Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 224: Der Osten als Vorreiter? Rechtspopulismus im Gefolge wirtschaftlicher und politischer Umbrüche

Drei Versuche, die Popularität des Populismus zu verstehen

In: vorgänge Nr. 224 (4/2018), S. 91-99

Über die Auflösung klassischer Millieus und Lebenslagen, die zunehmende Politikverdrossenheit und einen latenten, aber weit verbreiteten Rassismus wird schon seit Jahrzehnten diskutiert und geschrieben. Dennoch haben die Wahlerfolge der Populisten viele liberale Denker*innen aufgeschreckt: Was ist passiert, dass sich so viele Menschen von den klassischen Parteien nicht mehr nur enttäuscht zeigen, sondern ganz abwenden? Womit lassen sich umgekehrt die Erfolge (rechts-)populistischer Kandidat*innen und Bewegungen erklären, die nach traditionellen Maßstäben weder praktikable noch akzeptable Lösungen für die zentralen politischen Probleme vorweisen können? Und was kann gegen die vielerorts zu beobachtende Polarisierung und Radikalisierung der politischen Lager unternommen werden? Zu diesen Fragen, die sich im Zuge des populistic turn stellen, gibt es mittlerweile zahlreiche Veröffentlichungen. Drei davon sollen hier kurz vorgestellt werden. Sie versuchen auf unterschiedliche Art und Weise, die Motive jener Abtrünnigen in (Ost-)Deutschland, Frankreich und den USA besser zu verstehen. Im Einzelnen handelt es sich um:

Johannes Hillje: Rückkehr zu den politischen Verlassenen. Gespräche in rechtspopulistischen Hochburgen in Deutschland. Studie für das Progressive Zentrum, 26 S., Berlin 2018, unter http://www.progressives-zentrum.org/die-verlassenen/

Das in Berlin ansässige Progressive Zentrum sowie die französische Kampagnenschmiede Liegey Muller-Pons haben die Wahlmilieus des Front National bzw. der Alternative für Deutschland (AfD) in Frankreich bzw. Deutschland untersucht. Dazu befragte ein gemeinsames Forschungsprojekt 500 Haushalte in jeweils sechs Regionen Frankreichs und Deutschlands. Für die deutschen Projektpartner hat Johannes Hillje eine Auswertung vorgelegt, die aus deutscher Sicht zentrale Ergebnisse der Befragung sowie Handlungsempfehlungen für die (deutsche) Politik vorstellt. Erklärtes Ziel des Projektes ist es, einen Beitrag zur Überwindung der gegenwärtig zu beobachtenden Spaltung der Gesellschaft zu leisten: „Dieses Projekt möchte einen ersten Schritt unternehmen und hat sich zur Aufgabe gemacht denjenigen zuzuhören, über die sonst geredet wird.“ (S. 3)  Mit relativ offen formulierten Fragen wurde abgerufen, welche Probleme die Befragten im Land bzw. im lokalen Umfeld ausmachen, was die Gründe für deren mutmaßliche Politikverdrossenheit sind und welche Erwartungen sie an die künftige Lösung dieser Probleme haben. Die Regionen wurden danach ausgewählt, dass sie eine hohe soziale und ökonomische Benachteiligung sowie hohe Wahlergebnisse für die AfD bzw. den Front National aufwiesen, zugleich aber verschiedene politische (z.B. Ost/ West-Deutschland) bzw. urbane Strukturen (Stadt, Kleinstadt/Vorstadt, Land) repräsentieren. Bei den Befragten handelt es sich um Bewohner*innen der Wahlhochburgen – ob sie AfD bzw. FN gewählt haben, wurde nicht explizit erfragt. Die Befragung der deutschen Teilnehmer*innen fand kurz vor der Bundestagswahl 2017 statt.

Als wichtigstes bundespolitisches Problem benannte die Hälfte der deutschen Befragten „Migration“ – zum einen, weil die Aufnahme von Migrant*innen erhebliche Kosten verursache und damit Ressourcen binde, die an anderer Stelle fehlen. Außerdem wird ihr Zuzug als Kriminalitätsrisiko gesehen, wobei „eher von Ängsten vor als von persönlichen Erfahrungen mit Ausländerkriminalität gesprochen wird.“ (S. 9) An zweiter Stelle rangiert die Unzufriedenheit mit der politischen Praxis (bzw. der politischen Elite), die sich vor allem am Verhalten der Politiker (unehrlich, egoistisch, zu weit weg von den Menschen), am zu großen Einfluss von Wirtschaft und Lobbyist*innen auf politische Entscheidungen sowie an einer als mangelhaft wahrgenommenen Problemlösungskompetenz der Politik festmacht. Auf den Punkt gebracht lautet diese Kritik: „Wenn die Politik Probleme angeht, dann sind es nicht meine und sie tut es nicht in meinem Interesse.“ (S. 10) Daraus entstehe ein „Gefühl der politischen Benachteiligung“, das sich aus der „mangelnden Anerkennung und falschen Bearbeitung der Probleme aus der eigenen Lebensrealität“ (ebd.) speist.

Gemäß ihrem Anspruch, der sich zunächst auf das Verstehen der Befragten beschränkt, unternimmt die Studie keinen Versuch, diese subjektiven Problembeschreibungen der Befragten mit objektiven Kriterien abzugleichen. Für die mit der Migration verbundenen Fragen wäre ein solcher Abgleich methodisch sicher aufwändig, denn er würde beispielsweise bezogen auf die Kritik an der staatlichen Prioritätensetzung und der Ressourcenverteilung eine Untersuchung erfordern, welche sozialstaatlichen / gesellschaftspolitischen Vorhaben hätten realisiert werden können, wenn es die Einwanderungswelle ab 2015 nicht gegeben hätte („kontrafaktische Geschichte“). Das zweite Problemfeld – die Unzufriedenheit mit der politischen Praxis – ist einer empirischen Prüfung dagegen leichter zugänglich: Hier zeigen jüngere Untersuchungen zur Responsivität politischer Entscheidungen in Deutschland, dass der Eindruck zunehmenden Alltagsferne politischer Entscheidungen und einer Benachteiligung ihrer Interessen keineswegs falsch ist. So stellen Elsässer, Hense und Schäfer in ihrem 2016 vorgelegten Bericht „einen deutlichen Zusammenhang zwischen den getroffenen politischen Entscheidungen und den Einstellungen der Bessergestellten“ fest, während die Mehrzahl der (bundes-)politischen Entscheidungen von den Interessen der Einkommensschwachen abweicht. [1]

Doch zurück zu den von der Studie identifizierten Problemfeldern: Bei der Abfrage, was die wichtigsten Probleme im lokalen Umfeld (Stadt/Stadtteil) bzw. im persönlichen Alltag sind, werden andere Prioritäten sichtbar. Für ihr lokales Umfeld problematisieren die Befragten vor allem den Mangel bzw. Schwund öffentlicher Infrastrukturen (Postamt, Ärzte, Kinderbetreuung, Behörden, Einkaufsmöglichkeiten) sowie die dürftigen Nahverkehrsangebote, die im kleinstädtischen Umfeld bzw. auf dem Land viel drängender scheinen als konkrete Fragen der Migration/Integration, die hier erst an dritter bzw. fünfter Stelle genannt werden. „Gerade wenn Menschen miterleben müssen wie lokale Angebote, etwa der alteingesessene Metzger oder sogar der Briefkasten aus ihrem Lebensumfeld verschwinden, scheint ein Gefühl des ‚Verlassenwerdens‘ zu entstehen.“ (S. 13) Diese Differenz setzt sich bei den im persönlichen Alltag identifizierten Problemen fort: Hier dominieren die Probleme mit der Berufswelt (entweder fehlende Arbeit, problematische Arbeitsbedingungen oder der schwierige Ausgleich zwischen Arbeit und Familie), finanzielle Sorgen bzw. die mangelhafte Infrastruktur.

Was leitet Hillje aus diesen Befunden ab? Die „Deutungsmuster“ der Befragten ergeben für ihn drei zentrale Einsichten:

1. Zunächst einmal kehrt er die offensichtlichen Unterschiede hervor zwischen dem, was die Menschen als größtes Problem des Landes (Migration), ihres Umfelds (Infrastruktur) sowie ihres eigenen Alltags (Arbeit) ausmachen. Doch was bedeutet dies? Für Hillje handelt es sich um eine „Verschiebung in der Verantwortungszuschreibung: Anstatt die meist sozialpolitischen Ursachen für die Alltagsprobleme zu benennen, werde jene gesellschaftlichen Gruppen zum Problem erklärt, deren Probleme vermeintlich bevorzugt gelöst werden.“ (S. 15) Damit konterkariert die Studie ihren eigenen, oben zitierten Anspruch – nämlich zuhören und verstehen zu wollen – und setzt „von außen“ mit einer Erklärung an, in der die Unterschiede schlicht zu Fehleinschätzungen bzw. Fehldiagnosen erklärt werden. Der Tenor lautet: Weil Migrationsprobleme im Alltag der Befragten kaum eine Rolle spielen, kann deren Einschätzung nicht stimmen, dass es sich bei der Migration um das zentrale Problem des Landes handelt. Ob man diese Schlussfolgerung teilen kann bzw. muss, ist fragwürdig. Zunächst einmal handelt es sich bei den abgefragten Problemen um verschiedene Sozial- und Handlungsebenen (Land, Umfeld, persönlicher Alltag), die nicht aufeinander reduziert werden können. Das dürfte den meisten Befragten aber bewusst sein. Wenn Sie deshalb für verschiedene Kreise verschiedene Probleme vorrangig nennen, muss das kein Widerspruch oder Fehler sein. Eine zentrale Erkenntnis der Alltagsgeschichte wie der teilnehmenden Beobachtung sozialer Gruppen besteht darin, dass mit diesen Methoden Beschreibungen (oder Einsichten) einher gehen, die von den strukturellen Beschreibungen einer Gesellschaft abweichen können. Die vorliegende Studienauswertung lässt leider nicht erkennen, inwiefern diese methodologischen Probleme bei den (nach Meinung des Autors fehlenden) Bezügen zwischen den verschiedenen Problemkreisen hinreichend beachtet wurden. Zugleich zeigt sich in der vorschnellen Bewertung der Aussagen ein weiteres Ziel der Studie: Man will möglichst praktikable Handlungsempfehlungen aussprechen, wie die Verlassenen und Ausgegrenzten wieder integriert werden können. 

2. Ein zweiter Befund der Studie dreht sich um die Frage, unter welchen Bedingungen sich die Befragten wieder mehr mit dem politischen Betrieb identifizieren bzw. wie sie in die Gesellschaft integriert werden könnten: Dazu müssten andere Prioritäten in der Bundespolitik wie in der Politikberichterstattung gesetzt werden. Sowohl die gesetzgeberische Arbeit, aber auch die mediale Berichterstattung gehe an den Problemen und Bedürfnissen der Befragten vorbei, wenn beispielsweise außenpolitischen Themen zu viel Aufmerksamkeit gewidmet werde, die Probleme „vor Ort“ aber unbearbeitet bleiben. Das frustriere die Befragten und rufe bei ihnen ein Gefühl der Benachteiligung hervor (S. 20).

3. Schließlich werde die „Strukturschwächung der eigenen Umgebung“, etwa durch den Rückzug bzw. Abbau sozialer Angebote, von den Betroffenen als persönliche Entwertung wahrgenommen.

Für die Politik sieht Hillje folgende Handlungsmöglichkeiten, um diesem Zerfall entgegen zu wirken: Zuallererst müssten Politiker*innen die Abstiegsängste, die bis weit in die Mittelklasse hinein reichen, ernst nehmen. Der vielfach beklagten Abwertung von bzw. Abneigung gegen Migranten lägen oft eigene Abwertungserfahrungen und mangelnde Solidarität innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft zugrunde: „Einer Gesellschaft, die sozial tief gespalten statt ausreichend ausgeglichen ist, fehlen womöglich die Voraussetzungen für das Maß an Humanität, das ihr im Herbst 2015 „von oben“ auferlegt wurde. Gleichzeitig sind es eben genau diese Entscheidungsträger, welche die Solidarität mit Fremden einforderten, aber auch die Solidarität unter den Hiesigen zusammenschrumpfen ließen.“ (S. 21)

Zugleich müsse sich die Politik vermehrt um den Erhalt bzw. Ausbau sozialer Infrastrukturen bemühen. „Die Daseinsvorsorge hat integrierende Kraft für die Gesellschaft, wenn sie zerbröckelt oder zum Luxusgut wird, passiert das auch mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ (S. 22) Insofern solle die von der Koalition beschlossene (und mittlerweile eingesetzte) Kommission zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse [2] einen weiten Blick auf die strukturellen Ungleichheiten innerhalb Deutschlands einnehmen, um ein „ganzheitliches Konzept“ für ein Mindestmaß regionaler Daseinsvorsorge zu entwerfen. (S. 21) Dazu gehöre aber auch, dass die Parteien sich nicht aus den strukturschwachen Regionen zurückziehen, sondern ihr Engagement dort deutlich verstärken – damit sie nicht den Kontakt zur dortigen Bevölkerung verlieren, aber auch um ein Mindestmaß an sozialen Dienstleistungen für die Menschen vor Ort zu bieten. (S. 22) Diese Empfehlung beruht auf der Beobachtung, dass der Erfolg rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen etwa in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern auch auf deren Image als „Kümmerer“ vor Ort in der Lokalpolitik oder in der Jugendarbeit beruht.

Die Vorschläge, wie auf die Kritik der Enttäuschten reagiert und wie die Politik Vertrauen zurückgewinnen könne, fallen recht bescheiden aus: sie beschränken sich auf einzelne Maßnahmen zur besseren Transparenz der Gesetzgebung (etwa den „legislativen Fußabdruck“, mit dem der Einfluss von Interessenverbänden dokumentiert werden kann) und die Forderung, dass sich die Politik auch den größeren, nicht innerhalb einer Legislaturperiode zu lösenden Herausforderungen stellen muss – etwa dem mit der Digitalisierung verbundenen Wandel der Berufs- und Arbeitswelt. Die Komplexität dieser Herausforderung wird in der vorliegenden Studie jedoch nicht ansatzweise erkannt. Dazu braucht man sich nur anzuschauen, wie innerhalb weniger Jahre der Online-Handel, neue Formen der Share-Economy (Airbnb, Uber …) oder digitale Start-Ups viele bisher anerkannte Arbeits- und Sozialstandards außer Kraft gesetzt haben. Wenn Hillje daher fordert, die Politik solle sich um „jene Probleme [kümmern], die durch die großen globalen Transformationen für ganze Teile der Gesellschaft entstehen, … um einen harten Aufprall ihrer Bürger in einer neuen Realität zu verhindern“, wirkt das wie ein frommer Wunsch, der die längst geschaffenen Tatsachen einer globalisierten Arbeitswelt kaum erahnt.

Während Hilljes Auswertung auf einem deutsch-französischen Vergleich beruht, lenkt der folgende Beitrag die Aufmerksamkeit auf die Ostdeutschen und deren Erfahrungen seit der Wiedervereinigung:

Petra Köpping: „Integriert doch erst mal uns! – Eine Streitschrift für den Osten“. Ch. Links Verlag, Berlin 2018. 180 Seiten, 18 €

Die Autorin, Jahrgang 1958, stammt aus Nordhausen, absolvierte in der DDR ein Fernstudium für Staats- und Rechtswissenschaften und war 1989/90 Bürgermeisterin einer sächsischen Kleinstadt. Nach der Wiedervereinigung und einem vorläufigen Rückzug aus der Politik arbeitete sie zunächst im Außendienst einer Krankenkasse und als Bankberaterin, bevor sie 1994 erneut in die Kommunalpolitik wechselte. 2009 wurde Köpping für die SPD in den Sächsischen Landtag gewählt, seit 2014 ist sie Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration. Mit anderen Worten: Die Frau weiß, wovon sie schreibt.

Als Buchtitel wählte die Autorin, was ihr von einem Pegida-Anhänger auf der Straße vorgehalten wurde. Darin steckt der Vorwurf, dass sich die deutsche Politik mehr um Migrant*innen anstatt um die sozialen Probleme (Ost-)Deutscher kümmere. Für Köpping ist jedoch klar, dass die 2015 sprunghaft gestiegenen Einwanderungszahlen zwar ein Auslöser, aber keinesfalls die Ursache für die große Unzufriedenheit unter Ostdeutschen sind. Verantwortlich dafür seien vielmehr „unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten“ (9) in der Folge der Wiedervereinigung.

Die Beschreibung dieser Unrechtserfahrungen nimmt große Teile des Buches ein. Dazu gehört an erster Stelle die Privatisierungs- und Abwicklungspolitik der Treuhand-Gesellschaft, mit der die Ostdeutschen nach 1990 nicht nur materiell, sondern auch symbolisch enteignet wurden. Köpping verweist auf die Verkaufsbilanz der Anstalt, wonach bis 1994 80% aller Unternehmen an Westdeutsche, 14% an ausländische Investoren und nur 6% an Ostdeutsche verkauft wurden (S. 31). Ihr Fazit: Die Herkunft entschied maßgeblich über die Kaufchancen. An Beispielen aus ihrem Umfeld zeigt sie, wie westdeutsche Unternehmen die Privatisierung nutzten, um ostdeutsche Konkurrenten auszuschalten oder wie Versuche der (ehemaligen) Beschäftigten, ihre Betriebe selbst zu übernehmen, von der Treuhand boykottiert wurden. Das ging so weit, dass die Treuhand für ost- und westdeutsche Käufer*innen unterschiedliche Kaufpreise vorgab. Der verbreiteten Argumentation, zur Abwicklung der maroden DDR-Wirtschaft habe es keine Alternative gegeben und die magere Verkaufsbilanz der Treuhand repräsentiere einfach die niedrige Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft, widerspricht Köpping vehement.[3] Dabei verweist sie auf ein Argument von Jana Hensel, die den radikalen Einbruch der Wirtschaftsleistung in der ehemaligen DDR im Vergleich zu anderen osteuropäischen Staaten hervorhebt: „Nirgendwo im Ostblock brach die Wirtschaft nach 1989 so stark ein wie hier, nur Bosnien und Herzegowina wiesen ähnliche Zahlen auf – nach dem Jugoslawienkrieg.“ (Hensel zit. nach S. 35)

Weitere Unrechtserfahrungen macht Köpping in der Überleitung des DDR-Rentensystems auf das westdeutsche System aus: Zwar sei die generelle Umstellung großzügig gewesen und die bestehenden DDR-Renten wurden aufgewertet; die Probleme zeigten sich aber in jenen Generationen, die nach der Wende noch berufstätig waren und erst später in Rente gingen. Hier macht Köpping 17 spezielle Gruppen aus, die im Zuge der Rentenüberleitung benachteiligt wurden. Dazu zählen etwa in der DDR geschiedene Frauen (weil der in Westdeutschland übliche Versorgungsausgleich fehlte), aber auch einzelne Berufsgruppen wie die Eisenbahner*innen, die Bergleute oder das medizinische Personal. Sie teilen das Schicksal, das spezielle Zusatzleistungen des DDR-Rentensystems entfallen sind und sie die westdeutschen Auffangleistungen (Betriebsrenten etc.) nicht in Anspruch nehmen konnten. Auch jenseits dieser Sonderfälle drohe vielen ostdeutschen Arbeitnehmer*innen durch das anhaltend niedrige Lohnniveau in Ostdeutschland die Altersarmut – weil ihre Rentenbeiträge lohnbedingt zu niedrig ausfallen. 

Jenseits dieser ökonomischen Benachteiligungen macht Köpping eine weitere Dimension der Entwertung aus, die für die Distanz der Ostdeutschen zur westdeutschen Demokratie mindestens genauso wichtig sei: Die bestehe darin, dass die westdeutsche Perspektive als quasi allein gültige Sicht auf das heutige Deutschland und den Einigungsprozess reklamiert werde. Das habe u.a. dazu geführt, dass alle Errungenschaften der DDR im wiedervereinigten Deutschland als wert- und nutzlos angesehen wurden – ja teilweise sogar als Neuerfindungen ausgegeben werden, wenn sie Jahre später wieder entdeckt wurden. Dazu gehören für Köpping die Leistungen des Bildungssystems, das mit deutlich weniger Selektion und Hierarchisierung auskam als heute, sich durch eine solide naturwissenschaftlich/technische sowie polytechnische Grundausbildung auszeichnete und außerdem die Lehrer weitgehend gleich bezahlte. Daneben hebt sie Errungenschaften in der ärztlichen Versorgung (etwa durch Polikliniken/Ärztezentren), der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (zumindest innerhalb der Arbeitswelt) sowie der Kinderbetreuung hervor.

Eine Stärke des Buches besteht darin, dass Köpping die ganze Bandbreite der ostdeutschen Unrechtserfahrungen nach der Wiedervereinigung anschaulich und nachvollziehbar beschreibt. Dagegen fallen ihre Vorschläge zur Überwindung dieser Misere und zum politischen Umsteuern (S. 149 ff.) recht bescheiden aus: Sie beschränken sich im Wesentlichen auf das Einfordern eines stärkeren Dialogs zwischen Ost und West sowie die Aufarbeitung des Wiedervereinigungsprozesses (insbesondere der Treuhand), etwa durch lokale Geschichtswerkstätten und eine Wahrheitskommission (was zur Versöhnung in der deutschen Gesellschaft beitragen soll); auf das Einfordern solidarischen Verhaltens und die Bildung neuer Bündnisse (zwischen verschiedenen Sozialgruppen und strukturschwachen Regionen in Ost und West) sowie auf Maßnahmen zur Vermeidung der Altersarmut (durch eine Grundrente und einen Gerechtigkeitsfonds, mit dem die oben beschriebenen Härtefälle abgefedert werden sollen). Das alles ist noch keine nennenswerte politische Strategie, wie mehr Anerkennung für und Gerechtigkeit in Ostdeutschland herzustellen wäre.

Leider vergibt das Buch auch eine große Chance dafür, die aktuellen politischen Debatten um Migration durch eine spezifische Ostperspektive zu bereichern. Die Idee dazu ist bereits im Titel angelegt, wird im Buch aber nicht wirklich aufgegriffen: Wenn es nämlich nach 1989 in der Bundesrepublik nicht um eine gleichberechtigte Wiedervereinigung, sondern eine Integration des Ostens in das System der alten BRD geht, dann bietet sich ein Vergleich mit anderen Integrationsprozessen an. Lassen sich die geschilderten Erfahrungen der „Ossis“ mit den Problemen vergleichen, die die deutsche Gesellschaft mit der Integration von Migrant*innen hat? Ließe sich umgekehrt die Migrationsforschung nutzen, um politische Strategien zur besseren Anerkennung und Integration der Ostdeutschen zu finden? [4] Beides liefert das Buch nicht, weil es durchgängig nur aus der Perspektive der benachteiligten Ostdeutschen spricht und sich letztlich nicht von jener Wagenburgmentalität frei machen kann, die eingangs (S. 11) kritisiert wird.

Dennoch bleibt es ein Verdienst der Autorin, eine breitere Öffentlichkeit auf die Erfahrungen der Ostdeutschen aufmerksam gemacht zu haben. Zumindest diese Botschaft scheint im Berliner Politikbetrieb langsam anzukommen, wenn man sich die kürzlich eingesetzte Regierungskommission für Gleichwertige Lebensverhältnisse (s.o.) oder das Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Treuhand-Politik [5] anschaut, die noch keine Kehrtwende markieren, aber immerhin erste Schritte zu einer deutsch-deutschen Annäherung in der Bewertung der ostdeutschen Entwicklung sein können.

In den USA sind der Aufstieg der Populisten sowie die Polarisierung der Gesellschaft deutlich weiter vorangeschritten als in Deutschland. Entsprechend groß ist der Verständigungsbedarf. Unmittelbar nach dem Wahlerfolg Donald Trumps vor zwei Jahren nominierte die New York Times „6 Books to Help Understand Trump’s Win“ [6]. Darunter findet sich auch das mittlerweile auf Deutsch vorliegende:

Arlie Russell Hochschild: Fremd in ihrem Land. Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff. Campus Verlag, Frankfurt/M. 2017, 429 Seiten 29.95 Euro.

Hochschild will mit ihrem Buch eine Tiefengeschichte zu den „gefühlsmäßigen Geboten und Verboten, zum Gefühlsmanagement und den Kerngefühlen“ jener Leute vorlegen, die sich von der Tea Party angesprochen fühlen. Dafür verlässt die Professorin aus Berkeley ihre liberale Umgebung und begibt sich zu einem Forschungsaufenthalt in den Süden, wo sie den direkten Austausch mit den Anhänger*innen der rechtspopulistischen Tea Party sucht. Ihre Reise führt sie u.a. nach Baton Rouge und Lake Charles in Louisiana, Hochburgen der Tea Party, die am Golf von Mexiko liegen. Das Öl- und wasserreiche Gebiet galt einst als eine der großen Fisch- und Meeresfrüchtequellen der Vereinigten Staaten, woraus vor allem die einheimischem Cajun ihren Lebensunterhalt bezogen. Als es 1987 zu einem großen Fischsterben in der Region kommt und die Behörden eine Warnung vor dem Verzehr von Fischen und Meeresfrüchten aussprechen, entzieht das vielen die Lebensgrundlage. Die Wut der meisten Bürger richtete sich jedoch weniger gegen die Firmen, die diese großflächige Verseuchung zu verantworten hatten, sondern gegen den Staat: „In der Kette vom Fischernetz bis zum Teller – Fischer, Lebensmittelläden, Spediteure, und Restaurantpersonal – waren alle wütend auf die Behörden, die diese Warnung vor Meeresfrüchten herausgegeben hatten. Der Staat war ein Job-Killer …“ (S. 57/445) Hochschild macht zwei Motive dafür aus, warum die von der Umweltzerstörung betroffenen Fischer dennoch einen stärkeren staatliche Umweltschutz ablehnen: weil die Ölindustrie immer wieder neue Arbeitsplätze schaffe (in den letzten Jahren dank des Fracking-Booms), und weil Umweltschutz als liberales bzw. linkes Anliegen verrufen sei.

Es zeichnet Hochschilds Buch aus, dass sie sich offen für die Paradoxien des Rechtspopulismus zeigt und diese nicht als bloße Irrtümer abtut, sondern als Herausforderungen für ein Verständnis dieser fremden Welt begreift. Zu diesen Paradoxien zählt auch, dass weder die Wirtschafts- noch die Sozialpolitik der Tea Party zur wirtschaftlichen bzw. sozialen Realität der meisten ihrer Anhänger passt: Sie kritisiert die staatlichen Sozialleistungen, von den viele aus ihren Reihen profitieren; sie verfolgt eine Wirtschaftspolitik für Großkonzerne, auf Kosten kleinerer und mittlerer Unternehmen.

Als Kern der Tea-Party-Ideologie macht Hochschild drei Themen aus: Steuern, Religion und Ehre. Charakteristisch sei eine starke Abneigung gegenüber dem Staat: dieser mische sich zu sehr in die Geschäfte der Firmen und der Religionsgemeinschaften ein; gebe sein Geld für die falschen Dinge aus und bediene am Ende doch nur die Interessen der Reichen und Mächtigen. Genauso prägend sei aber auch die Erfahrung der zahlreichen kulturellen Brüche (etwa zwischen Landes- und Bundesrecht) sowie die Abwertung durch die liberalen politischen wie kulturellen Eliten des Landes. Dies alles führe dazu, dass sich viele Südstaatler*innen mittlerweile als Fremde in ihrem eigenen Land sehen, die sich von Staat und Politik abwenden. Die Religion habe bei ihnen jenen „kulturellen Platz eingenommen, an dem Politik eine entscheidende Rolle hätte spielen können. Sie haben den Eindruck, dass die Politik ihnen nicht geholfen habe, wohl aber die Bibel.“ (S. 73/445)

In gewisser Weise ist dies die subjektivste der drei hier vorgestellten Abhandlungen, denn Hochschild beschreibt in ihrem Buch nicht nur das populistische Gegenüber, sondern reflektiert auch ihr eigenes liberales Selbstverständnis. Sie konfrontiert sich selbst wie ihre Gesprächspartner*innen immer wieder mit den gegenseitigen Vorurteilen, Herabwürdigungen und Demütigungen. Auch wenn sie keine kausale Erklärung für den zutiefst gespaltenen Zustand der USA abliefern kann, ist ihr Buch dennoch uneingeschränkt zu empfehlen.

Sven Lüders
Geschäftsführer der Humanistischen Union

Anmerkungen:

1 Elsässer, L.; Hense, S. & Schäfer, A., Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015 (Endbericht für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales), Berlin 2016.

2 S. Kabinettsbeschluss v. 18.7.2018, unter https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/gleichwertige-lebensverhaeltnisseschaffen-1515788.

3 Vgl. dazu Christa Luft in diesem Heft, S. 25 ff.

4 Diese Perspektive haben jüngst Naika Foroutan und Daniel Kubiak eingenommen: „Ausschluss und Abwertung. Was Muslime und Ostdeutsche verbindet.“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2018, S. 93 ff.

5 S. Dierk Hoffmann, Transformation einer Volkswirtschaft, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 216 v. 17.9.2018, S. 6, der das Selbstverständnis des Leiters des Forschungsprojektes am Dt. Institut für Zeitgeschichte wiedergibt.

6 S. https://www.nytimes.com/2016/11/10/books/6-books-to-help-understand-trumpswin.html.

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