Humanisierung des Strafvollzugs. Zum Empfang des Fritz-Bauer-Preises am 16. Juli 1969
vorgänge Nr. 9/1969, S. 297/298
(vg) Zum Gedenken an ihr Gründungs- und Vorstandsmitglied Dr. Fritz Bauer, Hessischer Generalstaatsanwalt, der am 30. Juni 1968 so plötzlich verstarb, hat die Humanistische Union 1968 einen Fritz-Bauer-Preis für besondere Verdienste um die Demokratisierung, Liberalisierung und Humanisierung der Rechtsordnung in der Bundesrepublik Deutschland gestiftet.
Den im Jahre 1969, am Geburtstag Fritz Bauers, dem 16. Juli, erstmals zu vergebenden Preis sprach der Vorstand der HU einstimmig Frau Dr. Helga Einsele zu, Leiterin der Hessischen Haftanstalt für Frauen in Frankfurt-Preungesheim, die sich – nicht nur als Leiterin dieser Anstalt – seit zwei Jahrzehnten beispielgebend verdient gemacht hat um die Humanisierung des Strafvollzugssystems und seine Überführung in ein Werk der Resozialisierung. Die HU wollte mit dieser ersten Vergabe des Fritz-Bauer-Preises zugleich die Öffentlichkeit aufmerksam machen auf die Dringlichkeit gerade der Reform des Strafvollzugswesens, das von der Gesellschaft und ihren Institutionen weitgehend noch stiefmütterlich vernachlässigt wird.
Diesem Zweck diente auch die neue, unkonventionelle Art der Preisverleihung: nicht mit Festreden, Streichquartett und unter Lorbeerbüschen in einem Festsaal, sondern am Ort der Tätigkeit der Geehrten selbst, in der Haftanstalt Preungesheim, und im Beisein der unfreiwilligen Insassen dieses Hauses, der zu zeitlichem oder lebenslänglichem Aufenthalt verurteilten Gefangenen.
Die gefangenen Frauen sorgten denn auch dafür, daß die Preisverleihung nicht zur „erhebenden Feier“ entartete, sondern eine Stunde der Diskussion und kritischen Auseinandersetzung über das System des Strafvollzugs, das unsere Gesellschaft sich noch immer leistet, wurde. Die Diskussionsfähigkeit dieser Frauen stellte zugleich das Verdienst Helga Einseles unter Beweis, der es gelungen ist, in die „alte, rote (wilhelminische) Scheune“, die Preungesheim ohne Zweifel ist, in der Tat demokratisches Bewußtsein einziehen zu lassen und unter ihren Hausgenossen Sinn für Menschenwürde und Humanität zu erhalten.
Helga Einsele, die Preisträgerin, die zum Thema „Ein besserer Strafvollzug – oder etwas, das besser ist als Strafvollzug?“ grundsätzlich bereits in Vorgänge 6/69 Stellung genommen hat, hielt zur Entgegennahme des Fritz-Bauer-Preises die folgende Ansprache.
Herr Ministerialdirektor, Frau Abgeordnete, sehr geehrte Damen und Herren der Humanistischen Union, verehrte Gäste, liebe Hausgemeinschaft.
Trotz der vielen guten Gedanken, die hier geäußert wurden, würden wir alle wohl gern auf die Feier des heutigen Tages verzichten, wenn der noch bei uns wäre, der dem heute verliehenen Preis seinen Namen gegeben hat. Und so ist es kein durchaus frohes Zusammensein, das hier heute begangen wird. Den Schmerz darüber können wir wohl nur dadurch mildern, daß wir versuchen, diese Veranstaltung im Geiste von Fritz Bauer zu begehen, so wie die Humanistische Union sie plante: nicht als einen Festakt, sondern als eine lebendige, kritische Auseinandersetzung.
Doch zuvor möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren der HU, dafür danken, daß Sie mir diesen Preis verliehen haben. Den meisten von denen, die darüber entschieden haben, war ich persönlich kaum bekannt. Gerade darüber bin ich froh, bedeutet es doch, daß mit diesem Preis nicht eine Person, sondern eine Sache gewürdigt wird, besser vielleicht noch: ein Sachgebiet. Wenn die HU bei ihrer ersten Verleihung des Fritz-Bauer-Preises den Strafvollzug bedenkt – wie ich meine, in seinem Sinne – so bringt sie damit zum Ausdruck, daß Strafvollzug, dieses Stiefkind einer materiell reichen Gesellschaft, ein wichtiges Anliegen, vielleicht sogar ein Gradmesser für mögliche Humanität in unserem Lande ist. Zugleich möchte ich auch dem Herrn Intendanten des Hessischen Rundfunks meinen Dank dafür aussprechen, daß er unserem Hause drei Rundfunkgeräte gestiftet hat. Sie werden unsere Freizeitarbeit, in mehr Gruppen als bisher, wesentlich zu erweitern helfen.
Strafvollzug kann, wenn er sinnvoll und erfolgreich sein soll, niemals die Leistung eines einzelnen sein. Und so fühle ich mich bei der Annahme dieses Preises als Vertreterin aller derer, die an der Aufgabe des Strafvollzuges zusammenarbeiten. Das sind diejenigen, die freiwillig ihre beruflichen und ehrenamtlichen Kräfte zur Verfügung stellen, es sind aber auch diejenigen, die unfreiwillig eine Strecke ihres Lebensweges bei uns verbringen und die eigentlichen Bewohner dieses Hauses sind.
Strafvollzug – es ist schade, daß wir noch immer kein anderes Wort für diesen Versuch, menschliches Sozialverhalten zu fördern, gefunden haben – Strafvollzug kann nur Erfolg haben, wenn er ein System von Kooperation ist. Wohl kaum irgendwo ist es so notwendig, eng zusammenzuarbeiten wie in einem solchen Hause. Jeder Alleingang, jede Selbstüberschätzung, Egoismus und Egozentrik, ja jedes Überwiegen von Fremd- über Selbstkritik kann zu schweren Rückschlägen führen. In diese Kooperation gehört – und das ist der Sinn dieser Veranstaltung – die Öffentlichkeit hinein. Unser Haus ist ein Teil dieser Öffentlichkeit und muß es sein, wenn es seine Aufgabe, in ein gesamtbezogenes Leben zurückzuführen, erfüllen soll.
Strafvollzug ist die massivste Fremdkritik, die in unserer Gesellschaft denkbar ist. Sie ist unerträglich, wenn ihr nicht auf der anderen Seite ebensoviel Selbstkritik gegenüber steht. Diese muß bei denen sein, die unmittelbar an dieser Aufgabe arbeiten. Ihrer bedarf aber auch die gesamte Gesellschaft, die sich erlaubt, ihre Wertordnung in einem Strafgesetzbuch zum Ausdruck zu bringen. Eine Konsequenz daraus ist es, den Betroffenen alle Möglichkeiten zu geben, sich auf dem Rechtswege zur Wehr zu setzen, die andere aber, daß sie keinesfalls zu passiven Objekten eines Einwirkungsprozesses gemacht werden dürfen. Nur dann kann die offene und aktive Zusammenarbeit erreicht werden, die allein den Namen Resozialisierung verdient und die ja vor allen Dingen hohe Anforderungen an die Betroffenen selbst stellt.
Diese Art von Kooperation bedarf also des ständigen, gegenseitigen Gehens und Nehmens: kritisch und vertrauensvoll zugleich, sachlich und freundlich, rechtsbezogen, aber darüber hinaus zu persönlichen Beziehungen vorwärtsdrängend. Je mehr auf beiden Seiten gegeben wird, um so mehr kann auch gefordert werden.
Strafvollzug war lange ein vernachlässigtes Gebiet in unserer Gesellschaft. Er spielte sich im Dunkeln ab, er durfte nicht viel kosten, und er überließ die Betroffenen einer geplanten Isolierung. Das soll in Zukunft anders werden. Er soll ein Übungsfeld für freies, mündiges Leben und für soziales Verhalten werden. Das wird noch großer Bemühungen bedürfen. Vor allem aber ist die Hilfe der gesamten freien Gesellschaft notwendig. Im Ideellen muß sie im Abbau von Selbstüberheblichkeit liegen. Notwendig ist aber auch die materielle Hilfe. Es gibt in den USA ein Sprichwort: „Guter Strafvollzug kann auch in einer alten, roten Scheune gemacht werden.“ Wie jedes Sprichwort, so hat auch dieses einen richtigen Kern. Aber es ist eben doch nur ein Kern. Die Möglichkeiten der alten, roten Scheune sind begrenzt. Sie verlangen auf der einen Seite zuviel persönlichen Einsatz und auf der anderen zuviel tolerante Großzügigkeit. Ein Übungsfeld für soziales Verhalten kann dort kaum gefunden werden.
Die HU hat nach früheren Bemühungen auch mit dieser Veranstaltung das Verdienst, wieder auf die Nöte des Strafvollzuges hingewiesen zu haben. Ihr Name ist ein Programm. Ich hoffe nicht überheblich zu sein, wenn ich meine, daß es in gewisser Weise deckungsgleich ist mit dem Programm eines neuen, resozialisierenden, humanen Strafvollzuges. Beide begegneten sich in den Vorstellungen Fritz Bauers, der soviel Herz für den Strafvollzug hatte und Mitbegründer der HU war. Allen dreien geht es um die Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse und um die Herbeiführung menschlich befriedigenden Verhaltens in ihnen. Wie das herbeizuführen sei? Mit den in einem Aufsatz zu diesem Thema angesprochenen Mitteln psychologischer Erhellung und mit einer Strategie praktischer Übung alles dessen, was in diesem Prozeß der Erkenntnis für richtig und notwendig begriffen worden ist. Der Weg zu solchen Zielen ist weit, es bedarf alles noch vieler Kritik und großen Einsatzes. Vielleicht kann aber auch eine Veranstaltung wie diese – und die anschließende kritische Auseinandersetzung – etwas Licht auf den im ganzen noch wenig hellen Weg werfen.