Abermals Nachhilfe aus Karlsruhe
Bundesverfassungsgericht erklärt Abschussbefugnis im Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig
Mitteilungen Nr. 192, S. 1-2
Es sei die schwerste politische Niederlage seines Lebens, stöhnte der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dieter Wiefelspütz, gegenüber dem „Spiegel“ (20.2.2006, S. 36). Die Karlsruher Entscheidung vom 15. Februar 2006 zum Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) sei ein „richtiger Hammer mit Fernwirkung“. Wiefelspütz hatte das Gesetz zusammen mit dem damaligen Innenminister Otto Schily im September 2004 – unter Inkaufnahme koalitionsinterner Kontroversen – durch den Bundestag gebracht. Der Bundespräsident hatte vor der Unterzeichnung der Regelung bereits verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht, der Abschussbefugnis aber dennoch seinen präsidialen Segen erteilt. Erst eine Verfassungsbeschwerde des HU-Beiratsmitglieds Dr. Burkhard Hirsch und die folgende Entscheidung des Karlsruher Gerichts holten die Rechtslage auf den Boden des Grundgesetzes zurück.
Die Humanistische Union hatte in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung eine Fachtagung zur Abschussbefugnis im Luftsicherheitsgesetz vorbereitet. Ursprünglich als vorbereitende Konferenz im Vorfeld der Entscheidung geplant, konnte sich die Tagung nun der Analyse und Kommentierung der tagesaktuellen Entscheidung widmen. Die Referenten der Veranstaltung kamen zum gleichen Ergebnis wie das Urteil des Ersten Senats am Bundesverfassungsgericht: Das Gesetz ist verfassungswidrig und nichtig.
Die Kritik der Karlsruher Richter am Gesetzgeber fiel ungewöhnlich deutlich aus: „Unter der Geltung des Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz (ist es) schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich wie die Besatzung und die Passagiere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls sogar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten vorsätzlich zu töten.“ Genau das hatte sich der Bundestag mit der Verabschiedung des Luftsicherheitsgesetzes aber vorgestellt. In § 14 Absatz 3 heißt es: „Die unmittelbare Einwirkung mit Gewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.“
Die Regelung war auch aus Gründen der Gesetzgebungskompetenz mit dem Grundgesetz (GG) unvereinbar. Auch diesbezüglich gab es verfassungsgerichtlichen Nachhilfeunterricht: Dem Bund fehle schon deswegen die Gesetzgebungskompetenz, weil der Einsatz der Bundeswehr in Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 (regionaler Katastrophennotstand) und Absatz 3 GG (überregionaler Notstand) jeweils nur mit nicht-militärischen Mitteln zugelassen sei. Ob dieses Diktum die sicherheitspolitische Träumerei vom Einsatz der Streitkräfte im Innern allerdings dauerhaft beendet hat, muss bezweifelt werden. Denn die Verfassungsrichter haben einem änderungswilligen Verfassungsgeber damit jene Stelle genannt, an der eine Grundgesetzänderung anzusetzen hätte. Von militarisierten Zuständen im Inland nach Schäubleschen Idealen trennen uns nunmehr exakt 410 Stimmen im Bundestag.
Und auch anderweitig haben die Verfassungsrichter in ihrem Urteil dem Gesetzgeber „Segelanweisungen“ hinterlassen: Es ist unter dem Regime des Grundgesetzes nämlich keineswegs ausgeschlossen, Luftfahrzeuge abschießen zu dürfen. Allerdings kann das nach der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts nur dann zulässig sein, wenn sich an Bord eines zur Waffe bestimmten Flugobjekts entweder überhaupt keine Menschen oder ausschließlich Entführer (Störer) befinden. In solchen Fällen sei keine Verletzung der Menschenwürde anzunehmen, das Szenario gleicht dann einem sogenannten „finalen Rettungsschuss“ in der Luft. Mit ihrer Entscheidung haben die Richter nebenbei den polizeirechtlichen Regelungen über den gezielten Todesschuss – jedenfalls insoweit – den verfassungsgerichtlichen Segen erteilt.
Ob die schon gegen das verfassungswidrige Gesetz erhobenen Bedenken sich mit der Entscheidung vom 15. Februar erledigt haben, muss gleichwohl bezweifelt werden. Auch wenn dem Abschuss eines unbemannten oder nur mit „Störern“ besetzten Flugzeugs keine grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken entgegen stünden, steht immer noch die Prüfung der Verhältnismäßigkeit an. Dabei bleiben die Prognoseunsicherheiten hinsichtlich der tatsächlichen Verhältnisse in einem vom rechten Wege abgekommenen Flugzeug ebenso bestehen wie die stets mitzudenkenden Konsequenzen, die vom Himmel regnende Trümmerteile oder gar verirrte Projektile aus den Bordkanonen der Kampfjets auslösen können.
Die Karlsruher Entscheidung ist von den Referenten der Fachtagung – mit differenzierten Begründungen – begrüßt worden. Über die weiteren Konsequenzen aus dem Urteil bedarf es noch einer weiteren bürgerrechtlichen Analyse. Bereits zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich – auch angesichts anderer Entscheidungen der letzten Zeit (Lauschangriffentscheidung, Urteil zur präventiven Telekommunikationsüberwachung etc.) – feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht immer häufiger die absolute Notbremse gegen den Gesetzgeber zieht. Oliver Lepsius wies in seinem Einleitungsvortrag darauf hin, dass die Karlsruher Richter einmal mehr die Menschenwürde und damit Artikel 1 Grundgesetz bemühen mussten, um die Verfassungswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes festzustellen. Dieser immer häufigere Rückgriff auf ein abwägungsfestes Grundrecht legt die Frage nahe, ob die anderen Grundrechte nicht schon so weit ausgehöhlt sind, dass sie keinen ausreichenden Schutz vor staatlichen Eingriffen mehr bieten.
Fredrik Roggan