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Der zweite Geleitzug

Aus: vorgänge Nr. 98, Heft 2/1989, S. 15-18

Seit dem Lambsdorffprozess wissen wir, dass Bonner Vorhaben wie Geleitzüge auf dem Rhein durch die gepflegte Landschaft fahren. So sind auch die sogenannten (Un-)Sicherheitsgesetze auf mehrere Schiffe verladen worden. Diese Aufteilung war eine kluge Entscheidung, denn alle Vorhaben in einem Gesetz zusammengefasst würden den Bürger zu arg erschrecken. Im ersten Geleitzug, gesteuert von Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann, reisen der Zensurparagraph, die Einschränkung des Versammlungsrechts, die Vorbeugehaft und die Kronzeugenregelung. Ein entsprechender Gesetzesentwurf liegt zur Zeit dem Deutschen Bundestag zur Beschlussfassung vor. Mit diesem ist es Zimmermann gelungen, ein breites Bündnis von Gruppen gegen sich aufzubringen (s. vorgänge 97, S. 128, Verbändeerklärung zum Artikelgesetz). Es hat schon einen ersten Erfolg zu verzeichnen: Der Zensurparagraph ist bereits gefallen.

Von diesem sogenannten Artikelgesetz soll hier indessen nicht die Rede sein. Jetzt ist nämlich der Referentenentwurf zur Änderung des Strafprozessrechts aus dem Hause des Bundesjustizministers Engelhard bekannt geworden. Wer will, mag die Liberalität dieses Ministers daran erkennen, dass er langsamer ist, als sein Kollege Zimmermann. Auch wenn Langsamkeit diesem Minister allgemein nachgesagt wird: In diesem Falle könnte sie Berechnung sein, denn es ist nur schwer vorstellbar, dass der Entwurf in der laufenden Legislaturperiode des, Deutschen Bundestages verabschiedet wird.

Der Gesetzesentwurf will die Rasterfahndung legalisieren, nicht allgemein, sondern bei Verdacht bestimmter Straftaten. Es sind dies — vereinfacht dargestellt – Straftaten aus den Bereichen des politischen Strafrechts, des Waffengesetzes, des Betäubungsmittelrechts sowie aus dem allgemeinen Strafrecht die Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen, die Vergewaltigung und andere Sexualdelikte, der schwere Diebstahl und der Raub. Durch einen nur schwer lesbaren Hinweis auf § 129 a StGB kommt jedoch noch eine Fülle weiterer Straftaten hinzu, vom Mord bis zur Beschädigung von Polizei- oder Bundeswehrfahrzeugen.

Zulässig soll der maschinelle Datenabgleich mit Daten von Personen sein, „die bestimmte, nach Lage des konkreten Falles auf den vermutlichen Täter zutreffende oder sonst für die Ermittlungen bedeutsame Prüfungsmerkmale erfüllen”. Da der „vermutliche Täter” nach Lage des konkreten Falles wahrscheinlich entweder ein Mann oder eine Frau ist, können die Daten aller Männer oder Frauen abgeglichen werden.

Niemand sollte jedoch vorzeitig ängstlich werden. Der Datenabgleich erfolgt nämlich nicht in erster Linie, um Verdächtige zu ermitteln, und ist damit ein absolutes Novum im Strafprozessrecht. Es geht darum, „Nichtverdächtige auszuschließen oder solche Personen festzustellen, die weitere für die Ermittlungen bedeutsame Prüfungsmerkmale erfüllen.” Auch wenn man die Unehrlichkeit der Formulierung beiseite schiebt, so wird aus ihr doch deutlich, dass hier Ermittlungen gegen Unverdächtige geplant sind.
Nun mag man darüber unterschiedlich denken. Man kann sich ja eine Regierung vorstellen, die grundsätzlich alle Bürger für verdächtig hält. Über das Menschenbild, das hinter dieser Auffassung steht, und über seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz wäre zu sprechen.

Abgleichbar wären nach diesem Gesetz etwa die Ausleihdaten öffentlicher und privater — aber auch wissenschaftlicher — Bibliotheken, Daten der Finanzämter über Steuerzahler, Daten der Kirchen über ihre Konfirmanden, der politischen Parteien und der Vereine über ihre Mitglieder.

So perfekt das Gesetz im übrigen ist, so darf es jedoch nicht eingesetzt werden in der Wirtschafts- und Steuer- sowie der Umweltkriminalität. Die Wertvorstellungen der Bundesregierung scheinen durcheinander geraten zu sein, wenn ihr die Beschädigung von Polizeiwagen verfolgungsdringlicher erscheint als die Umweltkriminalität.

Wer ein solch maßloses Überwachungsinstrument in die Kriminalistik einführen will, sollte sich jedenfalls der Mühe unterziehen, seine Erfolgsaussichten darzulegen. Hieran fehlt es.

Bedenkliche Ermittlungsmethoden

Es besteht kein Zweifel, dass Strafverfahren ohne eine intensive Ermittlungsarbeit und die Fahndung nach flüchtigen Straftätern nicht denkbar sind und deren Methoden stetig neu überdacht werden müssen. Den Strafverfolgungsbehörden ist Anerkennung zu zollen, weil bei der schweren und mittleren Kriminalität die Aufklärungserfolge nach wie vor hoch sind und die Fahndungserfolge im letzten Jahrzehnt stetig zugenommen haben; man kann fast sagen, die Festnahme eines bekannten Täters sei schon heute nur eine Frage der Zeit. Eine Ausweitung des vorhandenen Instrumentariums erscheint deshalb nicht erforderlich. Lückenhaft ist allerdings weiterhin die Fahndungsmöglichkeit jenseits der Grenzen der BRD; jedoch sagt der Entwurf gerade hierzu nichts. Regelungsbedürftig erscheint mindestens die Frage, in welchen Fällen ausländische Behörden um eine Fahndungshilfe gebeten und ihnen im Zusammenhang hiermit Daten übermittelt werden dürfen. Lediglich auf einigen wenigen Feldern der schweren und mittleren Kriminalität sind die Ermittlungsergebnisse unbefriedigend. Deutliche Schwachpunkte zeigen sich freilich bei der leichten Kriminalität. Die Ursache ist, wie vergleichsweise die Erfolge bei der schweren und mittleren Kriminalität erweisen, nicht das fehlende Ermittlungsinstrumentarium, sondern Personalmangel.

Trotzdem will der Entwurf in bedenklicher Weise die Ermittlungs- und Fahndungsmöglichkeiten ausweiten. Auffällig ist, dass er eine verschärfte Fahndung von dem Verdacht einer „Straftat von erheblicher Bedeutung” abhängig macht, ohne dass die Straftaten im einzelnen benannt werden, während die Rasterfahndung von dem Verdacht bestimmter Straftaten abhängt. So bleibt der Auslegung ein unangemessen weiter Spielraum.

Die Weite der Gesetzesfassung wäre hinnehmbar, wenn es sich nur um die Fahndung nach mit Haftbefehl gesuchten Verdächtigen handeln würde. Der Entwurf geht jedoch weit darüber hinaus. Alle neuen, sehr weit greifenden Eingriffsmöglichkeiten in Persönlichkeitsrechte hängen von dem nur verschwommen umschriebenen „Verdacht einer Straftat von erheblicher Bedeutung” ab.

So soll die heimliche „beobachtende Fahndung” zulässig werden. Etwa an der Grenze oder bei einer sonstigen Kontrolle festgestellte Personalien sollen gemeldet werden, ohne dass der Beobachtete dieses erfährt. Aus dem Zusammenhang muss geschlossen werden, dass eine derartige Meldung gerade auch dann zulässig ist, wenn der Verdacht sich noch nicht so weit verdichtet hat, dass ein Haftbefehl erlassen werden könnte. Es sollen jedoch nicht nur die Personalien des Beschuldigten, sondern auch die von (unverdächtigen) Begleitern sowie „Erkenntnis, wenn der Verdacht sich noch nicht so weit verdichtet hat, dass ein Haftbefehl erlassen werden könnte. Es sollen jedoch nicht nur die Personalien des Beschuldigten, sondern auch die von (unverdächtigen) Begleitern sowie „Erkenntnisse über Zeit, Ort, mitgeführte Sachen, Verhalten, Vorhaben und sonstige Umstände des Antreffens” gemeldet werden. Hier wird die Bedeutung der neuen Personalausweise deutlich. Die freundliche Frage des Grenzbeamten nach dem „woher und wohin” macht in Zukunft zwar nicht den Reisenden, wohl aber den Beamten verdächtig: das menschliche Klima wird vergiftet.

Noch weiter geht die Bestimmung, dass heimliche Bildaufnahmen zulässig sind und dass — eingegrenzt — auch das nicht öffentlich gesprochene Wort sogar in einer Wohnung aufgenommen werden darf. Ebenfalls dürfen „sonstige technische Mittel zur Observation” benutzt werden.

Auch der Einsatz Verdeckter Ermittler soll zu-lässig sein, wenn „die besondere Bedeutung der Tat den Einsatz gebietet”. Sonst natürlich nicht. Verdeckte Ermittler dürfen unter einer ihnen, auch mit der Fälschung von Urkunden, verschafften „Legende” auftreten, sonst aber keine Straftaten begehen. Es ist schon eine seltsame Zeit, in der betont werden muss, dass Polizeibeamte keine Straftaten begehen dürfen. Insbesondere sind diese Beamten nicht von der Verpflichtung befreit, selbst kleinste Straftaten anzuzeigen, wenn sie sich nicht wegen Strafvereitlung im Amt schuldig machen wollen.

So harmlos dieses zunächst klingen mag, so gefährlich kann es sein: Kann doch der Verdeckte Ermittler als Strafverteidiger oder Geistlicher auftreten und einen Inhaftierten unter dem Schein der Hilfe in der Haftanstalt aushorchen. Er darf sich auch von einem Verteidiger oder einem Arzt als Hilfskraft anwerben lassen. Es gibt keine gesperrten Bereiche. Wenn man den Gesetzestext weiterdenkt, könnte der verdeckte Ermittler sogar mit seinem „Opfer” unter falschem Namen die Ehe eingehen. Ich bleibe dabei: Eine rechtsstaatlich vertretbare und zugleich wirksame Regelung ist unmöglich, für mich Anzeichen dafür, dass sich der „Verdeckte Ermittler” nicht mit unserer Verfassung vereinbaren lässt.

Der Plan, in einem „Justizmitteilungsgesetz” alle Bestimmungen zusammenzufassen, die den Datenaustausch und den (begrenzten) Datenschutz regeln, ist offensichtlich fallen gelassen worden. Der strafrechtliche Teil findet sich jetzt in der Gesetzesnovelle wieder. Die Bestimmungen sind, wie auch die im Entwurf des Justizmitteilungsgesetz, so unübersichtlich geraten, dass ihre Handhabung in der Praxis große Schwierigkeiten bereiten wird und unverhältnismäßig viele Fehler zu Lasten der Bürger vorprogrammiert sind.

Einen Datenschutz innerhalb der Justiz soll es nicht geben (§ 474). Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Einsicht in Ehescheidungsakten begrenzt hatte, scheint vergessen zu sein. So wird jeder Staatsanwalt auf alle Akten des Familiengerichts zugreifen dürfen und jeder Mietrichter auf jede Strafakte, auch etwa auf Akten mit psychiatrischen Gutachten. Auch andere Behörden, auch die Verfassungsschutzbehörden, haben Zugriff auf alle Gerichtsakten, soweit nicht „überwiegend schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer entgegenstehen”. Der Betroffene wird nicht gefragt, nicht einmal benachrichtigt. Die Polizei erhält Rechte wie nie zuvor. Insbesondere werden ihr alle rechtskräftigen Urteile übersandt, ja sogar noch nicht rechtskräftige Urteile können ihr übersandt werden. Jetzt kann die Polizei eine Urteilssammlung anlegen, über die nicht einmal die Justiz selbst verfügt.

Sehr versteckt (§§ 481 Abs. I, 483 Abs. I, 484 Abs. 1) ist die Möglichkeit eines bundesweiten automatisierten Datenverbundes zwischen allen Strafgerichten, Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden geschaffen worden. Während sonst die Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden getrennt genannt werden, werden sie an diesen Stellen (zu Tarnungszwecken?) unter dem Begriff der „Strafverfolgungsbehörde” zusammengefasst; der Wortlaut ist jedoch eindeutig. Die einzige Grenze des automatisierten Verfahrens: Es muss „unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der Betroffenen … angemessen” sein. Wer daran zweifelt, dass hier ein bundesweiter Verbund ermöglicht wird, wird von § 484 Abs. III belehrt. Auch die Bundesminister der Justiz und Inneren werden zu entsprechenden Rechtsverordnungen ermächtigt. Die rechtsstaatlichen Sicherungen im Bundeszentral-(Straf-)Registergesetz brennen durch. Sollten diese Bestimmungen tatsächlich Gesetz werden, sollte die Justiz nur so wenig Datensammlungen anlegen, wie möglich ist, auch wenn dieses zu Lasten der Rationalisierung geht, um die ihr anvertrauten Daten der Bürger nicht zu gefährden.

Dieser Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium ist so nicht akzeptabel. Wenn man freundlich formulieren möchte, um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, kann er vielleicht als Grundlage für weitere Überlegungen bezeichnet werden. Die Rasterfahndung sollte ersatzlos aus dem Entwurf gestrichen werden. Wenn der Entwurf — und davon möchte ich ausgehen — das Optimum der rechtsstaatlich gebotenen und praktisch möglichen Eingrenzung darstellt, so ist dies der Beweis dafür, dass eine rechtsstaatlich vertretbare Lösung nicht möglich ist. Das ist auch kein Schaden, da wenig für einen praktischen Nutzen der Rasterfahndung spricht. Der frühe Traum des ehemaligen Präsidenten des Bundeskriminalamts, Herold, man könne Straftäter vom Schreibtisch aus ermitteln, war eben nur ein Traum. Die Rasterfahndung erfordert einen hohen Aufwand. Hier mag man sich damit beruhigen, dass die Strafverfolgungsbehörden den Aufwand bedenken werden, wenn sie sich zu einer Rasterfahndung entschließen. Rechte, die man den Strafverfolgungsbehörden einräumt, müssen jedoch auch der Verteidigung zur Verfügung stehen, gerade dann, wenn man betont, sie solle dazu dienen, Unverdächtige auszuschließen. Die Anforderungen, die hier an den Staatsapparat gestellt werden können, sind unübersehbar.

Bevor über die neuen, weit greifenden Ermittlungs- und Fahndungsmöglichkeiten entschieden wird, müssen die Defizite bei der Verfolgung schwerer und mittlerer Kriminalität analysiert werden. Es wird sich zeigen, dass ein Bedarf für eine verbesserte Kriminalistik nur an wenigen Stellen besteht. Bei der zurecht immer wieder genannten Rauschmittelkriminalität wird man überlegen müssen, ob hier nicht außerhalb des Strafrechts neue Wege zu gehen sind. Alsdann werden nur noch wenige Straftaten übrig bleiben, für die man bereichsspezifische Regelungen überlegen muss. Dieses gilt insbesondere für das bisher vergessene Umwelt- und Wirtschaftsstrafrecht. Das Daten- und Datenschutz-recht in dem Entwurf ist, soweit es neu ist, eine Gefahr für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Die Vorstellung eines bundesweiten Datenverbundes von Polizei und Justiz erscheint geradezu abenteuerlich.

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