündigung ging auf einen Hinweis zurück, dass der Verein die gegen Israel gerichtete BDS-Boykottkampagne unterstütze. Seitdem mehren sich die Fälle, in denen mutmaßlichen BDS-Unterstützer/innen kurzfristig Veranstaltungsräume gekündigt werden.

Andererseits weisen Organisationen wie die Amadeu-Antonio-Stiftung auf eine Zunahme antisemitischer Ressentiments in der Bevölkerung hin, wobei der Antisemitismus häufig als Kritik an Israel maskiert sei. Zudem steige die Zahl antisemitischer Übergriffe. Dem begegnete die Bundesregierung kürzlich mit einem Kabinettsbeschluss zu einem erweiterten Antisemitismus-Begriff, der demnächst vermutlich bei der Vergabe von Fördermitteln u.ä.m. wirksam wird. Zugleich wurde nach den Protesten gegen die umstrittene Jerusalem-Entscheidung der Vereinigten Staaten hierzulande eine Verschärfung des Strafrechts gegen das Flaggen-Verbrennen gefördert.

Der folgende Beitrag von Johannes Feest greift diese Diskussionen auf: Wie viel Kritik an der israelischen Politik muss und soll erlaubt sein? Welchen Begriff von Antisemitismus sollten staatliche Stellen sinnvoller Weise anwenden? Und was muss der Staat dulden bzw. in welchem Rahmen darf er in die politische Auseinandersetzung eingreifen?

Die Meinungsfreiheit gilt in Deutschland als ein für die demokratische Gesellschaft zentrales Grundrecht. Dem entspricht ein normativ besonders starker Schutz in Art. 5 Grundgesetz (GG). Der Nahostkonflikt und die seit 50 Jahren andauernde Okkupation des Westjordanlandes beginnen jedoch diese Meinungsfreiheit ernsthaft zu gefährden. Kritiker der Politik der israelischen Regierung sehen sich mit Veranstaltungsverboten, dem Entzug von Lehraufträgen, Publikationsbehinderungen u.ä. konfrontiert. (1) Zur Begründung der Behinderungen wird dabei vielfach ein Antisemitismusbegriff ins Feld geführt, der auch Kritik am Zionismus oder an der Politik der israelischen Regierung als antisemitisch klassifiziert. Als Hauptbeispiel für diesen „neuen Antisemitismus“ gilt die transnationale BDS-Kampagne, welche versucht, Israel durch „Boycott, Divestment and Sanctions“(2) zur Beendigung der Okkupation palästinensischer Gebiete zu veranlassen.
Zur Kritik an der israelischen Besatzungspolitik im Westjordanland und in Gaza gibt es in Deutschland zwei sich grundsätzlich widersprechende Positionen:

1. Deutschland habe, aufgrund des Holocaust, eine spezielle Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel; es stehe daher Deutschen nicht zu, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren.
2. Deutschland habe, aufgrund des Holocaust, eine Verantwortung nicht nur für Israel, sondern auch für die durch die Staatsgründung verdrängten Palästinenser.

Beide Meinungen stehen gleichermaßen unter dem Schutz von Art. 5 GG. Der deutsche Staat darf daher keine dieser Meinungen unterdrücken, auch nicht durch Intervention bei formal privaten Veranstaltern. Inwieweit er zur Förderung einer oder beider Meinungen unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt verpflichtet ist, bleibt umstritten. Zweifellos sollte der Staat keine antisemitischen Veranstaltungen unterstützen. Das verbietet sich schon unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde. Es setzt aber eine klare, juristisch haltbare Definition von Antisemitismus voraus. Die kürzlich von der Bundesregierung verabschiedete „Arbeitsdefinition“ bietet dafür keine ausreichende Grundlage.

Auswei­tungen des „Anti­se­mi­tismus“-Begriffs

Die Judenfeindschaft hat eine sehr lange Geschichte. Den Begriff „Antisemitismus“ bzw. „Antisemit“ gibt es aber erst seit vergleichsweise kurzer Zeit. Er war zunächst eine Selbstbezeichnung von Personen, die sich 1879 in der „Antisemiten-Liga“ zusammenschlossen, mit dem Ziel „unser deutsches Vaterland vor der vollständigen Verjudung zu retten und den Nachkommen der Urbewohner den Aufenthalt in demselben erträglich zu machen“. Von den Gegnern solcher Forderungen wurden die Begriffe übernommen und „Antisemitismus“ entwickelte sich im 20. Jahrhundert zum Kampfbegriff für die Ächtung jeglicher Art von Judenfeindschaft. Mindestens in Deutschland ist es heute beleidigend und rufschädigend, als „Antisemit“ bezeichnet zu werden. (3)
Die klassischen Definitionen lassen sich dahin zusammenfassen, dass es beim „Antisemitismus“ um die pauschale Ablehnung, Diskriminierung und/oder Verfolgung von Juden als Juden geht. In einem Essay hat der britische Philosoph Brian Klug dies näher erläutert. Es gehe um „Feindlichkeit gegen Juden als ‘Juden’. Anführungszeichen um das Wort ‘Juden’ einzufügen mag wie ein Detail erscheinen, aber es verwandelt den Sinn der Definition. Genau erklärt sagt es folgendes: Antisemitismus ist eine Form von Feindlichkeit gegen Juden als Juden, in der Juden wahrgenommen werden als etwas anderes als sie sind.“(4) Das heißt: es werden Menschen aufgrund ihrer Abstammung, Religion, ihres Aussehens, ihres Namens „jüdische“ Eigenschaften zugeschrieben, welche dann als Begründung für ihre Ablehnung, Diskriminierung Verfolgung und Vernichtung dienen.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es eine lebhafte Diskussion über „Neuen Antisemitismus“ (5). Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob die Feindlichkeit gegenüber Juden in unserer Zeit neue Formen gefunden hat. In Deutschland hat es vor allem Samuel Salzborn unternommen, eine erweiterte Antisemitismus-Definition zu propagieren und theoretisch zu untermauern. Er unterscheidet zwischen anti-zionistischem, anti-israelischem und „internationalem Antisemitismus: die BDS-Kampagne“(6), und bezieht sich dabei vor allem auf eine „Arbeitsdefinition der EU“.
Diese Working Definition wurde von der American Jewish Alliance initiiert und im Rahmen der europäischen Grundrechteagentur (FRA) sowie deren Vorläuferin (der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – EUMC) entwickelt (7), allerdings von der EU niemals offiziell übernommen. Die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) hat diese Arbeiten fortgeführt und am 26.5.2016 die endgültige Fassung der Working Definition verabschiedet. (8) Am 31.5.2017 hat das Europaparlament mehrheitlich den europäischen Staaten empfohlen, die Definition der IHRA zu übernehmen. Sie wurde inzwischen von mehreren Staaten (darunter Österreich) adoptiert, am 20.9.2017 hat auch das deutsche Bundeskabinett beschlossen, sich die IHRA-Definition zu eigen zu machen. Sie lautet wie folgt:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Im Anschluss an diese klassische Definition heißt es: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ Damit wird die Möglichkeit eines israelbezogenen Antisemitismus ausdrücklich hervorgehoben. Operationalisiert wird diese Erweiterung durch eine Reihe von „heutigen Beispielen von Antisemitismus im öffentlichen Leben, den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und im religiösen Bereich“. Die folgenden konkreten Beispiele betreffen Israel:

Behauptung, jüdische Bürger verhielten sich loyaler gegenüber Israel als gegenüber ihrem eigenen Staat
Verneinung eines Selbstbestimmungsrechts des jüdischen Volkes, z.B. durch die Behauptung, der Staat Israel sei ein rassistisches Unterfangen
Anwendung von Doppelstandards, indem von Israel ein Verhalten gefordert wird, welches von anderen demokratischen Staaten nicht erwartet wird
Übertragung klassisch antisemitischer Symbole und Bilder auf Israel und Israelis (z.B. Juden als Mörder von Jesus Christus oder das fordern von „Blutzoll“)
Vergleiche zwischen der Politik Israels und der der Nazis.

Eine eigene, komplexere Definition hat Sergey Lagodinsky in seiner einschlägigen Doktorarbeit vorgelegt. (9) Umso mehr erstaunt es, dass er die Arbeitsdefinition der EUMC/ FRA (die der IHRA war noch nicht verabschiedet) zwar beschreibt, sich aber jeder Kritik daran enthält (10) und sogar betont, das Dokument sei „eine wichtige Stütze für die Praxis der Beobachtung von Antisemitismus, der Erfassung entsprechender Taten und der Strafverfolgung“ (11).

Ausgewählte Beispiele für Einschrän­kungen der Meinungs­frei­heit

* 07.04.2016: Vortrag des Lehrers Christoph Glanz über „BDS- die palästinensische Menschenrechtskampagne gegen Apartheid, Besatzung und Rassismus“ in der Evangelischen Studentengemeinde Oldenburg. Wegen Protesten muss der Vortrag abgesetzt werden. Ein gegen den Lehrer angestrengtes Disziplinarverfahren wird erst Anfang 2017 eingestellt.
* 23.09.2016: Auf Einladung des Vereins Salaam/Shalom soll ein Vortrag Abi Melzers zum Thema „Antisemitismus – heute“ im Münchner „Eine-Welt-Haus“ stattfinden. Die Münchner Stadtverwaltung interveniert gegen die Raumvergabe, das „Eine-Welt-Haus“ zieht daraufhin die gemachte Raumzusage zurück. Es sei zu befürchten, „dass die Grenze von Israel-Kritik zu Antisemitismus überschritten werde“ (für Details vgl. LG München, 30.11.2016 – Az.25 O 177754/16).
* November 2016: Verschiebung und Verlegung der Ausstellung „NAKBA – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“. Die von zwei Hochschullehrern in Räumen der Universität Göttingen geplante Wanderausstellung muss kurzfristig in private Räume verlegt werden. Das American Jewish Committee und der Fachschaftsrat Sozialwissenschaften der Uni Göttingen hatten eine Absage gefordert, die Rektorin eine Verschiebung bis zu einer externen Begutachtung verlangt.
* Januar 2017: Suspendierung von Eleonora Roldan Mendevil, Lehrbeauftragte an der Freien Universität Berlin (Lehrveranstaltung „Rassismus im Kapitalismus“). Sie hatte in einem Blog Israel als „Kolonialstaat“ bezeichnet. Eine Untersuchung „der Vorwürfe einer israelfeindlichen oder gar antisemitischen Publikationspraxis“ wurde eingeleitet. Nach einem Gutachten von Wolfgang Benz mussten die Vorwürfe im Juli 2017 zurückgenommen werden.
* Mai 2017: Die Evangelische Akademie Tutzing sagt im April 2017 eine lang geplante Tagung zum Nahost-Konflikt mit Referenten aus Israel und Palästina kurzfristig ab. An der Tagung sollten auch israelisch-palästinensische Friedensgruppen teilnehmen. Nachdem es Diskussionen um die Tagung gegeben hatte, habe man sich zur Absage entschieden, so der Akademiedirektor. (vgl. www.sueddeutsche.de/muenchen/evangelische-akademie-tutzing-ausgewogen-oder-antisemitisch-tagung-zum-nahost-konflikt-abgesagt-1.3471508)
* Mai 2017: Die zum Kirchentag geplante Veranstaltung „50 Jahre israelische Besatzung – Wir dürfen nicht schweigen“ kann nicht wie vorgesehen im Berliner Tagungszentrum der Katholischen Akademie e.V. stattfinden. Der vom Kairos-Palästina-Solidaritätsnetz organisierte „Thementag“ wird verlegt, die Kündigung des Mietvertrages vom LG Berlin (10.5.2017 – 29 O 218/17) bestätigt. Der Titel sei „geeignet, in der Öffentlichkeit eine antiisraelische Ausrichtung der Veranstaltung zur Wahrnehmung zu bringen, da er als Aufruf gegen die israelische Besatzung aufgefasst werden kann“.
* 09./10.06.2017: Tagung des Koordinationskreises Palästina Israel (KoPI) in Frankfurt/M. zum Thema „50 Jahre israelische Besatzung“. Unter dem Druck öffentlicher Proteste und einer persönlichen Aufforderung durch den zuständigen Bürgermeister kündigt der private Vermieter den Mietvertrag mit den Veranstaltern, weil er um weitere Aufträge der Stadt Frankfurt fürchtete. Das AG Frankfurt erklärt am 4.5.2017 diese Kündigung jedoch für rechtswidrig und verpflichtet den Vermieter, den Veranstaltern die Räume zu überlassen (Az. 33 C 1169/17 (67)).
* 03.10.2017: Vortrag von Judith Bernstein über „Jerusalem- Herzstück des israelisch-palästinensischen Konflikts“. Die Tagungsstätte „Gasteig“ München kündigt den Mietvertrag, da einige Mitveranstalter der BDS-Kampagne nahe stünden. Das LG München hebt die Kündigung per einstweiliger Verfügung auf (30.9.2017).
* 13.10.2017: Anlässlich der Frankfurter Buchmesse soll das Buch „Die Antisemitenmacher“ von Abraham Melzer vorgestellt werden. Die Saalbau Betriebsgesellschaft (Tochter der AGB Holding, im Besitz der Stadt Frankfurt) kündigt den Mietvertrag. Das LG Frankfurt hebt am 9.10.2017 die Kündigung auf (33 C 30061/17 (67)).
* November 2017: Mehrere ARD-Anstalten (BR, WDR, SWR, RBB) teilen mit, dass sie die „Medienpartnerschaft“ mit Roger Waters mit sofortiger Wirkung beenden und zum Teil von schon geschlossenen Verträgen zurücktreten. Zur Begründung wird angeführt, Waters befürworte die BDS-Strategie.
* 14.12.2017: Im Berliner Kino Babylon soll der frühere RBB-Moderator und freie Journalist Ken Jebsen einen Medienpreis der Neuen Rheinischen Zeitung (NrhZ) erhalten. Nach einer öffentlichen Intervention des Kultursenators Klaus Lederer sagt das Kino die Veranstaltung ab. Jebsen werden „Israelhass“, „Antisemitismus“, „Verschwörungsideologie“ und „Querfront“ vorgeworfen. Das Kino erhält jährliche Subventionen von knapp 400.000 Euro vom Land Berlin. In einer Eil-Entscheidung erklärt das Amtsgericht Berlin-Mitte am 7.12.2017 die Kündigung des Mietvertrags für unbegründet und rechtswidrig. (Vgl. www.taz.de/ !5468941/ und www.wolfgang-gehrcke.de/de/ article/1940.unterst%C3%BCtzung-kommentare-kritik.html)
* Januar 2018: Die Humanistische Union Südbayern plant die Verleihung ihres Preises „Aufrechter Gang“ an Judith und Reiner Bernstein, insbesondere für deren Engagement bei der Aktion „Stolpersteine für München“ und ihr Eintreten für eine friedliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts. Das von der HU angefragte „Gasteig“ weigert sich erneut, diesmal unter Berufung auf den geplanten (und inzwischen ergangenen) Beschluss des Stadtrates, einen Raum für die Veranstaltung bereitzustellen.

Kritik an der Arbeitsdefinition

Die IHRA-Definition hat in Großbritannien und Deutschland detaillierte Kritik gefunden:

Am Eingehendsten ist das Gutachten (12), welches Hugh Tomlinson, ein prominenter britischer Jurist (Q.C.), für eine Reihe von NGOs verfasst hat. Er unterscheidet dabei zwischen der eigentlichen Definition und den anschließenden beispielhaften Illustrationen. Die aus zwei Sätzen bestehende Definition hält er für unbestimmt („vague and unclear“), weil sie auf eine bestimmte Perzeption von Juden abstellt, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken „kann“. Das sei einerseits zu weit, weil es offen bleibe, worin sich diese Perzeption oder Haltung noch ausdrücken könne. Andererseits sei die Definition zu eng, weil sie nicht ausdrücklich das Verhalten einbeziehe, „welches, auch wenn es sich nicht als Hass gegen Juden äußert, eine klare Kundgabe von Antisemitismus darstellt“. Was die angeführten Beispiele betrifft, so könnten die meisten der genannten Aktivitäten „nicht als solche antisemitisch genannt werden“. Als echte Beispiele (im Sinne der Definition) lässt er nur gelten, den „Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie“ bzw. den „Vorwurf gegenüber den Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen“. Im Übrigen betont er, dass die Arbeitsdefinition selbst keine rechtliche Bindungswirkung beanspruche. Jede Berufung von Regierungen auf die Arbeitsdefinition müsse sich ohnehin an den rechtlichen Grenzen der Meinungsfreiheit (etwa in Art. 10 EMRK) messen lassen. Auf Grundlage dieses Gutachtens hat eine Reihe kritisch-jüdischer Organisationen kurz vor dem Beschluss des Europaparlaments (am 24.5.2017) gegen eine Befürwortung der IHRA-Definition protestiert, wenn auch ohne Erfolg.
Ahnlich, aber weniger ausführlich äußert sich Stephen Sedley (13), ein britischer Richter und Professor (bis 2011 Richter am Court of Appeals England & Wales; jetzt Prof. in Oxford). Die IHRA-Definition sei „unbestimmt“ und außerdem rechtlich nicht bindend („policy is not law“). Das Verbot von Veranstaltungen, wegen antizipierter Kritik von Israels Politik und Praxis der Land-Annexion, „kann nicht auf eine bloße policy gestützt werden, schon gar nicht auf eine so amöbenhafte und formlose wie die IHRA-Definition“.
Der Hamburger Politikwissenschaftler und Völkerrechtler Norman Paech (14) geht in einer kurzen Anmerkung auf den Beschluss der Bundesregierung ein. Diese habe dem Druck nachgegeben, „den Freunden der israelischen Regierung beizustehen, um die Kritik an der israelischen Politik noch wirksamer bekämpfen zu können“. Paech äußert erhebliche Zweifel, „ob diese Begriffserklärung jetzt helfen wird“, abgesehen davon, dass sie rechtlich nicht bindend sei. Über diese „politisch multiplexe Formel“ werde „auch der Zentralrat und all die verbissenen Parteigänger der israelischen Besatzungspolitik enttäuscht sein … wenn sie sie einmal genauer gelesen haben“. Eine wissenschaftliche Definition würde dem „politischen Ziel, die Kritik an der israelischen Politik zu unterbinden, nicht dienen“. Leider verzichtet Paech auf Hinweise, wie eine nützlichere Definition aussehen könnte.
Im Zusammenhang mit Reaktionen auf ihre empirische Untersuchung „Antisemitismus als Problem und Symbol“ (2015) gehen Peter Ullrich und Michael Kohlstruck (15) auf Antisemitismus-Definitionen, insbesondere auf die der EUMC/ FRA ein. Die Letztere sei keine „klare Definition, sondern ein eher zur Sensibilisierung geeigneter Beschreibungsversuch möglicher (aber jeweils nicht zwingender) Ausdrucksweisen von Antisemitismus“. Anders als Tomlinson, Sedley und Paech geht es ihnen nicht um die juristische Anwendbarkeit der Definition, sondern um ihre Praktikabilität in der Sozialforschung. „Wir vertreten die Position, dass Ereignisse und Handlungen als antisemitisch klassifiziert werden sollten, in denen sich ein ’negatives Verhältnis gegenüber dem Judentum bzw. gegenüber Jüdinnen und Juden als solchen dokumentiert.“ Dies treffe den inhaltlichen Kern der in der Forschung verbreiteten Antisemitismus-Begriffe. Wenn man es aber nicht bei bloßen Motivunterstellungen belassen wolle oder von der apriorischen Annahme ausgehe, Antisemitismus bilde ein konstitutives Element der Moderne (wie Salzborn), müsse die empirische Forschung „Indikatoren benennen, an denen sich der antisemitische Gehalt intersubjektiv beobachten lässt“. Die Autoren weisen auf den Vorschlag des Historikers Christoph Nonn hin, sich bei wissenschaftlichen Untersuchungen auf „antisemitische Akte“ zu konzentrieren, da die Annahme von antisemitischen Mentalitäten problematisch sei.

Das Bestehen auf einer „klassischen“, engeren Definition empfiehlt sich auch wegen der zunehmenden, aber häufig unbegründeten, Bezeichnung bzw. Beschimpfung politischer Gegner als „Antisemiten“. Das würde auch der Entscheidung des Obergerichts des Kantons Genf entsprechen, wonach [wann/wobei???] die traditionelle und nicht die „moderne“ Bedeutung des Begriffs Antisemitismus zu Grunde zu legen sei. (16)

Israel­kritik, Antise­mi­tismus und Meinungs­frei­heit

Die Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) gilt gemeinhin als klassisches Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen. Bei staatlichen Eingriffen in die Meinungskundgabe können sich die Bürger auf dieses Grundrecht berufen, es sei denn, dass die staatliche Maßnahme durch die in Art. 5 Abs. 2 GG genannten Schranken gerechtfertigt ist (allgemeine Gesetze, Jugendschutz, Recht der persönlichen Ehre). (17) Die wichtigste gesetzliche Schranke im Rahmen der „allgemeinen Gesetze“ ist die Volksverhetzung des § 130 StGB (Verächtlichmachung, Verleumdung einer Bevölkerungsgruppe; Auschwitzleugnung). Keine im Grundgesetz vorgesehene Schranke des Grundrechts der Meinungsfreiheit ist hingegen die vom Deutschen Bundestag am 4.11.2008 beschworene Solidarität mit Israel als einem „unaufgebbaren Teil der deutschen Staatsräson“ (BT-Drs. 16/10775). Kritik an der Besatzungspolitik der israelischen Regierung, auch die Befürwortung der BDS-Kampagne, ist daher grundsätzlich von der Meinungsfreiheit gedeckt.
Allenfalls in den genannten Fällen des Art. 5 Abs. 2 GG darf der Staat intervenieren. Darüber hinaus gehende Forderungen nach staatlichem Einschreiten sind illegitim und müssten von den zuständigen Organen deutlich zurückgewiesen werden. In Freiburg hat das Verwaltungsgericht dies in zwei Fällen getan:

es entschied gegen den Oberbürgermeister, der die Nakba-Ausstellung in der Stadtbibliothek untersagt hatte „wegen einseitiger Darstellung des Themas“ (VG Freiburg v. 8.11.2010) (18)
es entschied gegen die Universität Freiburg, welche den Vortrag des französischen Chirurgen Christoph Oberlin über plastische Chirurgie in Gaza in der Universität nicht gestatten wollte (VG Freiburg v. 5.3.2013)(19).

Der Staat ist allerdings, nach juristisch herrschender Meinung, nicht verpflichtet, jegliche Meinungen positiv, durch finanzielle Zuschüsse, Zurverfügungstellen von Räumen etc. zu fördern; er muss sein Ermessen aber „pflichtgemäß“ ausüben. Zu beachten ist aber die Rechtsprechung des EGMR, wonach aus Art. 10 EMRK „positive staatliche Verpflichtungen“ im Zusammenhang mit der Meinungsäußerungsfreiheit folgen. Der Staat sei verpflichtet, ein „günstiges Umfeld für die furchtfreie Teilnahme am politischen Diskurs zu schaffen“(20).
Das alles gilt auch für die Kommunen. Hier finden die meisten Veranstaltungsverhinderungen statt. Eine Reihe von Städten (Frankfurt, Köln, München) hat im Laufe des Jahres 2017 als „Rechtsgrundlage“ dafür kommunale Verordnungen erlassen. So hat der Münchner Stadtrat am 6.12.2017 beschlossen, die „antiisraelische“ BDS-Kampagne zu ächten:
„Organisationen und Personen, die Veranstaltungen in städtischen Einrichtungen durchführen wollen, welche sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben, werden von der Raumüberlassung bzw. Vermietung von Räumlichkeiten ausgeschlossen. Dies gilt entsprechend auch für die Zuschussvergabe.“ (21)
Die Frage kommunaler Zuschüsse sind der praktisch wichtigste Punkt, da es sich bei den Räumen nur selten um solche handelt, die unmittelbar im städtischen Eigentum stehen (Rathäuser, Stadthallen etc.). Inwieweit diese kommunalen Normen den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechen, werden die Gerichte zu prüfen haben.
Die meisten der von Verboten betroffenen oder bedrohten Veranstaltungen werden von Vereinen oder Verbänden veranstaltet und sollen in deren eigenen oder zu diesem Zweck angemieteten Räumen stattfinden. Häufig bestehen jedoch finanzielle Abhängigkeitsbeziehungen zwischen gemeinnützigen Vereinen und Verbänden einerseits und staatlichen Stellen andererseits. Das ist eine für Deutschland typische, wenn auch ungeplante Folge des Subsidiaritätsprinzips. Entsprechende Abhängigkeiten und Druckmöglichkeiten bestehen auch bei den formell „autonomen“ Hochschulen. In den bekanntgewordenen Fällen wurden die zuständigen Behörden durch interessierte Personen oder Organisationen zur Intervention aufgefordert. Die behördliche Intervention besteht regelmäßig in dem mehr oder weniger ausdrücklichen angedrohten Entzug von öffentlichen Subventionen. Ergebnis ist die Kündigung von schon abgeschlossenen Mietverträgen oder die Weigerung, solche Mietverträge abzuschließen.
Da es sich um privatrechtliche Verträge handelt, waren bisher fast ausschließlich die Zivilgerichte mit diesen Fällen befasst. Bei der Kündigung bereits abgeschlossener Mietverträge kommt es in der Regel zu einer Aufhebung der Kündigung. (22) Bisher sind keine Fälle bekannt, in denen die Weigerung zum Vertragsabschluss zu einer Verpflichtungsklage geführt hätte. Im Privatrecht herrscht grundsätzlich Vertragsfreiheit; eine Bindung an Grundrechte („Drittwirkung“) wird nur in Ausnahmsfällen angenommen, insbesondere beim Vorliegen einer Monopolstellung (etwa wenn im Ort nur ein einziger entsprechend großer Veranstaltungsraum existiert). Eine Verpflichtung privater Vermieter setzt daher eine Berufung auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit voraus. Zu fordern ist, dass auch die Zivilgerichte bei der Auslegung der einfachrechtlichen Normen Art. 5 GG berücksichtigen und mit der Vertragsfreiheit abwägen.

Fazit

Kritik an der israelischen Politik kann im Einzelnen antisemitische Hintergründe oder Motive haben. Diese müssen aber konkret, anhand eines sinnvollen, präzisen Begriffs von Antisemitismus nachgewiesen werden. Eine darüber hinausgehende Hexenjagd verhindert die erforderliche argumentative Auseinandersetzung.
Kritik an der israelischen Politik mag im Einzelfall, wegen der besonderen Beziehung Deutschlands zu Israel, als politisch inkorrekt empfunden werden. Das entzieht sie jedoch nicht dem Schutz der Meinungsfreiheit. Auch kommt in nicht wenigen kritischen Äußerungen, eine nachdrückliche Besorgnis um den Zustand des Staates Israel zum Ausdruck.
Die laufende Kampagne gegen „antiisraelischen Antisemitismus“ ist nicht nur in Konflikt mit der grundgesetzlich garantierten Meinungsfreiheit, sie ist auch kontraproduktiv für die Bekämpfung eines recht verstandenen Antisemitismus. Sie ist nämlich geeignet, dem Kampf gegen die in Deutschland durchaus vorhandene Fälle von Ablehnung und Diskriminierung jüdischer Bürger Energien und Mitstreiter zu entziehen.

JOHANNES FEEST   Jahrgang 1939, studierte Rechtswissenschaft in Wien und München sowie Soziologie in Tübingen und Berkeley. Von 1974 bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand 2005 war Feest Professor für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht an der Universität Bremen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehörten u.a. Beiträge zur kritischen Kriminologie der Polizeiarbeit sowie rechtliche und praktische Bedingungen des Strafvollzugs und der Sicherungsverwahrung. Von 1977 bis 2011 leitete er das Strafvollzugsarchiv.

Anmerkungen:

1 Einige ausgewählte Beispiele enthält die auf Seite XXX abgedruckte Übersicht. Eine ausfübrliche Liste derartiger Vorfälle umfasst derzeit (Stand: 1.12.2017) 78 Positionen, davon allein 45 seit 1.1.2016. Die monatlich erneuerte Liste ist erhältlich bei Christoph Rinneberg (christoph.rinneberg@t-online.de).

2 Vgl. den gut dokumentierten Artikel in der WIKIPEDIA: https://de.wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment_and_Sanctions (Abruf: 12.12.17).

3 Vgl. dazu die zutreffenden Ausführungen der Zivilkammer des LG München im Urteil vom 10.12.2014 (Az. 25 O 14197/14), Prozess Elsässer gegen Dittfurth, abrufbar unter http://www.juttaditfurth.de/dl/dl.pdfa?download=Elsaesser-gegen-Ditfurth-I-Instanz-20141210.pdf.

4 Vgl.Brian Klug: Was meinen wir, wenn wir ‘Antisemitismus’ sagen? Auszüge aus einem Vortrag v. 8.11.2013, abrufbar unter www.letnapark-prager-kleine-seiten.com/brian-klug.html (Abruf 12.12.17).

5 Vgl. insbes. Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Nathan Schneider (Hrsg.) Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt 2004.

6 Samuel Salzborn:Israelkritik oder Antisemitismus? Kriterien für eine Unterscheidung. In: Kirche und Israel, Neukirchener Theologische Zeitschrift, 28. Jahrgang, Heft 1/2013, http://www.hagalil.com/2013/06/israelkritik-oder-antisemitismus (Abruf: 12.12.17)

7 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Fundamental_Rights_Agency (Abruf: 12.12.17).

8 Wortlaut der Working Definition unter https://www.holocaustremembrance.com/sites/default/files/press_release_document_antisemitism.pdf (Abruf: 13.12.17).

9 Sergey Lagodinsky: Kontexte des Antisemitismus. Rechtliche und gesellschaftliche Aspekte der Meinungsfreiheit und ihrer Schranken. Berlin 2013, S. 79.

10 Ebd., S. 347.

11 Ebd., S. 80.

12 Hugh Tomlinson 2017, Counsel‘s Opinion, freespeechonisrael.org.uk/ihra-opinion/ (Abruf: 12.12.17).

13 Stephen Sedley: Defining Antisemitism. In: London Review of Books, Vol. 39 No. 9 (4th May 2017), https://www.lrb.co.uk/v39/n09/stephen-sedley/defining-anti-semitism (Abruf: 12.12.17).

14 Norman Paech: Eine neue Antisemitismus-Nicht-Definition. In: Rubikon v. 28.09.2017, https://www.rubikon.news/artikel/eine-neue-antisemitismus-nichtdefinition (Abruf: 12.12.2017)

15 Peter Ullrich/Michael Kohlstruck: Muster der öffentlichen Kommunikation über Antisemitismus. In: conflict & communication online, Vol. 16, No. 1/2017.

16 Offen gelassen wurde diese Frage vom Schweizer Bundesgericht und vom EGMR: CICAD v. Suisse, v. 7.6.2016 (http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-163453; Abruf: 12.12.17)

17 Vgl. dazu ausführlich Lagodinsky 2013 (Anm. 9).

18 Der Wortlaut der Entscheidung liegt mir nicht vor; vgl. aber Palästina Portal unter http://www.arendt-art.de/deutsch/palestina/texte/nakba_ausstellung_freiburg_dieter_salomon_pressereferat_stadt_freiburg_verhindern.htm (Abruf: 12.12.17).

19 Der Wortlaut der Entscheidung liegt mir nicht vor. Vgl. aber Gabi Webers Jahresbericht unter http://othersite.org/cafe-palestine-freiburg-sagt-danke/ (Abruf: 13.12.17).

20 ECHR v. 14.9.2010: Affaire Dink v. Turquie, https://hudoc.echr.coe.int/eng#{„itemid“:[„001-100383„] (Abruf: 12.12.17).

21 Antrag Nr. 14-20 / A 03242 i.d.F. der Sitzungsvorlage Nr. 14-20/V 10165 v. 6.12.2017, S. 18; zur Beratung im Münchner Stadtrat s. Jakob Wetzels Bericht in der Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung v. 6.12.2017 (Abruf: 8.12.2017).

22 Zuletzt: AG Berlin vom 7.12.2017; vgl. den Bericht in der Neuen Rheinischen Zeitung- Online vom 8.12.17 (http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=24420&css=print; Abruf: 12.12.17).

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