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Aufklärung durch Widerspruch

vorgängevorgänge 9701/1989Seite 120- 128

Rede anlässlich der Verleihung des Fritz-Bauer-Preises am 5.11.1988

Aus: vorgänge Nr. 97( Heft 1/ 1989), S. 120- 128

Kürzlich hörte ich jemanden über Aufklärungsjournalismus schimpfen. Ich war überrascht. Es wunderte mich, dass dieses Wort abfällig gemeint war. Ist es denn nicht die Aufgabe des Journalisten, aufzuklären, hineinzuleuchten in verborgene Zusammenhänge, auch und gerade in das, was gesellschaftlich Mächtige vor dem Volk verborgen zu halten versuchen? Ist das nicht selbstverständlich? Erwartet das nicht jeder Leser von mir wie von jedem meiner Berufskollegen?
Ich musste einen Moment nachdenken, ehe mir bewusst wurde, dass es in unserem Lande eine Tradition hat, Aufklärung negativ zu bewerten. Eine starke Tradition. Sie hängt damit zusammen, dass in Deutschland noch keine Revolution siegreich war, dass Widerstandsbewegungen, Protestbewegungen gegen Willkür der Obrigkeit in aller Regel in Niederlagen endeten und dass sich aus solcher Erfahrung ein — von manchen Sozialpsychologen und Romanciers als typisch deutsch dargestellten — Untertanenverhalten entwickelte, das noch längst nicht überwunden ist.
Das Wort Aufklärung erinnert an die französischen Aufklärer, an Voltaire, an Diderot, an die Philosophen, Schriftsteller, Journalisten, die das Ende der Bourbonen-Herrschaft, das Ende des Absolutismus herbei schrieben, indem sie die Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zum Leuchten brachten. Sie machten dem Bürger bewusst, dass er zu mehr geboren ist als zum braven Untertanen einer brutalen, ausbeuterischen, verschwenderischen, eitlen und törichten Obrigkeit.
Die Französische Revolution wurde von deutschen Dichtern und Denkern begrüßt, aber die deutschen Fürsten ließen ihre Heere westwärts marschieren. Wie stark die Sympathien im deutschen Volk für die Revolution waren, zeigte sich im Kurfürstentum Mainz, wo die Bürger ihre eigene Republik proklamierten. Ihr Wortführer und Repräsentant war Georg Forster, der berühmte Weltreisende, Gelehrte und Schriftsteller. Ihr Symbol war der Freiheitsbaum. Deutsche Truppen fällten ihn — wie sie es später noch oft taten.
Die deutsche Geschichte der letzten 200 Jahre (ich will hier nicht bis zu den Bauernkriegen zurückgreifen) ist eine Geschichte der Konterrevolution. Der Badische Aufstand wurde ebenso niedergeschlagen wie weitere Erhebungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert bis hin zu den Bestrebungen des Jahres 1848, konstitutionell Bürgerrechte gegenüber Monarchenwillkür zur Geltung zu bringen. 1871 beteiligten sich deutsche Truppen an der Einkesselung der Pariser Commune. 1919 marschierten sie von Preußen her gegen die bayerische Räterepublik, 1923 gegen die Volksfrontregierungen in Sachsen und Thüringen, 1937 gegen die Volksfrontregierung in Spanien. Und wenn es den deutschen Truppen nicht gelang, eine Revolution zu zerschießen und zu zerbomben, dann gelang ihnen doch etwas anderes: dass die Revolution, um die militärische Bedrohung abzuwehren, sich selber militarisierte und ihr ursprünglich heiteres, friedliches, demokratisches Wesen verlor. So konnte aus der Französischen Revolution das imperialistische Regime des Generals Bonaparte entstehen, der sich zum neuen Kaiser auf warf, und später aus der Russischen Revolution das Schreckensregime des Generalissimus Stalin. Entsetzen darüber sollte uns nicht, sollte vor allen keinen Historiker verleiten, Ursache und Wirkung zu verwechseln und Zerrbilder von der Revolution zu malen. Allemal waren es die von deutschen Militärs unterstützen alten Plutokraten, die, um Privilegien und Pfründen zu behalten oder wiederzugewinnen, zu jedem Terror, jedem Massenmorden bereit waren und Revolutionäre wie Robbespierre, Lenin und Trotzki zu Gegenmaßnahmen zwangen. Sieben Achtel des russischen Territoriums waren während des Interventionskrieges von deutschen und anderen ausländischen Truppen besetzt. Die Revolutionsheere schlugen die Okkupanten aus Russland zurück wie einst aus Frankreich, die Angst aber – vor allem vor Deutschland – blieb. Begründete Angst. Verhängnisvolle Folgen hatte der Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Auf diesen Januartag vor 70 Jahren in Berlin, knapp drei Wochen nachdem beide die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet hatten, datiere ich den Beginn der finstersten Konterrevolution unseres Jahrhunderts, die bald darauf in Italien den Namen Faschismus erhielt. Später wurde dann sogar Sir Henry Deterding, der groß mächtige Chef von Royal Dutch Shell, Deutscher; er ließ sich nahe Berlin nieder und unterstützte Hitler, der ihm die aserbaidschanischen Ölquellen zurückerobern sollte.
Die Revolution braucht informierte, aufgeklärte Bürger. Die Konterrevolution braucht uninformierte, uniformierte Marschierer. Den deutschen Aufklärern war im eigenen Land wenig Breitenwirkung vergönnt. Die Konterrevolution hielt es stets mit dem Mystizismus. Die großen deutschen Zeitgenossen und Freunde der Französischen Revolution – Klopstock, Wieland, Schiller, Seume, Forster, Knigge, Rebmann, Voß, Bürger – wurden in den Geschichts- und Literaturgeschichtsbüchern verbogen, verharmlost, verleugnet, verschwiegen. Ihre geistigen Nachfahren Büchner, Börne, Heine, Marx, Engels mussten emigrieren, hundert Jahre später Einstein und Brecht. Nachdem die Nazis die Bücher der zeitgenössischen deutschen Aufklärer gleich 1933 verbrannt hatten, verbrannten sie zuletzt auch Menschen.
Der Mann, der sich über Aufklärungsjournalismus erregte, ein Rechtsanwalt, bezog sich auf Presseberichte über geheime Staatsaktionen in Niedersachsen. Er meinte, dass es ungehörig sei, wenn Journalisten etwas aufdecken, was der Staat geheim halten will. Offenbar gibt es hierzulande noch immer ein Staatsverständnis, wonach die Obrigkeit am besten weiß, was dem Bürger zukommt. Dieses Staatsverständnis ist stark genug, dass zum Beispiel der bisherige niedersächsische Innenminister Wilfried Hasselmann, ohne in seiner Partei und seiner Regierung anzuecken, öffentlich den Anspruch zu erheben wagte, seine Geheimdienstbeamten dürften Straftaten begehen. Ein solches vor revolutionäres Staatsverständnis fühlt sich beleidigt, wenn ein Journalist einem Minister ohne Bückling entgegen tritt, unverblümte Fragen stellt oder gar Vorhaltungen macht.
Die Freiheit der Presse- also die Freiheit, die Wahrheit zu schreiben und zu veröffentlichen – war vor 200 Jahren, als in Frankreich der Kapitalismus dem Feudalismus die politische Herrscherrolle entriss, Hauptpunkt im Programm der damaligen Revolutionäre. Die Presse wurde benötigt für die Ausbreitung der Erkenntnis, dass das alte System keine Daseinsberechtigung mehr hatte. Im Kampf zwischen dem Alten und dem Neuen versuchte der sich allmächtig dünkende Staat, die aufklärerische Presse zu unterdrücken: Zeitungen wurden verboten, Publizisten korrumpiert oder, wenn sie nicht korrumpierbar waren, eingekerkert; der Presse wurde die Aufgabe gestellt, gegen die Republikaner zu hetzen. Aber der Terror provozierte nur eine noch stärkere Solidarisierung der Republikaner. Die Forderung nach Pressefreiheit, in dieser Situation erhoben, war eine revolutionäre Forderung: Das revolutionäre Bürgertum verlangte für die von ihm geschaffene Presse die Freiheit, seinen revolutionären Interessen zu dienen, anstatt als Machtinstrument der Reaktion missbraucht zu werden. Die Wahrheit, für deren Verkündung die Presse frei werden musste, war nicht ein Sammelsurium X-beliebiger Wahrheiten (Hofnachrichten, Greuelgeschichten), sondern die Wahrheit von der Notwendigkeit der bürgerlichen Revolution.
Die Bedingungen, unter denen damals Zeitungen hergestellt wurden, waren andere als heute: Format, Umfang und Auflage der Zeitungen waren unvergleichlich kleiner; mancher Journalist setzte und druckte noch selbst, was er veröffentlichen wollte; der Journalismus war ein Kleingewerbe ähnlich dem des Bäckers, Schneiders oder Schuhmachers. Auch noch Mitte des vorigen Jahrhunderts, als Karl Marx schrieb, „die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein”, waren nur wenige Journalisten zu dieser Einsicht fähig. Pressefreiheit und Pressegewerbefreiheit, d.h. Freiheit des Produzierens und Verkaufens von Zeitungen ohne Behinderung durch den Staat, erschienen noch als ein und dasselbe. Nachdem man sich die Gewerbefreiheit erkämpft hatte, war man stolz darauf, sie zu besitzen. Damit hielt man das Problem der Pressefreiheit für gelöst.
Immer mehr Menschen lernten lesen – eine notwendige Folge der Industrialisierung und Verstädterung. Die Auflagen der Zeitungen wuchsen. Zeitungsbetriebe entwickelten sich zu Fabriken, Journalisten zu Lohnabhängigen, insofern den Setzern und Druckern gleich. Die Gesetze der Konzentration und Zentralisation des Kapitals setzten sich in der Presse wie in allen Wirtschaftsbereichen durch. Pressekonzerne entstanden – in Deutschland z. B. der Hugenberg-Konzern, dessen Blätter am Ende der Weimarer Zeit publizistische Vorarbeit für den Hitler-Faschismus leisteten. Die Presse, von vielen tausenden Lohnabhängigen an Schreib-, Setz- und Druckmaschinen geschaffen, wurde im Besitz von Großverlegern zum Machtinstrument gegen die sozialen und politischen Interessen der lohnabhängigen Massen, zum Instrument der Manipulation, der Irreführung, der Verhetzung.
Hans-Magnus Enzensberger sprach einmal von der Bewusstseinsindustrie als der „Schlüsselindustrie des 20. Jahrhunderts.” Das werde, erklärte er, zum Beispiel bei einem Staatsstreich sichtbar: Das neue Regime bemächtige sich dann nicht mehr zuerst der Straße und der schwer industriellen Zentren, sondern der Sender, Druckereien, Fernmeldeämter. „Wer Herr und wer Knecht ist, das entscheidet sich nicht nur daran, wer über Kapital, Fabriken und Waffen, sondern auch, je länger je deutlicher, daran, wer über das Bewusstsein der anderen verfügen kann … Gepfändet wird nicht mehr bloß Arbeitskraft, sondern die Fähigkeit, zu urteilen und sich zu entscheiden. Abgeschafft wird nicht Ausbeutung, sondern deren Bewusstsein” (Hans Magnus Enzensberger: „Einzelheiten”, Frankfurt a. M. 1962). Ich stimme dem zu. Macht- und Besitzverhältnisse hängen davon ab, ob es der Bewusstseinsindustrie gelingt oder nicht, die Massen brav und bei Laune zu halten.
Dazu passt eine Nachricht, die kürzlich zu lesen war: Die Vorstandsvorsitzenden der bundesdeutschen Automobil- und der Bankkonzerne bezögen ein Jahresgehalt zwischen einer und zwei Millionen Mark, der Vorstandsvorsitzende des Bertelsmannkonzerns dagegen drei Millionen Mark, und höchst bezahlter Angestellter in der Bundesrepublik sei mit 5,3 Millionen Mark der Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns („Neue Presse“, Hannover 20.9.88). Wenn die Bewusstseinsindustrie die Schlüsselindustrie ist, dann müssen Spitzenmanager hier mehr verdienen als irgendwo anders.
Firmen, Verbände, Parteien, Ministerien sorgen sich heute um nichts so sehr wie um ihr „Image”, das Bild, das in der Öffentlichkeit von ihnen entsteht. Pressestellen werden immer größer. Ihre Leiter, früher kleine oder mittlere Angestellte, sind jetzt in unmittelbarer Nähe des Chefs oder Ministers angesiedelt.
Über Bundeskanzler Helmut Kohl erfuhren wir unlängst, er trage, nachdem ein alter Augenfehler korrigiert sei, dennoch eine Brille, weil Demoskopen ermittelt hätten, dass er damit bei der großen Mehrheit des Fernsehpublikums einen günstigeren Eindruck mache.

Dies vergleichsweise harmlose Beispiel zeigt m. E. nicht so sehr die Macht der Medien über den Kanzler, der etwa vom Volke gezwungen würde, eine Brille zu tragen, die er nicht braucht, als vielmehr die Macht über das fernsehende Volk, das nicht ahnt, dass es mit Bildern wirksamer getäuscht werden kann als mit Worten.
Die Menschen verbringen immer mehr Zeit mit den Medien. Wer inzwischen verkabelt ist, so stellte kürzlich das INFAS-Institut fest, nimmt sich 16 Minuten weniger Zeit zum Essen, kümmert sich 15 Minuten weniger um häusliche Pflichten und geht 10 Minuten später ins Bett als das übrige Fernsehpublikum. Elektronische Vernetzung ermöglicht immer mehr Menschen auf allen Kontinenten zu erfahren, was in Washington, New York, Genf oder Moskau, in Beirut, Tel Aviv oder Johannesburg geschieht. Jeder von uns kennt inzwischen genau das Mobiliar im Ovel Office des Weißen Hauses. Auch an den Problemen von drei Grauwalen im Eismeer können wir unmittelbar teilnehmen. Was dort gesagt oder getan wird – wir können es im Originalton und in Originalfarbe am selben Tag, in der selben Stunde, in der selben Minute miterleben. Es gibt wohl kaum etwas, was die moderne Medientechnik nicht fertig brächte.
Aber sind die Botschaften, die uns da vermittelt werden, auf gleich hohem Niveau wie die Technik? Sind wir dank der Massenmedien heute wohl informierte, aufgeklärte Menschen?
Wir wissen, welches Kostüm Nancy Reagan gestern Nachmittag getragen hat; aber was wissen wir eigentlich sonst noch über die USA? Wir kennen das Weiße Haus nicht nur von vorn, sondern auch von hinten, vom Garten her, wo der Präsident bei gutem Wetter vor Kameras und Mikrophone tritt. Aber haben wir eine Vorstellung, wie die Menschen in Pittsburg und Detroit leben? Oder genügt uns die Vorstellung, dass sie ebenfalls vor dem Bildschirm sitzen und den Grauwal-Kampf im Eismeer verfolgen oder über die Farbe der Schleife an Nancys Bluse debattieren?
Nirgendwo in der Welt wird mehr fern gesehen als in den USA. Aber wie Gallup jüngst ermittelte, sind die US-Amerikaner im Vergleich zu den Bürgern vieler anderer Staaten am schlechtesten informiert. Wenn wir täglich vier statt drei Stunden vor dem Bildschirm sitzen, werden wir deswegen nicht unbedingt klüger – eher dümmer.
Ich spotte nicht über Mitleid für die drei Grauwale (die das amerikanische Präsidentenpaar vor laufenden Fernsehkameras in seine Gebete einschloß – bis Michail Gorbatschow sie erhörte und mit seinen starken Eisbrechern die gefangenen Tiere befreien ließ). Ich wünsche mir, dass wir uns um jegliches Lebewesen in der Welt sorgen. Aber wie viel Anteilnahme erweisen wir den Meerestieren vor den Küsten des eigenen Landes? Ein großer Teil der Tierarten, die früher in der Nordsee lebten, ist in den letzten Jahren ausgestorben – unbeweint. Wenn für jede Tier- und Pflanzenart, die in unserem Lande ausstirbt, eine Todesanzeige aufgegeben würde, wären täglich ganze Zeitungsseiten voll solcher Anzeigen. Wir nehmen das Massensterben nur nicht wahr. Müssten wir vielleicht ganz andere Kommunikationsformen entwickeln?
Das Fernsehen lässt uns an den Leiden der blonden Krystle aus „Denver” teilnehmen, aber es zeigt nichts vom Leiden der Familie, die zwei Häuser neben uns wohnt. Der Vater ist arbeitslos geworden und hat, weil er keine Anerkennung, keine Selbstbestätigung mehr findet, zu trinken begonnen. Nehmen wir wahr, welche Zerstörung das in den Kindern anrichtet? Ahnen wir es? Interessieren wir uns dafür?
Wesentlicher Inhalt heutiger Massenkommunikation ist die Produktwerbung. Die Medien sind dadurch in Abhängigkeit von den Herstellerfirmen der Waren geraten; sie konkurrieren um deren Werbeetats; sie versprechen den Auftraggebern ein möglichst günstiges Umfeld für die Reklame. Der redaktionelle Teil soll so beschaffen sein, dass möglichst viele Menschen lesen, hören, sehen und dass sie die Werbung möglichst unkritisch aufnehmen. Als der Westdeutsche Rundfunk einmal kritisch über Bayer berichtete, den größten Chemie-Konzern im Sendegebiet, kündigte das Unternehmen alle Werbespots im WDR. Hinweise auf die Vergiftung von Luft und Wasser, Tieren, Pflanzen und Menschen sind kein günstiges Umfeld für Chemikalien-Reklame. Und welcher Seifen- oder Getränke- oder Autohersteller wäre schon einverstanden, wenn seine Reklame von Berichten über den Terror südafrikanischer Söldner in Mosambique oder Angola begleitet wäre?
Nachdem das Nazi-Regime nieder gerungen war, gab es gute Gründe für die Entscheidung, dass der Rundfunk weder dem Staat noch dem Kapital gehören, sondern unabhängig sein sollte und dass über seine Unabhängigkeit die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam wachen sollten. Nachdem aber Politiker von CDU, SPD und FDP in den vergangen Jahren diesen Grundsatz aufgegeben und den Verlagskonzernen erlaubt haben, ebenfalls Rundfunk zu veranstalten, hat ein Verdrängungswettbewerb begonnen, auf den sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk in der Weise einlässt, dass er seine Redakteure zum Beispiel anweist, ins Hörfunkprogramm möglichst keine Wortbeiträge mehr aufzunehmen, die länger als drei Minuten sind, und die Musik möglichst selten durch solche Beiträge zu unterbrechen. Selbst Nachrichtensendungen werden entpolitisiert; ein Sexualmord oder die Wahl einer Schönheitskönigin verdrängen dort andere Themen.
Diese Art Massenkommunikation kann einer selbstgefälligen, kritikscheuen Obrigkeit nur recht sein, und sie gewöhnt sich gern daran. Wenn das Fernsehen am Abend nach dem Rücktritt eines niedersächsischen Innenministers ausgerechnet dessen Staatssekretär den Zurückgetretenen porträtieren lässt, muss die Obrigkeit zufrieden sein – und sie ist es auch. Schon die bloße Tatsache aber, dass Rudolf Augstein in dem kurzen abendlichen Fernsehmagazin, das der Verlag des „Spiegel” produziert, zum Tod von Franz Josef Strauß sprach, empörte die bayerische CSU (FR 19.10.88). Minister Stoiber rief nach Änderung des Rundfunkstaatsvertrags. Die „Gesamtausgewogenheit” des Programms sei in Frage gestellt, befand der frühere Medienreferent der bayerischen Staatskanzlei und jetzige Geschäftsführer der bayerischen Landesmedienzentrale. 20 Minuten Liberalismus in der Woche im Programm von SAT .1 und RTL plus sind für dieses Verständnis von Ausgewogenheit offenbar schon 20 Minuten zu viel. Ausgewogen ist das Programm, wenn es von Liberalismus frei ist. Der Aufsichtsratsvorsitzende von SAT .1 drohte dem „einseitigen Spiegel-TV” die „Sendung zu kippen, wenn die Anforderungen an die Meinungsvielfalt nicht eingehalten werden”. Einseitig nannte er das Magazin, weil in diesen 20 Minuten eine Seite zu Wort kommt, die im übrigen Programm fehlt. Unter den Anforderungen an die Meinungsvielfalt ist zu verstehen, dass sie sich auf Meinungseinfalt zu reduzieren hat.
In dieselbe Richtung zielte der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Hans Klein, als er nach den Sitzungen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds in Berlin die Medien schalt, sie hätten mit einem Massenaufgebot völlig überproportional über die Gegendemonstrationen berichtet. Er empörte sich über „detaillierte Demonstrationsberichterstattung”, die „teilweise von Einseitigkeit gekennzeichnet” gewesen sei. (FR 15.10.88). Zuvor waren Polizisten schon auf ihre Weise gegen solche „detaillierte Demonstrationsberichterstattung” eingeschritten: Journalisten wurden behindert, abgedrängt, tätlich angegriffen. Die sich da über Einseitigkeit beschweren, sind dieselben, deren Partei inzwischen in fast allen Rundfunksendern den Intendanten stellt und in fast allen regionalen Monopolzeitungen den Chefredakteur.
Wenn aber der „Spiegel” völlig zutreffend berichtet, dass ein Minister vor einem Untersuchungsausschuss des Parlaments in mehreren Punkten die Unwahrheit gesagt hat, dann zetern führende Politiker dieser Partei über die „linke Kampfpresse”. Der niedersächsische Ministerpräsident entrüstet sich über eine „gigantische Kampagne” und über „skrupellose Methoden”, deren unschuldiges Opfer sein Minister Hasselmann geworden sei (so dass man sich nur fragen muss, warum er ihn dann hat gehen lassen und dem Rücktritt ausdrücklich zugestimmt hat). Wer führt da eine Kampagne gegen wen?
Auch über den „Stern” und den niedersächsischen Verleger rundfunk ffn sagte Albrecht, sie seien „linke Kampfpresse”. Was heißt da links? Links im Sinne von sozialistisch, von engagiert für die Arbeiterbewegung ist der „Stern”, die umsatzstarke Illustrierte aus dem Bertelsmann-Konzern sicher nie gewesen und wird auch ffn nie werden können. Eine linke Presse ist in der Bundesrepublik kaum auffindbar.
Was dieser Ministerpräsident dem „Spiegel” verübelt, ist die Veröffentlichung zutreffender Nachrichten. Andererseits hat es Versuche gegeben, die Medien zur Veröffentlichung unzutreffender Behauptungen zu veranlassen, also zur Irreführung der Öffentlichkeit. Bekanntestes Beispiel ist das „Celler Loch”, wo Albrecht seinen damaligen Justizminister eine Pressekonferenz abhalten und sich über linke Terroristen empören ließ, die wieder einmal zugeschlagen hätten; der Minister wusste zu diesem Zeitpunkt ebenso gut wie der Ministerpräsident, dass nicht linke Terroristen, sondern der eigene Geheimdienst gebombt hatte.
Wie schützt sich ein Journalist davor, zur Irreführung der Öffentlichkeit missbraucht zu werden? Ich sehe nur eine Möglichkeit: Denen, die sich in der Vergangenheit unglaubwürdig gemacht haben, künftig nicht mehr zu glauben und stattdessen – zumindest erst einmal probeweise – das Gegenteil anzunehmen. Das scheint mir überhaupt eine empfehlenswerte Methode der Wahrheitsfindung zu sein: Aufklärung durch Widerspruch.
Wenn jemand der herrschenden Meinung widerspricht, erschrickt der brave Untertan. Am traditionellen Sonntagmittagstisch war Widerspruch gar nicht erlaubt. Und ich verstehe das auch, denn es ist ja nicht zu leugnen: Widerspruch kann wehtun.
Die Ehe, dieser institutionalisierte Widerspruch, kann eine permanente Qual für beide Teile sein – nur zu ertragen, wenn wir den Widerspruch als Prinzip des Lebens akzeptieren. Dann können wir uns sogar daran erfreuen, ihn reizvoll finden und ihn spielerisch kultivieren.
Widerspruch von Kindern kann die Eltern so verletzen, dass sie mit der Faust auf den Tisch schlagen oder mit dem Kochlöffel werfen. Aber wenn wir Kindern jeden Widerspruchsgeist austreiben, machen wir sie unfähig, ein eigenes Leben zu führen. Widerspruchslose, stramm antretende, geistig uniformierte Kinder sind für den Tod bestimmt, nicht fürs Leben. Im Widerspruch reift Erkenntnis und wächst Selbstbewusstsein. Durch Widerspruch klärt sich, was echt und unecht ist, brauchbar oder unbrauchbar. Widerspruch ist nötig, weil die Umstände, in denen wir leben, selber widersprüchlich sind und weil wir uns täuschen, wenn wir nur das für wahr halten, was gemeinhin für wahr gehalten wird. Der Kaiser ist vielleicht ganz nackt, während jedermann des Kaisers neue Kleider rühmt – nicht nur im Märchen.
Als Kind habe ich erlebt, wie wenig Verlass auf das ist, was tausendjährige Geltung für sich beanspruchte. Da wurden 1945 aus Helden plötzlich Verbrecher, und als Helden erwiesen sich Menschen, die zuvor als Verbrecher, als „Untermenschen” ausgegeben und behandelt worden waren.
Dass Verwandte, Bekannte, Lehrer, Nachrichtensprecher und Rundfunk-Kommentatoren die totale Unwahrheit gesagt hatten, war eine schmerzliche Erkenntnis. Noch schmerzlicher aber waren neue Widersprüche, die bald auftraten. Kaum hatte ich Überlebende aus Widerstand und Verfolgung achten gelernt, erlebte ich, wie alte Nazis zu neuen Ehren kamen und hohe und höchste Positionen in Staat und Gesellschaft einnehmen durften. Ich hörte erwachsene Menschen behaupten, sie hätten nichts von Nazi Verbrechen gewusst, die selbst mir als behütetem Kind nicht verborgen geblieben waren. Aus Schuldigen wurden „Verstrickte”, die sich gegenseitig so genannte Persil-Scheine ausstellten. Alle Täter wollten als Opfer gelten, die Opfer sollten als Täter erscheinen. Und das funktionierte. Es funktioniert bis heute.
Die konterrevolutionäre Traditionslinie deutscher Geschichte ist 1945 nicht abgerissen. Wie einst sympathisieren zwar viele Bürger unseres Landes mit Befreiungsbewegungen und helfen ihnen – in Nicaragua, in El Salvador, in Südafrika -, aber nach wie vor lässt sich eine ökonomisch, politisch, publizistisch mächtige Propaganda vernehmen, die die Freiheitskämpfer als Terroristen darstellt, die Contras dagegen, die Söldnertruppen und Todesschwadronen, als Freiheitskämpfer. Da zeigen sich viele Widersprüche, die aus Interessengegensätzen erwachsen. Solche Widersprüche bei aufmerksamer Lektüre auch innerhalb der einzelnen Zeitung, wo der Abbau von Arbeitsplätzen im politischen Teil bedauert, im Wirtschaftsteil dagegen als ertragssteigernde Maßnahme gefordert oder gewürdigt wird. Da ist der Widerspruch zwischen Arbeitslosigkeit einerseits und Überlastung der Beschäftigten andererseits. Oder der Widerspruch zwischen privatem Reichtum und öffentlicher Armut. Zwischen angeblich gefährdeter Wettbewerbsfähigkeit der bundesdeutschen Wirtschaft, die dringend auf Opfer der Bevölkerung angewiesen sei, und ihrem in Wahrheit immer größeren Wettbewerbsvorsprung. Widersprüche auch in der Sprache, worin sich gesellschaftliche Interessengegensätze bisweilen überraschend deutlich ausdrücken, zum Beispiel, wenn Journalisten einerseits strikt vermeiden, einen Unternehmer als Boss zu bezeichnen, weil das klassenkämpferisch klingen würde, und wenn sie andererseits einen Gewerkschaftsvorsitzenden Gewerkschaftsboss nennen dürfen, weil Klassenkampf von oben erlaubt und erwünscht ist. Viele weitere Beispiele finden sich in Friedrich Christian Delius‘ Untersuchung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (die keine Reichen und Großverdiener kennt, sondern nur „angebliche Reiche” und „vermeintliche Großverdiener”, und die aus Sozialhilfeempfängern Ausbeuter macht).
Es gilt, die Widersprüche sichtbar zu machen, sie nicht zu verleugnen. Dann erst können politische Vernunft, Verantwortung und Initiative wirksam werden.
Ein Journalismus, der Skandale enthüllt und Minister zum Rücktritt zwingt, reicht nicht aus. So viel Anlass es auch gibt, die Regisseure des politischen Theaters gelegentlich zum Auswechseln einzelner Darsteller zu veranlassen, und so viel Mühe das auch erfordert – aufklärerischer Eifer kann sich damit nicht zufrieden geben. Schon deswegen nicht, weil ein neuer Darsteller an der Inszenierung und erst recht am Stück wenig ändert. Zu ändern wäre vor allem der Zustand, dass das Volk dazu bestimmt bleibt, geduldig auf den Zuschauerbänken auszuharren, was immer ihm auch vorgespielt wird.
Wenn die Medien, damit sich Demokratie entwickeln kann, kritische Öffentlichkeit konstituieren sollen, dann müssen sie auf solche Art informieren, dass Bürgerinnen und Bürger nicht abgeschreckt und entmutigt, sondern zum Mitreden und Mithandeln animiert und befähigt werden. Dass sie Möglichkeiten zum Eingreifen erkennen.
Ein aufklärerischer Journalismus, der sich mit herrschender Meinung, Aberglauben, Vorurteil, Dünkel, Selbstgerechtigkeit auseinander setzt, Widersprüche zwischen Ideologie und gesellschaftlicher Realität zum Vorschein bringt, Tabus verletzt (wie es zum Beispiel der frühere FR-Chefredakteur Karl Gerold tat, als er eines Tages aufhörte, die DDR in Anführungszeichen zu schreiben), wird das Publikum nicht seinerseits dünkelhaft, nicht streng belehrend und schon gar nicht im Kommandoton ansprechen, sondern eher mit Augen zwinkern. Er wird sich der Widersprüchlichkeit, die in jedem von uns steckt, und der Relativität jeder Tatsachenbehauptung bewusst bleiben. Was stimmt denn überhaupt? Der Himmel ist blau, glauben wir zu wissen. Nein teilen uns die Raumfahrer mit, die Erde ist blau. Von der anderen Seite sieht vieles anders aus. Wir sollten uns möglichst alles von beiden Seiten schildern lassen.
Aufklärung durch Widerspruch — wäre das in einer Zeitung möglich, die zum Springer-Konzern gehört? Oder in der FAZ? Ober in der „Celleschen Zeitung” oder einem anderen typischen regionalen Monopolblatt? Oder in einem Sender, der Monopolverlegern gehört? Wenn die Hauptleistung der „Bild” -Zeitung die Entmündigung der Lesermassen ist, können wir schwerlich von ihr erwarten, dass sie zum „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit” (dies, sagte Immanuel Kant, sei die Aufklärung) geleitet.
Aber in jedem Betrieb der Bewusstseinsindustrie arbeiten lebendige Menschen, die imstande sind, irgendwann einmal nein zu sagen. An jedem Journalisten, wo er auch arbeitet, zerren gegensätzliche Interessen, und auch durch den dicksten Panzer von Zynismus spürt er den Widerspruch zwischen seinen gesellschaftlichen Aufgaben und den Möglichkeiten, die sich aus seinen Arbeitsbedingungen ergeben. Enzensberger bemerkte am Ende seines zitierten Aufsatzes: „Alles undialektische Denken hat hier sein Recht verloren, und jeder Rückzug ist ausgeschlossen … Es handelt sich nicht darum, die Bewusstseins-Industrie ohnmächtig zu verwerfen, sondern darum, sich auf ihr gefährliches Spiel einzulassen. Dazu gehören neue Kenntnisse, dazu gehört eine Wachsamkeit, die auf jegliche Form der Pression gefasst ist.”
Der publizistischen Defizite in unserer Gesellschaft werde ich mir immer aufs Neue bewusst, wenn ich – das ist die Hauptbeschäftigung des Zeitungskorrespondenten – täglich 60 bis 100 Drucksachen und Briefe mit Einladungen, Informationen, Hintergrundmaterial durcharbeite. Das meiste, vor allem die wiedergekäute Propaganda, lässt sich schnell aussortieren, aber auch manches Wichtige bleibt liegen. Ich müsste an vielen Stellen zugleich zupacken. Weil ich es nicht kann, drückt mich mein Gewissen, denn ich weiß ja, wie viel publizistischer Beistand gebraucht wird gegenüber Ämtern und Unternehmen.
Die Humanistische Union, der Verband Deutscher Schriftsteller und die Deutsche Journalisten-Union in der IG Druck und Papier haben im Herbst 1970, vor nunmehr 18 Jahren, gemeinsam einen Kongress „Die Tabus der bundesdeutschen Presse” veranstaltet und dort auch die Arbeitsbedingungen der Journalisten, die Produktionsverhältnisse der Medien thematisiert. Am damaligen Befund sind leider kaum Korrekturen zum besseren vorzunehmen – dagegen manche zum Schlechteren. An Vorschlägen für Reformen mangelt es nicht. Zu den vordringlichen Aufgaben gehört, die Journalistenausbildung tarifvertraglich zu regeln, was der Verlegerverband bisher verweigert hat. Die Industriegewerkschaft Medien, die sich im April 1989 konstituieren wird, muss sich dafür stark machen.
Aber wie in der Bundesrepublik Deutschland der Verfassungsauftrag des Artikels 5 („Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten …“) erfüllt wird, geht nicht nur die Beschäftigten in den Presse- und Funkhäusern an. Die Pressefreiheit ist das Grundrecht aller Bürger auf vielfältige und wahrhaftige Information. Für dieses Recht müssen sie sich selber engagieren. Die regionalen Pressemonopole, die in einem Bundesland wie Niedersachsen entstanden sind, werden sich nicht von selbst auflösen. Die Besitzer werden auch nicht freiwillig darauf verzichten, nach ihren Interessen über die Tendenz der Berichterstattung zu entscheiden. Ist das in einem Staat, der ein demokratischer Staat sein will, auf Dauer zu dulden?
Dass es Alternativen gibt, zeigt die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover. Die „Neue Presse” war ökonomisch fast am Ende, als der Anzeigenteil der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung” mit dem ihren vereinigt wurde. Anzeigengeschäft und redaktioneller Wettbewerb wurden voneinander getrennt. Seitdem geht es mit der „Neuen Presse” wieder aufwärts. Was spricht gegen die Idee eines selbständigen Anzeigenteils, der auch neu zu gründenden Zeitungen, zum Beispiel genossenschaftlichen Reaktionsunternehmen gleichermaßen zur Verfügung stünde?
Oder soll die Monopolisierung der Medien weitergehen? Wie lange noch? Der Verlag der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung” in Essen, der sich im Ruhrgebiet eine Zeitung nach der anderen angeeignet hat und inzwischen auch am Fernsehgeschäft beteiligt ist, expandiert nun außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik Deutschland. In Wien verlegt er die „Kronenzeitung” und den „Kurier” und kaufte zuletzt ganz billig – für einen Schilling – den sozialdemokratischen „Vorwärts” -Verlag. Nachdem sich die bundesdeutschen Illustrierten längst auf dem österreichischen Pressemarkt durchgesetzt haben, fehlt nicht mehr viel zum publizistischen Anschluss Österreichs. Und Bertelsmann, der im Zweiten Weltkrieg die kleinen grauen Hefte für die Wehrmachtssoldaten produzierte, ist zum weltweit größten Medienkonzern geworden. Er brauchte nur noch Murdoch zu übernehmen, dann betrüge der Jahresumsatz mehr als 20 Milliarden Mark. Wer in aller Welt wollte sich diesem Sog dann noch entziehen?
Als mich der Vorsitzende der Humanistischen Union, Ulrich Vultejus, vor einigen Monaten anrief und mir mitteilte, dass mir der Fritz-Bauer-Preis zugesprochen worden sei, war meine erste innere Reaktion: Nein, ein Preis steht mir nicht, und dieser Preis steht mir nicht zu. Es gibt andere Menschen, die viel mehr für die Bürgerrechte getan und diesen Preis viel eher verdient haben – zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit den rechts- und verfassungswidrigen Berufsverbotspraktiken in Niedersachsen. Als Ulrich Vultejus mich dann fragte, ob ich bereit sei, den Preis anzunehmen, antwortete ich nach kurzem Bedenken: Ich habe eine sehr hohe Meinung von der HU. Wenn die dort versammelten klugen Männer und Frauen so entschieden haben, muss ich es akzeptieren.
So ist mir nun also ein Preis zuteil geworden, der nach einem Generalstaatsanwalt benannt ist. Ich gestehe, dass ich wenig emotionale Nähe zur Staatsanwaltschaft verspüre, dass ich mich in der Regel eher auf der Seite der Angeklagten und Verteidiger sehe und dass ich bei allen Strafanträgen, die ich in Gerichtssälen von der Pressebank aus höre, innerlich zusammen zucke. Vom Strafrecht halte ich sehr wenig. Ich neige zu dem Vorschlag, es ganz abzuschaffen, unterscheide mich jedenfalls strikt von dem ehemaligen niedersächsischen Justizminister, dessen Grundsatz lautete: Strafe muss Strafe bleiben. Das war, wenn ich mich recht erinnere, der erste von nicht wenigen Ministern, die aus Ernst Albrechts Landesregierung ausschieden oder ausscheiden mussten. Er wurde nach kurzer Amtszeit von seiner schlimmen Nazi Vergangenheit eingeholt und schon in diesem Fall gab es in der Regierungspartei Leute, die auf die geschwätzigen Medien schimpften – als wäre es deren Aufgabe, Tatsachen zu verschweigen, die der Regierung peinlich sind.
Fritz Bauer war nicht der typische Staatsanwalt, wie wir ihn in den realistischen Karikaturen von George Grosz vor uns sehen. In meiner eigenen Erinnerung ist Fritz Bauer der Mann, der den Frankfurter Auschwitz Prozess zustande brachte. Wie mühselig es damals war, über das Nazi-Regime und seine Verbrechen aufzuklären, hatte ich 1960 erfahren, als ich – noch als Student – im Auftrag des hessischen Landesjugendamtes in der Frankfurter Paulskirche die Ausstellung „Nacht fiel über Deutschland” zusammen trug. Der Auschwitz-Prozess – über dessen Vorbereitung ich dann als junger Lokalreporter der FR geschrieben habe – war der wichtigste, wirkungsvollste Beitrag zu dieser Aufklärungsarbeit. Ist es nicht bezeichnend für die so genannte Bewältigung der Vergangenheit, dass ein Verfolgter, der wohl selbst in Auschwitz ermordet worden wäre, hätte er nicht durch Emigration sein Leben retten können, zurückkommen und beträchtliche Mühe aufwenden musste, um diesen Prozess zustande zu bringen?
Und in meiner Erinnerung ist Fritz Bauer auch einer der Männer, die sich aus Sorge um die Bürgerrechte und um die erst zu entwickelnde Demokratie gegen die Notstandsgesetze engagierten. Er kannte die Sprache dieser Gesetze; es war die Sprache jener Nazi-Juristen, die sich mittlerweile im Bundesinnenministerium und in anderen Bonner Amtsstuben eingerichtet hatten. 20 Jahre sind jetzt seit der Verabschiedung der Notstandsgesetze vergangen, die seitdem in den Aktenschränken lauern. Wer erinnert sich an sie? Wir müssen vor ihnen auf der Hut bleiben.
20 Jahre Notstandsgesetze – die HU hat damals kräftig zum Widerstand beigetragen, namentlich Jürgen Seifert, zu dessen Buch „Gefahr im Verzuge” Fritz Bauer das Vorwort schrieb, und Walter Fabian, dessen Bemühungen es im wesentlichen zu verdanken ist, dass bei der Notstandsgesetzgebung die Pressefreiheit nicht so eingeschränkt wurde, wie zunächst geplant war.
50 Jahre trennen uns in diesen Tagen von der Reichspogromnacht, in der der staatliche Terror gegen die Juden begann. Wie wenig diese Vergangenheit geistig aufgearbeitet ist, zeigte sich kürzlich in einem niedersächsischen Stadtrat, der mit den Stimmen der CDU und der SPD einen aus diesem Anlass eingebrachten Antrag der Grünen mit der Begründung ablehnte, „Reichspogromnacht” sei eine unannehmbare Sprachregelung, der er sich nicht zu unterwerfen bereit sei. Die Nacht des 9. November 1938 müsse weiter „Reichskristallnacht” heißen.
70 Jahre -ich erwähnte es – reicht die Blutspur des militanten Antikommunismus zurück; am Jahrestag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg sollten wir uns vielleicht einmal fragen, was wir eigentlich über die Meinung dieser Andersdenkenden wissen.
Sie haben bemerkt, dass mir daran gelegen war, einen vierten Jahrestag in den Blick zu nehmen, der im kommenden Jahr nicht mit Scham, nicht mit Trauer, sondern mit fröhlichen Feiern zu begehen sein wird.
Es ist freilich kein deutscher Jahrestag, sondern der 200. Jahrestag der Französischen Revolution.
Mancher wird seine Schwierigkeiten damit haben. Wenn sich Kanzler Kohl und Präsident Mitterrand umarmen, den gemeinsamen Binnenmarkt vorbereiten und eine gemeinsame Brigade aufstellen, passt dann als Begleitmusik die Marseillaise? Kann sich Kohl mit freuen, wenn die Franzosen an ihrem Nationalfeiertag der Erstürmung der Bastille gedenken? Oder graust es ihm eher bei diesem Gedanken? Ich jedenfalls habe vor, am 14. Juli 1989 mitzufeiern.

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