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Kritische Verfas­sungs­schüt­zer?

Aus: vorgänge Nr. 97, Heft 1/1989, S. 8-10

In der Bundesrepublik Deutschland wird ein Phänomen sichtbar, das es bisher in Deutschland nur in geringem Umfang gegeben hat: Öffentlich als konservativ eingestufte Behörden werden von innen kritisiert und auf einen demokratischen Weg gedrängt. Richter und Staatsanwälte haben schon vor zwei Jahrzehnten den Anfang gemacht und sich – die Justiz kritisierend — in der Gewerkschaft ÖTV zusammengeschlossen. Sie konnten an die Traditionen des Republikanischen Richterbundes der Zeit der Republik von Weimar anschließen; er hatte freilich noch keine Verbindung zu den Gewerkschaften gefunden. Vor wenigen Jahren haben sich „Kritische Polizisten” in einer eigenen Organisation zusammengefunden.

In diesen Tagen sind erstmals öffentlich von den in der Gewerkschaft ÖTV organisierten Beamten der Verfassungsschutzbehörden kritische Töne zu hören. Sie haben ihre Kritik in acht Thesen zusammengefasst.

Die Thesen sind deutlich eine Reaktion auf die vielfältige öffentliche Kritik an den Verfassungsschutzbehörden, die diese Behörden zu denen mit dem denkbar schlechtesten Image hat werden lassen und offensichtlich auch in diesen Behörden nicht ohne Wirkung geblieben ist. Ihre Zielrichtung ist es offensichtlich, Wege zu suchen, das Ansehen dieser Behörden und ihrer Angehörigen wiederherzustellen. Zutreffend geht dies Papier davon aus, dass dies ohne eine Reform von deren Arbeit nicht möglich ist. Allerdings bleibt die Kritik auf halbem Weg stehen und wagt es nicht, in Kernbereiche vorzustoßen.

Die Thesen beginnen mit dem Satz: „Der Verfassungsschutz ist grundgesetzlich verankerter Bestandteil der wehrhaften Demokratie.” Dieser Satz ist richtig und völlig falsch zugleich. Richtig ist lediglich, dass sich jeder in einer Verfassung organisierte Staat um deren Schutz zu bemühen hat. Diese Aufgabe muss jedoch nicht durch eigene Behörden und dann gar durch diese Behörden geschehen. In Art. 87 des Grundgesetzes befindet sich der Hinweis: „Durch Bundesgesetz können … Zentralstellen … zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes und des Schutzes gegen Bestrebungen im Bundesgebiet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, eingerichtet werden” Das Grundgesetz erhält damit lediglich die Ermächtigungsgrundlage für die Einrichtung einer Zentralsammelstelle, von der Gebrauch gemacht werden kann, aber nicht muss. Die Schließung des Bundesamtes für Verfassungsschutz befände sich damit im Einklang mit dem Grundgesetz. Vom Grundgesetz fällt kein rechtfertigender Schein auf die Verfassungsschutzbehörden.

Der These von der personenzentrierten Sammelleidenschaft ist uneingeschränkt zuzustimmen. Doch muss sie mit einer Analyse verbunden werden. Was verbirgt sich hinter der Vokabel: „einige Aufgabenfelder”? Berufsverbote, Sicherheitsüberprüfungen und Sammelleidenschaft stellen eine Einheit dar. Die Sammelleidenschaft kann nur bekämpft werden, wenn die Berufsverbote fallen und die Sicherheitsüberprüfungen eingeschränkt werden. Eine entsprechende Forderung hätte deshalb in dem Papier verankert werden müssen.

Zum Kern dringen die Thesen vor, wenn sie die Verfassungsschutzbehörden als „Instrument der Politikberatung” bezeichnen. Dies ist in der Tat die wichtigste und vielleicht die einzig legitime Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden. Regierungen sind in der Tat darauf angewiesen, rechtzeitig über gegen die Verfassung gerichtete Bestrebungen unterrichtet zu werden, wollen sie ihre Aufgabe, die Verfassung zu schützen, erfolgreich wahrnehmen.

Thesen zur Entmythologisierung des Verfassungsschutzes

  1. Der Verfassungsschutz ist grundgesetzlich verankerter Bestandteil der wehrhaften Demokratie. Er ist Nachrichtendienst, darf keine Polizeiaufgaben wahrnehmen und sollte alles daransetzen, in seiner Darstellung und in seinem Selbstverständnis kein Geheimdienstimage zu pflegen.
  2. Die Intensität der Arbeit des Verfassungsschutzes darf nicht statisch ausgerichtet sein. Es muss nach Gefährdungsphasen und Aufgabenfeldern stärker differenziert werden. Die personenzentrierte „Sammelleidenschaft” ist in einigen Aufgabenfeldern einzuschränken.
  3. Für die unbedingt notwendige Akzeptanz des Verfassungsschutzes in der Öffentlichkeit ist nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit seiner Handlungen von zentraler Bedeutung.
  4. Im Verfassungsschutz darf sich keine „Gralshütermentalität” ausbreiten. Sie hat unheilvolle Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Mitarbeiter in den Ämtern. Der Verfassungsschutz muss sich deshalb verstärkt der Öffentlichkeit stellen.
  5. Mehr Öffentlichkeit führt nicht zwangsläufig zur Minderung der Effizienz. Geheimhaltung darf nicht dazu benutzt werden, sich der öffentlichen Auseinandersetzung zu entziehen, auch wenn dies für die Ämter häufig sehr unbequem sein mag.
  6. Der Verfassungsschutz muss seinen Hauptbeitrag auf dem Felde der geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Extremismus leisten, da seine sicherheitstechnische Effektivität ohnehin nur gering sein kann. Bei der Grenzziehung zwischen Demokraten und Nichtdemokraten, zwischen Verfassungsfreunden und Verfassungsgegnern muss der Verfassungsschutz subtil vorgehen.
  7. Eine stärkere Ausprägung als Instrument der Politikberatung, verbunden mit einer Öffentlichkeitsarbeit, die sich nicht in der Herausgabe eines Jahresberichtes erschöpfen darf, müssen die ÄfV selbst anstreben. Die politische Führung muss dazu motivieren. Sie muss die leitend tätigen Personen in den ÄfV ermuntern, sich auch persönlich in der Öffentlichkeit zu stellen. Die Wirkung übertrifft die von Hochglanzbroschüren beträchtlich.
  8. Der wirksamste Verfassungsschutz ist die informierte, kritische Öffentlichkeit. Ohne das Vertrauen und die Mitwirkung der Bürger bleibt der Schutz der Verfassung eine Illusion. Vertrauen in die Institution hängt aber ganz wesentlich von der Glaubwürdigkeit ab, die in erster Linie aus dem praktischen Handeln der ÄfV erwächst.

Gleich an mehreren Stellen taucht der Begriff der Öffentlichkeit und der Öffentlichkeitsarbeit auf. Es ist nicht genügend klar, was sich dahinter verbirgt. Soweit damit gemeint ist, die Verfassungsschutzbehörden sollten ihre Arbeit für die Öffentlichkeit transparenter machen und die Pflege eines Geheimnisimage müsse ein Ende haben, ist dem uneingeschränkt zuzustimmen. Zu lesen sind aber auch gewiss gut gemeinte Untertöne, die, die Verfassungsschutzbehörden zu Instrumenten politischer Propaganda ausgestalten wollen. Solche Gedanken stehen außerhalb jeder Diskussion. Das Eintreten für die Verfassung ist die Aufgabe aller und, will man sie überhaupt an einer Behörde festmachen, der Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung. In diesem Sinne muss der Satz begeistern: „Der wirksamste Verfassungsschutz ist die informierte, kritische Öffentlichkeit.”

Thesen und Papiere sind auch stets darauf zu untersuchen, was in ihnen nicht enthalten ist. Und das ist hier viel: In These eins findet sich zwar der Satz, die Verfassungsschutzbehörden seien ein Nachrichtendienst und dürften keine Polizeiaufgaben wahrnehmen. Dies ist gewiss richtig, aber zur Trennung von Verfassungsschutz- und Polizeibehörden, insbesondere zum Datenaustausch zwischen diesen Behörden hätten doch einige Worte mehr gesagt werden müssen. In den Thesen findet sich kein Wort zum Rechtsschutz des Bürgers gegen Eingriffe der Verfassungsschutzbehörden. In den Thesen findet sich kein Wort über die notwendige effektive Kontrolle der Verfassungsschutzbehörden durch die Parlamente und die Datenschutzbeauftragten.

Die Vorstellung der Thesen der Verfassungsschutzbeamten klingt kritisch. Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass die Vorlage der Thesen ein fast revolutionärer Schritt ist, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Es ist beinahe selbstverständlich, dass dieser erste Schritt noch ein wenig unsicher getan wird. Es wird darauf ankommen, ob es den mutigen Beamten gelingt, dem ersten Schritt einen zweiten folgen zu lassen.

Nur Beständigkeit in der eigenen Haltung kann auf Dauer erfolgreich sein.

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