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Thesen zur Unter­su­chungs­haft

Aus: vorgänge Nr. 59/60, Heft 5/6-1982, S. 20-22

1. Die Untersuchungshaft ist ein unentbehrliches Instrument der Strafjustiz, weil Straftäter sich wegen ihres ohnehin oft unsteten Lebens oder aus berechtigter Furcht vor Strafe dem Verfahren sonst entziehen oder in unerträglicher Weise die Ermittlung der Wahrheit verhindern würden.

2. Haftentscheidungen sind die unzulässigsten richterlichen Entscheidungen überhaupt, weil sie in der Regel auf einer sehr schmalen tatsächlichen Grundlage beruhen und auf dieser Grundlage das voraussichtliche Ergebnis des Strafverfahrens sowie das voraussichtliche Verhalten des Beschuldigten während des Verfahrens eingeschätzt werden muss.

3. Die Verhängung von Untersuchungshaft ist trotz ihrer unbestrittenen Notwendigkeit rechtsstaatlich bedenklich, weil sie vor der rechtskräftigen Feststellung der Schuld erfolgt. Die Möglichkeit, sich durch das Ermitteln von Entlastungsbeweisen zu verteidigen, wird dem Beschuldigten weitgehend abgeschnitten. 

4. Die Verhängung von Untersuchungshaft hat ungewollt für die Mehrzahl der Beschuldigten katastrophale Folgen. Sie sind oft schwerwiegender als bei der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, weil der Beschuldigte sich nicht auf die Freiheitsentziehung vorbereiten kann. Die Folgen können in einer Diskreditierung, dem Verlust von Arbeitsplatz und Wohnung sowie der Zerstörung sozialer Bindungen (Partnerschaft und Ehe) bestehen.

5. Haftentscheidungen werden nicht selten von weniger qualifizierten Richtern getroffen, weil der Haftrichter in der Richterschaft nur ein beschränktes Ansehen genießt, sich ihm auch keine Beförderungschancen eröffnen und deshalb hier oft Berufsanfänger oder Richter eingesetzt werden, die für öffentliche Verhandlungen weniger geeignet erscheinen.

Auch verlangt die Justizverwaltung von Haftrichtern eine so hohe Zahl von Entscheidungen, dass eine gründliche Bearbeitung des Einzelfalles nur schwer möglich ist.

6. Die Entscheidung über den Erlass eines Haftbefehls hat ein eigenartiges, über ihre eigentliche strafprozessuale Funktion hinausgehendes Gewicht.

Der Beschuldigte sieht die oben geschilderten, vom Haftrichter zwar nicht beabsichtigten aber zwangsläufigen Folgen der Untersuchungshaft.

Die Polizei andererseits sieht in der Haftentscheidung die Bestätigung – oder deren Gegenteil – ihrer Arbeit. Die Polizei steht nicht selten unter einem erheblichen Erwartungsdruck der Öffentlichkeit. Der Erlass eines Haftbefehls gibt ihr die richterliche Bestätigung, dass sie einen Beschuldigten ermittelt hat, gegen den zumindest ein dringender Tatverdacht besteht.

Eine vergleichbare richterliche Entscheidung könnte sie in einem Verfahren ohne Untersuchungshaft erst zeitlich wesentlich später und nicht in einem augenfälligen Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit erlangen. Strafverfahren werden von den Polizeibeamten oft – zu Recht – als für sie sehr frustrierend empfunden. Sie können zwar den Erlass eines Haftbefehls, kaum aber eine Verurteilung als das Ergebnis ihrer Arbeit werten.

7. Das Instrument der Untersuchungshaft reizt zum Missbrauch.

a) Die Strafverfolgungsbehörden können Haftentscheidungen sehr viel leichter erlangen als eine rechtskräftige Verurteilung durchsetzen. Die Führung eines Ermittlungsverfahrens gegen einen in Untersuchungshaft einsitzenden Beschuldigten ist wesentlich leichter als gegen einen Beschuldigten, der sich auf freiem Fuße befindet.

b) Es gibt einen Personenkreis problematischer Menschen, mit denen keine öffentliche Institution zurecht kommt. Die Untersuchungshaftvollzugsanstalten sind immer – auch an Wochenenden – aufnahmebereit.

8. Die Untersuchungshaft ist resozialisierungsfeindlich und droht unseren Strafvollzug zu ersticken.

a) Die Resozialisierungsfeindlichkeit ergibt sich aus dem zu 3. Gesagten und daraus, dass Untersuchungshaft regelmäßig auf die Zeit der Strafhaft angerechnet wird, sodass bei auch nur halbjähriger Verfahrensdauer und bedingter Aussetzung der Vollstreckung des letzten Drittels – oder gar der zweiten Hälfte – der Strafe kaum Zeit für eine Resozialisierungsarbeit des Strafvollzugs bleibt.

b) Knapp 25 % aller in den Justizvollzugsanstalten heute einsitzenden Gefangenen sind Untersuchungsgefangene. Sie tragen durch ihre Zahl wesentlich zur Überfüllung der Anstalten bei.

c) Jugendliche Untersuchungsgefangene – natürlich zum Teil auch Erwachsene – geraten leicht aus dem seelischen Gleichgewicht wegen der Plötzlichkeit des Eingriffs und der Ungewissheit des Verfahrensganges. Die Bestimmung des § 72 JGG, nach der bei Jugendlichen Untersuchungshaft durch andere Möglichkeiten ersetzt werden soll, wird von den Justizministerien aller Bundesländer rechtswidrig sabotiert, indem solche Möglichkeiten nicht geschaffen werden!

9. Abhilfe ist – wie immer – schwierig.

a) Die Zuverlässigkeit der Prognose des künftigen Urteils wird sich nicht unmittelbar verbessern lassen; dies ist nur mittelbar durch den Einsatz von Richtern mit mehr Berufserfahrung möglich.

b) Ansatzpunkt sollte vielmehr der Begriff der Fluchtgefahr sein, auf den fast alle Haftbefehle gestützt werden. Hier besteht eine Ansatzmöglichkeit in dreifacher Stoßrichtung:

  • Wir müssen den Begriff der Fluchtgefahr neu überdenken. Die heutigen Fahndungsmöglichkeiten der Polizei haben die Fluchtmöglichkeiten drastisch vermindert, ohne dass dies in das öffentliche Bewusstsein gedrungen ist. Nicht jede Flucht, auch nicht jede erfolgreiche Flucht in das Ausland, bedeutet einen Schaden für die Allgemeinheit.
  • Es bedarf rechtstatsächlicher Forschung, um brauchbare Kriterien zu entwickeln, anhand derer beurteilt werden kann, welche Täter tatsächlich fluchtverdächtig sind und wie gemeinschädliche Folgen ihrer Flucht sind.
  • Wir müssen durch den Einsatz der Gerichtshilfe so schnell als möglich die persönlichen Verhältnisse der Beschuldigten aufklären, um die individuellen Gründe, die für und gegen eine Flucht sprechen, genauer und auf die jeweilige Persönlichkeit des Beschuldigten ausgerichtet, beurteilen zu können und nicht die Fluchtprognose durch unrealistische Vermutungen ersetzen zu müssen.

c) Das Aufgabenfeld des Haftrichters muss neu bewertet werden. Ich bin grundsätzlich gegen Rangunterschiede zwischen Richtern und auch für ihre gleiche Besoldung. Solange wir aber das gegenwärtige hierarchische System haben, muss der Haftrichter in diesem System höher angesiedelt werden. Die Gerichtshilfe muss so ausgebaut werden, dass sie ihre Aufgaben auch erfüllen kann. Beide Vorschläge würden im Ergebnis durch Einsparung von Haftplätzen sogar zur finanziellen Entlastung des Haushalts führen.

d) Nicht zuletzt den Verteidigern ist Rechtsstaatlichkeit und Fairness in deutschen Strafprozessen zu danken. Ihre faktische Ausschaltung aus den Haftentscheidungen hat mit zu der Misere der Untersuchungshaft beigetragen. In jeder Verhandlung über eine Haftentscheidung sollte deshalb eine Verteidigung zwingend vorgeschrieben sein. Dies erfordert allerdings bei nicht wenigen Verteidigern mehr Berufsinteresse aber auch eine bessere Entlohnung der anwaltlichen Arbeit im strafrechtlichen Vorverfahren.

e) Nicht geringe Bedeutung kommt Presseverlautbarungen der Polizei, u.U. auch der Staatsanwaltschaft zu richterlichen Haftentscheidungen bei, und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt – unnötiger (?) – Bloßstellung des Beschuldigten aber auch dem des unlauteren Anreizes für Anträge auf Erlass eines Haftbefehls. Hier gibt es zwei Lösungsmöglichkeiten: Entweder sollte durch Verwaltungsanordnung bestimmt werden, dass diese Verlautbarungen den Justizpressestellen der Gerichte vorbehalten bleiben, oder die Polizei müsste verpflichtet werden, ihren Erklärungen eine solche des Verteidigers, die einen etwa gleichen Umfang haben darf, beizufügen.

10. Der Vollzug der Untersuchungshaft ist im Gegensatz zu der Strafhaft gesetzlich bisher nicht geregelt. Dies führt in der Praxis zu erheblich unterschiedlicher Behandlung und vielfach auch dazu, dass Untersuchungsgefangene sich schlechter stehen als Strafgefangene. Zum geringen Teil lässt sich dies nach der Aufgabenstellung der Untersuchungshaft nicht einmal vermeiden.

Eine Neuordnung des Rechts der Untersuchungshaft ist unerlässlich. Sie sollte mit der Zielrichtung erfolgen, die sozialen Kontakte des Beschuldigten zu erhalten, seine Verteidigungsmöglichkeiten zu stärken und ihn insgesamt besser zu stellen als Strafgefangene, um so auch der Unschuldsvermutung der Menschenrechtskonvention Rechnung zu tragen.

(vg) Diese Thesen zur Untersuchungshaft wurden von Richter Ulrich Vultejus dem Verbandstag der Humanistischen Union am 31. Oktober 1982 in Nürnberg im Rahmen einer Debatte über die KOMM-Prozesse vorgetragen.

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