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Verge­wal­ti­gungs­pro­zesse

vorgängevorgänge 9509/1988Seite 11-17

Aus: vorgänge Nr. 95, Heft 5/1988, S. 11-17

I.

Strafprozesse wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung gegen einen Mann können zu den heikelsten richterlichen Aufgaben überhaupt gehören. Die Feststellung des richtigen Sachverhalts bereitet jedenfalls dann die größten Schwierigkeiten, wenn die Tat von dem Angeklagten bestritten wird. Ein Richter wird niemals vergessen dürfen, dass die Unwahrheit sowohl auf der Seite des Mannes, als auch auf der der Frau liegen kann. Gewiss ist auch in anderen Strafprozessen die Ermittlung der Wahrheit oft schwierig; eine wahrheitsgemäße Aussage über sexuelle Vorgänge fällt jedoch den meisten Menschen besonders schwer. Die mit Leidenschaft, aber nicht immer mit Sachkenntnis geführten Erörterungen von Vergewaltigungsprozessen verkennen nicht selten diese Schwierigkeiten der Gerichte. Sie werden in nicht geringem Maße durch die außerordentlich frauenfeindliche Formulierung des § 177 StGB verursacht: »Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zum außerehelichen Beischlaf . .. nötigt . . . « Ein Beischlaf ohne Einverständnis der Frau ist danach nicht strafbar; strafbar ist lediglich das Mittel der Gewalt oder der qualifizierten Drohung.

Diese skandalöse Gesetzesfassung zwingt den Strafrichter dazu, die Frage, ob Gewalt oder Drohung die Mittel des Täters waren, in den Mittelpunkt zu stellen. Die Frage an den Angeklagten, aus welchen Umständen er auf das Einverständnis der Frau geschlossen hat, hält sich nicht an den Gesetzeswortlaut.

Die Wirklichkeit der Vergewaltigungsprozesse hat sich indessen gewandelt. Das behauptete oder bestrittene Einverständnis der Frau ist immer häufiger eine der wichtigsten Fragen dieser Prozesse. Die Richter zeigen sich damit gegenüber unserem heutigen Denken viel aufgeschlossener, als das noch immer nicht von dem Deutschen Bundestag geänderte Gesetz.

Aber letzten Endes sind die Richter an das Gesetz gebunden. Sie können nur verurteilen, wenn sie Gewalt oder Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben feststellen. Deshalb dürfen sich die Richter nicht mit der noch so glaubhaften Erklärung der Frau, nicht einverstanden gewesen zu sein, begnügen, sondern haben zu prüfen, ob der Täter Gewalt ausgeübt oder anders ausgedrückt, ob er einen Widerstand der Frau mit körperlicher Gewalt hat überwinden müssen, ob die Frau sich »genügend« gewehrt hat. Es ist verständlich, dass diese Erörterungen und entsprechende Fragen in der Öffentlichkeit immer wieder auf Kritik stoßen. Indessen zwingt der Gesetzeswortlaut — und nicht ein verständnisloser Richter — die Frau, Gewalt oder Drohung zu »beweisen« und drängt sie nicht selten in eine Rolle, in der sie sich als Angeklagte fühlen muss.

Dies kann sich erst ändern, wenn § 177 StGB dahin neu gefasst wird, dass nicht die Gewalt oder Drohung des Mannes, sondern das fehlende Einverständnis der Frau das entscheidende Kriterium ist. Erst dann nämlich müsste der Mann das Einverständnis der Frau »beweisen«.

Für die Juristen unter meinen Lesern: Ich kenne natürlich die strafprozessualen Beweisregeln. Und dennoch habe ich die Prozesswirklichkeit wohl richtig beschrieben.

Durch die vorgeschlagene Gesetzesänderung würde die Lage der Frau schlagartig verbessert und die des Mannes in einem solchen Prozess entsprechend verschlechtert. Sie würde jedoch die heutige Auffassung von den Beziehungen der Geschlechter zutreffend widerspiegeln, nach der die Frau nicht mehr Objekt der Lust des Mannes ist, dem gegenüber fast jedes Mittel mit Ausnahme der Gewalt erlaubt ist, sondern dass es auf deren Einverständnis ankommt. Frauen sind heute, vielleicht im Gegensatz zu früher, auch so weit emanzipiert, dass sie ihr Einverständnis deutlich zu machen bereit sind.

Der Vorschlag einer Neufassung des § 177 StGB würde Verhaltensweisen unter Strafe stellen, die bisher straffrei waren und würde die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung deutlich erhöhen. Damit müssen wir mit mehr Anklagen und Verurteilungen wegen Vergewaltigung rechnen.

Die noch heute gültige Fassung des § 177 StGB ist keineswegs ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers des vergangenen Jahrhunderts. Sie ist bewusst gewählt — mit Auswirkungen bis in unsere Tage. Ich habe noch nach dem letzten Weltkrieg in Göttingen bei Prof. Welzel gelernt, dass leichte Gewalt den Frauen durchaus willkommen und diese »vis haud ingrata« nicht strafbar sei. Diese Vorstellung ist alt. Ich zitiere aus der »Liebeskunst« von Ovid: »Wenn Du ihr erst einen Kuss gestohlen hast, hast Du keine Schwierigkeiten mehr, den Rest zu bekommen. Man kann seine Kraft gebrauchen. Sie lieben es. Sage Dir immer wieder, dass sie sich nur zum Anschein wehren und in Wirklichkeit glücklich sind, sich hinzugeben. Ein Mädchen, das einem plötzlichen Angriff zum Opfer fällt, betrachtet die Kühnheit des Angreifers als ein Kompliment.«

II.

Nach § 177 StGB ist lediglich der Zwang zum außerehelichen Beischlaf als Vergewaltigung strafbar. Ein erzwungener Geschlechtsverkehr unter Eheleuten ist nur eine Nötigung (§ 240 StGB). Dies ist aus der Sicht des vergangenen Jahrhunderts, als § 177 StGB formuliert wurde, konsequent. Nach damaliger und gelegentlich heute noch zu hörender Auffassung hat die Frau mit der Eheschließung unwiderruflich in Geschlechtsverkehr eingewilligt, so dass bei einer Vergewaltigung zwischen Eheleuten lediglich die Anwendung von Gewalt zu einem »erlaubten« Ziel strafwürdig bleibt und die besondere Strafwürdigkeit der Verbindung von Gewalt und Geschlechtsverkehr entfällt.

Der allgemein akzeptierte Vorschlag, im § 177 StGB den Wortteil »außer-« zu streichen, kann nicht genügen, um sich von den alten Vorstellungen zu trennen. Erst, wenn in allen Fällen, innerhalb wie außerhalb der Ehe, auf das Einverständnis der Frau und nicht auf die Gewalt abgestellt wird, wird die Frau aus ihrer Rolle als Objekt männlicher Lust befreit, zumindest im Gesetzestext.

Es gibt eine Reihe von Gesetzesvorschlägen, die Vergewaltigung zwischen Eheleuten von einem Strafantrag der Frau abhängig zu machen oder ihr jedenfalls ein Widerspruchs-recht einzuräumen. Diese Vorschläge taugen wenig. Sie verankern, wie auch immer sie formuliert werden, eine unterschiedliche Wertung der Vergewaltigung in — und außerhalb der Ehe im Gesetzestext. Sie belasten auch die Ehefrau mit einer kaum zumutbaren Gewissensentscheidung, da dann die Verurteilung ihres Ehemannes von ihrer persönlichen Willensentscheidung abhängig wäre. Überdies hätte die Ehefrau vornehmlich im Zusammenhang mit einem Ehescheidungsverfahren die Gelegenheit, sich den Strafantrag abkaufen zu lassen. Die Strafverfolgung wegen einer Vergewaltigung darf nicht mit materiellen Interessen verquickt werden.

Allerdings kann im Einzelfall — aber eben auch nur im Einzelfall! — bei der Vergewaltigung zwischen Eheleuten ein milderes Strafmaß durchaus am Platz sein. Andererseits kann es bei der Abhängigkeit vieler Ehefrauen von ihren Männern auch durchaus ein höheres Strafmaß im Einzelfall — und wiederum im Einzelfall! — angemessen sein.

Natürlich kann man nicht leugnen, dass trotzdem regelmäßig die Strafverfolgung einer Vergewaltigung zwischen Eheleuten praktisch doch von dem Verhalten der Ehefrau abhängig ist, weil ein solches Verfahren schwerlich ohne entsprechende Angaben der Ehefrau durchgeführt werden kann und ihr auch ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht. Es ist jedoch ein erheblicher Unterschied, ob ein Strafverfahren an nicht zu überwindenden tatsächlichen Schwierigkeiten scheitert oder ob das Recht die Strafverfolgung einschränkt.

III.

Mit welcher Gesetzesfassung auch immer, wird man der Frau ihre Angst vor der Zeugenrolle in einem solchen Prozess nicht abnehmen können. Das Gesetz sollte aber mehr als bisher, versuchen, sie ihr zu erleichtern. Nach dem Prozessrecht und in der Wirklichkeit besteht eine Wahrscheinlichkeit, jedenfalls die Möglichkeit, dass die Richterbank ausschließlich von Männern besetzt ist. Das muss angesichts der Tatsache, dass wir jedenfalls in der jüngeren Richtergeneration viele Richterinnen haben, nicht sein. Freilich wäre es umgekehrt ebenso schlecht, wenn die Richterbank ausschließlich — auch dies ist theoretisch denkbar — von Frauen besetzt wäre. Das Gesetz sollte in den Fällen;“ in denen Sexualdelikte (und nicht nur Vergewaltigungen) verhandelt werden, die Besetzung der Richterbank mit mindestens einem Drittel Frauen und einem Drittel Männern vorschreiben. Etwas Ähnliches haben wir bereits im Jugendstrafrecht. Dort muss von den Schöffen der eine ein Mann, die andere eine Frau sein.

Praktische Erfahrungen zeigen freilich, dass dies am Ergebnis des Gerichtsverfahrens kaum etwas ändern wird. Frauen sollten sich nicht dem Irrglauben hingeben, dass Frauen auf der Richterbank auch nur mit Wahrscheinlichkeit die Partei ihrer Geschlechtsgenossinnen ergreifen; dies wäre auch schlimm! Aber die Befürchtung, geschlechtsbedingte Vorurteile könnten den Richterspruch beeinflussen, wäre ausgeräumt.

Nicht minder wichtig ist, dass der Frau in ihrer Zeugenrolle und in ihrer etwaigen Rolle als Nebenklägerin ein Anwalt / eine Anwältin zur Seite steht. Hier hat das von der jetzigen Regierungskoalition konzipierte Opferschutzgesetz eine Besserung gebracht. Während jedoch beim Angeklagten — allgemein, und nicht nur in diesen Prozessen — die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht von einer Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse abhängig ist, wird der Frau als Nebenklägerin bei dem Antrag auf Beiordnung einer Anwältin, eines Anwalts eine solche Überprüfung anhand von kleinlichen Tabellen zugemutet. Die Folge ist, dass — merkwürdig genug — nur die sehr arme oder die sehr wohlhabende Frau in Begleitung eines Anwalts / einer Anwältin in der Hauptverhandlung erscheinen kann. Hier bedarf es einer Änderung des Opferschutzgesetzes. Wer weiß, wie wichtig vielleicht nicht für das Prozessergebnis, wohl aber für die psychische Sicherheit einer Zeugin und Nebenklägerin in diesen Prozessen der Beistand eines Anwalts / einer Anwältin in diesen Prozessen ist, wird sich für deren uneingeschränkte Beiordnung ohne Überprüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Frauen einsetzen.

IV.

Die Diskussion über das rechte Strafmaß bei Vergewaltigungen ist insbesondere durch einen Streit in der Partei der GRÜNEN in einem heillose Verwirrung geraten. Um eine sachliche Grundlage der Diskussion zu schaffen, sei zunächst an das geltende Recht erinnert. Danach beträgt die Strafe im Regelfall mindestens zwei und höchstens fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe. In »minder schweren Fällen« reicht der Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe.

Genau dies erscheint mir richtig. Gegen die Polemik in der Kritik am gesetzlichen Strafrahmen: Man darf ja wohl noch sagen, dass man ein Gesetz — jedenfalls stellenweise — für richtig hält. Unser Strafgesetzbuch sieht nur bei wenigen Straftaten ein vergleichbares oder ein höheres Strafmaß vor: Für den minder schweren Fall des Totschlags (§ 213 StGB) sieht das Gesetz eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor und selbst bei einem vollendeten Totschlag (§ 212 StGB), der nicht als minderschwer ein-gestuft wird, ist die Höchststrafe die gleiche wie bei einer Vergewaltigung, freilich ist die Mindeststrafe fünf Jahre.

Die Diskussion entzündet sich an zwei Punkten: Der Begriff des »minder schweren Falles« der Vergewaltigung ist zum Reizwort geworden, das man nicht in den Mund nehmen kann, ohne Gefahr zu laufen, diffamiert zu werden. Und dennoch bleibe ich dabei: Es kann überhaupt nicht bestritten werden, dass das Strafgesetzbuch einen Straftatbestand nur allgemein beschreiben kann und dass die vom gesetzlichen Tatbestand beschriebenen Fälle ein unterschiedliches Gewicht haben. Wer dies leugnet, müsste konsequenterweise ein für jeden Fall gleiches, absolutes Strafmaß fordern. So weit geht, wenn ich recht sehe, niemand. Folglich kann ich die unterschiedliche Schwere von Vergewaltigungen im Einzelfall als unstreitig bezeichnen. Was ist dann dagegen einzuwenden, dass das Gesetz den Richter anweist, für den Durchschnittsfall und alle Fälle, die unter und über diesem gedachten Durchschnitt liegen, die Strafe einem bestimmten Strafrahmen und nur in den Fällen, die deutlich unter dem gedachten Durchschnitt (»minder schwerer Fall«) liegen, einem anderen Strafrahmen zu entnehmen? Dies ist eine bei vielen Straftatbeständen geläufige gesetzgeberische Technik.

Wer hier Kritik anbringen will, müsste darlegen, dass Gerichte von einem »minder schweren Fall« auch in Fällen ausgehen, die nicht deutlich unter dem gedachten Durchschnitt liegen. Bisher fehlt auch nur der Versuch einer Beweisführung in dieser Richtung.

Die Diskussion über den »minder schweren Fall« hat jedoch dazu geführt, dass die Bundestagsfraktion der GRÜNEN nicht mehr gewagt hat, diesen Begriff in ihren Gesetzesentwurf aufzunehmen, sondern allgemein eine Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe vorschlägt. Dies war eine Sünde gegen die intellektuelle Redlichkeit. Sie würde, wenn der Entwurf Gesetz würde, dazu führen, dass nicht nur in minder schweren, sondern auch in Durchschnittsfällen die Mindeststrafe ein Jahr Freiheitsstrafe wäre. An dieser Fehlleistung zeigt sich, dass es sich nicht lohnt, Stimmungen nachzugeben.

Wenn die KritikerInnen sich Verdienste um eine Verbesserung des Gesetzes an dieser Stelle erwerben wollen, könnten sie vorschlagen, es nicht nur bei dem allgemeinen Begriff des »minder schweren Falles« zu belassen, sondern die Fälle im einzelnen im Gesetzestext zu beschreiben, in denen die Gerichte von einem minder schweren Fall ausgehen dürfen. Auf der anderen Seite wäre es auch denkbar, besonders schwere Fälle zu beschreiben, in denen die Mindeststrafe höher als zwei Jahre Freiheitsstrafe sein sollte. Bisher kennen wir dies (§ 177 Abs. III StGB) nur für den Fall, dass der Täter leichtfertig den Tod des Opfers verursacht (fünf bis fünf-zehn Jahre Freiheitsstrafe). Solche genau benannten Strafmildernd und Strafschärfungsgründe kennen wir an vielen Gesetzesstellen.

Die Kritik entzündet sich nicht nur an dem Begriff des »minder schweren Falles«, sondern auch an dem Mindeststrafmaß des § 177 StGB. Die Fixierung auf das Mindeststrafmaß mutet eigentümlich an, weil sie unausgesprochen davon ausgeht, die Gerichte hätten sich am Mindeststrafmaß zu orientieren. Die Strafe ist jedoch aus der ganzen Breite des Strafrahmens, hier von zwei bis zu fünf-zehn Jahren bzw. sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu nehmen. Es wäre deshalb theoretisch denkbar, dass ein Gericht auch in einem minder schweren Fall auf eine Strafe von fünf Jahren erkennt. Allerdings ist zuzugeben, dass die Gerichte sich allgemein und nicht nur bei Vergewaltigungen eher am Mindest- als am Höchststrafmaß orientieren. Ich begrüße dies im Sinne einer Humanisierung des Strafrechts. Ein Urteil, das genau auf das Mindeststrafmaß erkennt, wird jedoch dem Gesetz in der Regel nicht gerecht. Die KritikerInnen fordern ausnahmslos — also auch ohne die Möglichkeit, minder schwere Fälle zu berücksichtigen — eine Mindeststrafe von zwei Jahren Freiheitsstrafe. Dahinter steht offensichtlich die Überlegung, Strafaussetzung zur Bewährung bei Verurteilung wegen einer Vergewaltigung zu verhindern. Die KritikerInnen haben jedoch nicht genau genug im Gesetz gelesen. Nach § 56 Abs. II StGB ist eine Strafaussetzung zur Bewährung bei einer Freiheitsstrafe möglich, »die zwei Jahre nicht übersteigt«. Will ein Gericht also Strafaussetzung zur Bewährung zubilligen, kann und wird es genau auf die Mindeststrafe von zwei Jahren erkennen.

Die Diskussion über die Mindeststrafe könnte gelassener geführt werden, wenn die KritikerInnen nicht ein Strafrechtsverständnis erkennen ließen, das auch in konservativen Kreisen, politisch gesprochen, auch im Umkreis der CDU/CSU nicht mehr offen geäußert wird. Nur noch Personen, die, die Zeit vor einhundert Jahren zurücksehnen, pflegen dieses Strafrechtsverständnis. Wir nennen sie gemeinhin die Reaktionäre.

Es ist umgekehrt zu beobachten, dass Personen, die dem betont konservativen Spektrum zuzuordnen sind, bei der Vergewaltigung plötzlich ihre rechtsstaatlichen Neigungen und ihr soziales Verständnis entdecken. Man fühlt sich daran erinnert, dass derselbe Personenkreis bei der Aufklärung von NS-Greueltaten das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und den Datenschutz hochhält, von denen er bei den sogenannten Sicherheitsgesetzen nichts wissen will.

Archaische Gesellschaften sehen in dem, dem Straftäter zugefügten Strafübel einen Ausgleich seiner Schuld. Deshalb auch der vielfach zu beobachtende Brauch, das Glied, mit dem der Täter gefehlt hat — etwa die Hand beim Dieb — zu amputieren. Zum Teil war diese Vorstellung auch religiös gefärbt durch die Vorstellung, der Täter oder die Gesellschaft werde durch die Strafe wieder mit Gott versöhnt. Die noch heute gebräuchliche Bezeichnung der Strafe als »Sühne« erinnert an diese Versöhnungsvorstellungen. In einigen islamischen Gesellschaften können wir diese Vorstellung und ihre Praxis noch heute feststellen.

Etwa seit dem 17. Jahrhundert beobachten wir mit der Aufklärung eine neue Auffassung von der Funktion der Strafe. Seit dieser Zeit und verstärkt seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts sieht man in der Strafe ein gesellschaftssteuerndes Instrument und fragt in zweifacher Richtung: Wie können durch Strafen Straftaten allgemein verhindert und der individuelle Täter »gebessert« werden. In diesem Jahrhundert ist die Frage nach den Einwirkungsmöglichkeiten auf den individuellen Täter immer mehr in den Vordergrund getreten. Aus dieser Entwicklung ist auch das stetig verstärkte Bemühen, die individuelle Schuld eines Täters zu erforschen, abzuleiten. Die Justiz der Bundesrepublik Deutschland kann mit Stolz darauf verweisen, hier in der Welt eine Spitzenstellung einzunehmen. Wer hinter diesen Standard zurück will, muss es sich gefallen lassen, als eine rückwärts gewandte Person, als ein Reaktionär bezeichnet zu werden, mag er diese Bezeichnung für sich noch so sehr ablehnen.

Ich freue mich, mich hier offensichtlich in Übereinstimmung mit weiten Teilen der Frauenbewegung zu befinden, die, die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs (»Streichung des § 218«) gerade mit der Begründung fordert, strafrechtliche Sanktionen seien hier ungeeignet, gesellschaftliche Verhältnisse zu ändern.

Es gibt nur sehr wenige Straftaten, bei denen die soziale Wirklichkeit, die sich unter dem gesetzlichen Straftatbestand verbirgt, so vielfältig ist, wie gerade bei Vergewaltigungen. Dies ist auch erklärlich, weil Vergewaltigungen, bei denen Täter und Opfer sich vor der Tat nicht kannten, in der Minderzahl sind und bei der Mehrzahl der Fälle, in denen enge oder weitläufige Beziehungen bestanden hatten, die Tat vor dem Hintergrund der Komplexität menschlicher Beziehungen zu beurteilen ist. Das Erscheinungsbild der Täter ist außerordentlich vielfältig bis hin zu solchen mit psychischen Auffälligkeiten. Die Schwere der Gewalt ist recht unterschiedlich. Es gibt Vergewaltigungen mit und ohne körperliche Schäden. Das Schwergewicht liegt immer bei dem seelischen Schaden. Dessen Ausmaß hängt auch von der Person des Opfers ab.

Diese Vielfalt führt zwangsläufig zu einem sehr unterschiedlichen Strafmaß, dessen Berechtigung nur derjenige beurteilen kann, der alle Verästelungen des Einzelfalles kennt; sie werden oft von einer grobrastrigen Medienberichterstattung nicht erfasst. Man sollte auch als gegeben hinnehmen, dass Richter und Richterinnen keine Automaten sind, sondern dass gerade die Entscheidung zum Strafmaß eine hohe individuelle Leistung ist, die unausweichlich auch von persönlichen Einstellungen und Erfahrungen geprägt ist. Wer kann es wagen, ein »mildes« oder ein »hartes« Urteil als richtig zu bezeichnen ohne seinerseits sich an seiner persönlichen Einstellung und Erfahrung zu orientieren. Einen gewissen Ausgleich kann hier, freilich nur in engen Grenzen, die von mir vorgeschlagene Besetzung der Richterbank mit Männern und Frauen bringen.

Auf keinen Fall aber dürfen wir bei dieser Straftat anders als bei allen anderen Straftaten die Täter unter ein Ausnahmerecht stellen und den Gedanken der Humanität des Strafens beiseite schieben. Die Humanität des Strafens ist ein Kulturgut, das unter unendlich viel Tränen errungen ist und an dem sich jede Gesellschaft messen lassen muss. Ein Strafrecht, das nicht die Person des Täters in den Mittelpunkt der Strafzumessung stellt, wäre eine Barbarei, die dem Verbrechen einer Vergewaltigung kaum nachsteht. Um nicht missverstanden zu werden: Ich plädiere keineswegs bei Vergewaltigungen für ein mildes Strafmaß, wohl aber für ein Strafmaß, das dem Einzelfall und dem Täter gerecht zu werden versucht und deshalb in einem Fall hart, im anderen aber auch milde sein kann. Und eben diese Möglichkeit eröffnet das geltende Recht.

V.

Das allgemeine Bewusstsein ist bei uns in erstaunlichem Maße von den Medien geprägt. Die Themen in den Medien sind auch die Themen in den Köpfen der Menschen. Die Medien aber sind in hohem Maße auf »Bonn«, auf Bundesregierung, auf den Deutschen Bundestag und die politischen Parteien ausgerichtet. Sie liefern — und nicht nur zur Sommerzeit — ein Theater, das sich leicht abbilden und kommentieren lässt. So verbreitet sich der Irrglauben der »Bonner«, gesellschaftliche Wirklichkeit mit Gesetzen ändern zu können. Auch die GRÜNEN, die einst mit einem alternativen Anspruch aufgebrochen waren, sind inzwischen in das Bonner Räderwerk geraten.

Noch hat niemand gewagt, zu untersuchen, in welchem Maße richterliches Entscheidungsverhalten durch Gesetze zu beeinflussen ist. Viele Menschen, und natürlich »die oben« an den Hebeln der Gesetzesmaschinerie, wähnen, dass Richter auf Knopfdruck funktionieren. Ich behaupte: ein Irrglaube! Anhänger der »Knopfdrucktheorie« mögen mir Beispiele nennen, in denen es gelungen ist, durch Gesetze das richterliche Entscheidungsverhalten in eine Richtung zu zwingen, die von der Mehrzahl der Richter für falsch gehalten wird. Auch die Zeit des Nationalsozialismus ist (leider) kein verwendbares Beispiel. Es lässt sich leicht nachweisen, dass Richter, die damals durch betont national-sozialistische Urteile aufgefallen sind, eben auch Nazis waren. Nicht wenige aber haben still versucht, zu retten, was zu retten war. Heute aber ist das Bewusstsein gerade der jüngeren Richter und Richterinnen so gestärkt, dass ihnen das eigene Gewissen wichtiger ist, als der Gesetzestext.

Auf unseren Fall bezogen: es ist sinnlos, ein Gesetz zu formulieren, das von den Richtern abgelehnt wird. Die Mehrzahl auch der Strafrichter ist heute von der Notwendigkeit der Einzelfallgerechtigkeit, vielleicht sogar von der Begrenzung des Strafrechts durch die Humanität in einem Maße überzeugt, dass sich inhumane Mindeststrafen nicht durchsetzen lassen, jedenfalls nicht in größerer Zahl. Das Unterschreiten des Mindeststrafmaßes sei den Richtern nicht möglich? Ihr Ahnungslosen! Man ziehe einmal die Entscheidungspraxis bei vorsätzlichen Tötungsdelikten zum Vergleich heran und stelle fest, in wie viel zahlreichen Fällen verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) zu einem milderen Strafmaß geführt hat. Die Begründungen, die dort zur Feststellung verminderter Schuldfähigkeit herangezogen werden, lassen sich unschwer auch auf Sexualdelikte übertragen.

Es hat einer langen geschichtlichen Entwicklung bedurft, bis jedenfalls in Europa die Menschheit zu begreifen beginnt, dass gesellschaftliches Verhalten nur sehr begrenzt durch das Strafrecht gesteuert werden kann. Schon wird der Ruf nach der »Abschaffung des Strafrechts« laut. Das ist zwar zur Zeit noch Illusion, wird vielleicht immer eine Illusion bleiben. Die Begrenzung des Strafrechts aber ist eine Forderung, die ein Gebot der Humanität ist und die immer mehr Anhänger findet. Deshalb ist es ein ermutigendes Zeichen, dass die Humanität auch bei Strafen in den Herzen vieler Strafrichter ein bestimmendes Motiv geworden ist.

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