Themen / Rechtspolitik / Strafvollzug 2010

Anmerkungen zur Situation des Straf­voll­zuges

30. März 2011

Aus: Jens Puschke (Hrsg.), Strafvollzug in Deutschland. Strukturelle Defizite, Reformbedarf und Alternativen, S. 75-83

I.     Einführung

Der Strafvollzug ist weiterhin durch große bauliche, organisatorische und personelle Mängel gekennzeichnet. Es mangelt an Mut, ungewöhnliche, aber hier und anderswo bewährte Elemente einer wirklichkeitsnahen und der Komplexität des Lebens draußen entsprechenden Vollzugsgestaltung zu einem schlüssigen Konzept zusammenzuführen und offensiv zu vertreten und umzusetzen. Vielfach fehlt auch die Bereitschaft, die Elemente einer empirisch gesättigten Theorie des Strafvollzuges handlungsleitend heranzuziehen. Gemessen an wissenschaftlich begründeten Notwendigkeiten, auch schon an pragmatisch-vollzugskundlichen Einsichten, an Behandlungsbedarfen und sozialstaatlichen, menschenrechtlichen und ethischen Geboten bleibt die vollzugliche Wirklichkeit weit hinter dem Erkenntnisstand zurück. Ehemals erreichte Standards einer sachgerechten Überleitung in Freiheit werden in Frage gestellt und z.T. massiv zurückgenommen.[239] So „wird mithilfe irrationaler Sicherungsparolen die Gegenreform betrieben“[240].

Die Grundsätze einer rationalen Strafvollzugspolitik werden gefährdet und verraten in einem Klima, in dem massenmedial geschürte und aufgeputschte Ängste Politikersessel zum Wackeln bringen und nicht nur Wahlkämpfe, die aber besonders, für populistische Attacken gegen einen vernünftigen Umgang mit Straftätern wählerwirksam eingesetzt werden.[241] Die aktuelle Diskussion um die Sicherungsverwahrung liefert dafür neue Beweise.

II.    Es bleibt dabei: Resozi­a­li­sie­rung statt Verwahr­vollzug
1.   Verwahr­vollzug als Quelle von Verant­wor­tungs­lo­sig­keit
und Lebens­un­tüch­tig­keit

Ein beliebter Einwand gegen sog. „Gutmenschen“ und blauäugige „Vollzugsträumer“ lautet, ihr Vollzug sei ein Hotelvollzug, der die Verwahrlosung fördere und die Unsicherheit nach innen und außen erhöhe. Aber das Gegenteil ist richtig: Die kognitiven, sozialen, psychischen und ethischen Kenntnisse, Haltungen und Fähigkeiten der Gefangenen werden um so mehr weiter beeinträchtigt, je mehr sie in den alltäglichen Abläufen geführt, gegängelt, bedient und verwaltet werden, je mehr Vollzug bloßer steriler Verwahrvollzug ist und je weniger mit Hilfe von Vollzugslockerungen der soziale Empfangsraum nach der Entlassung vorbereitet werden kann. Der Verwahrvollzug ist daher der eigentliche verwöhnende „Hotelvollzug“, wenn man vom so und so nicht vorhandenen Luxus absieht. Er entzieht Verantwortung und führt zur Lebensuntüchtigkeit. Am Ende werden Gefangene unvorbereitet in die Freiheit entlassen, die in nichts gebessert, sondern lebensuntüchtiger und aggressiver als vorher sind.

2.   Resozi­a­li­sie­rungs­ziel als Motor für Reformen

Zum Resozialisierungsziel gibt es keine vernünftige Alternative, die in gleicher Weise humanitären, sicherheitsrelevanten und sozialstaatlichen Ansprüchen genügt und verantwortbar ist. Es zivilisiert die im Einzelfall verständlichen Vergeltungs- und Racheimpulse und ist (war?) Antrieb und Legitimationsgrundlage für eine maßvolle Reform des Strafvollzuges. Von den für die Durchführung des Strafvollzugs Verantwortlichen muss daher erwartet werden, dass sie alle Ausprägungen und Details der vollzuglichen Lebenswelt möglichst weitgehend am Resozialisierungsziel orientieren und frühzeitig auf die Entlassung hin ausrichten. Ein so fundierter und überzeugend gestalteter Strafvollzug hindert die Gefangenen daran, in subkulturelle Nebenwelten abzutauchen, ihre Kräfte im Kampf gegen überflüssige Repressionen zu verschleißen, Schuld zu verdrängen und sich nur vordergründig anzupassen, um „weitergestuft“ zu werden oder in einer Nische des Vollzuges die Strafe unbehelligt „auf einer Backe“ abzusitzen. Demgegenüber legitimiert ein vernünftig gestalteter Strafvollzug die Forderung an Gefangene, sie mögen an ihrer Eingliederung intensiv mitarbeiten. Er ist geeignet, ihre Motivation zu stärken, weil erkennbar und glaubwürdig die Lücke zwischen Zielen und Realitäten des Vollzuges verringert wird.

III.   Ein alter­na­tiver Straf­vollzug

Für eine ansehnliche Gruppe von Straftätern sind Alternativen zum Strafvollzug auch künftig weder sinnvoll noch verantwortbar. Sinnvoll wäre es aber, wenn sich der Strafvollzug zu sich selbst, gegen seine eigenen Traditionen, alternativ verhielte. Er käme diesem Ziel näher, wenn er die Postulate des § 3 StVollzG von 1977 (Angleichungs-, Gegenwirkungs- und Eingliederungsgrundsatz) nachdrücklich zur Richtschnur seiner Gestaltung nähme. Hier sind oder waren einige der sozialtherapeutischen Einrichtungen gelungene Beispiele eines anderen Vollzuges. Inzwischen hat sich gezeigt, dass aus der erhofften Modellfunktion fürs Ganze nichts wurde und wohl auch weiterhin nichts werden kann. Dazu reichte und reicht das Gewicht der Sozialtherapie in jeder Hinsicht nicht aus. Mehr noch: Die Sozialtherapie wird vom Regelvollzug und mit diesem zusammen vom herrschenden Zeitgeist eingeholt, domestiziert und so um viele ihrer Möglichkeiten gebracht. 

Falsch wäre aber auch – um darauf wenigstens hinzuweisen – eine bloße Liberalisierung der vollzuglichen Verhältnisse. Das kann in der prekären Männerwelt des Strafvollzuges zu gegenseitiger Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt führen. Die normalisierende Liberalisierung des Vollzuges muss daher einhergehen mit baulichen und organisatorischen Strukturmaßnahmen, einer problemangemessenen Personalausstattung, mit Verhältnissen also, in denen professionelle Bindungen als Grundlage einer wertegebundenen Kommunikation entstehen können.

1.   Öffnung der Anstalten

Eine falsche Grundlegung des vollzuglichen Handelns fördert die selbstbezügliche Abschottung der Anstalten zur Außenwelt. Lockerungen des Vollzuges dagegen – Ausführungen, unbegleiteter Ausgang, die verschiedenen Urlaubsmöglichkeiten und Freigang – wirken den schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegen, erhalten und ermöglichen Bindungen zu relevanten Bezugspersonen und fördern die schrittweise Erprobung unter den Bedingungen einer begrenzten Freiheit. Gefangene werden schon aus dem Vollzug heraus bei der Gestaltung eines sozialen Empfangsraums nach der Entlassung (Arbeit, Wohnraum, Schuldenregulierung etc.) unterstützt. Im Freigang kann außerdem durch Erwerbsarbeit die materielle Situation des Gefangenen und gegebenenfalls seiner Familie verbessert werden.

Lockerungen aus dem Vollzug heraus sind aufwendig, manchmal aufreibend und für Personal und Gefangene anstrengender als die bloße Verwahrung bis zum Tage der Entlassung. Die Gefahr des Missbrauchs ist sorgfältig zu ermitteln. Jedoch darf das nicht dazu führen, schwierigere Fälle pauschal unvorbereitet und unerprobt zu entlassen und mit dem dadurch vergrößerten Rückfallrisiko allein die Öffentlichkeit zu belasten. Dem Missbrauchsrisiko wäre der deutlich resozialisierende Effekt insbesondere eines mit Freigang, d.h. mit Arbeit oder Ausbildung aus der Anstalt heraus abschließenden Eingliederungsvorgangs gegenüberzustellen.

Trotz aller Rückschläge: Es ist darauf zu beharren, dass eine möglichst langgestreckte, eingliederungstaugliche Lockerungsphase genuine Aufgabe des Vollzuges ist und bleibt. Eine erst zum Zeitpunkt der Entlassung oder allenfalls wenige Tage/Wochen vorher stattfindende, ganz überwiegend auf Freie Träger abgewälzte Entlassenenhilfe ist unzureichend. Unerlässlich ist aber eine frühzeitig eingeleitete Zusammenarbeit mit diesen Trägern, damit deren Mitarbeiter in der Lage sind, professionelle Bindungen als Basis der Wirksamkeit sachlicher Hilfen und Leistungen (Wohnung, Arbeit, Schuldenregulierung etc.) aufzubauen. Aber auch die professionelle Hilfe Freier Träger wird, dem Zeitgeist folgend, auf Effektivität und Effizienz getrimmt, sie wird rationalisiert, zentralisiert, optimiert, formalisiert, um- und neustrukturiert usw. Die Frage, ob das, was am Ende als Entlassungsmanagement beim Klienten ankommt, in qualitativer Hinsicht anders als vorher und besser ist, hängt – wie schon seit jeher – von der Qualität der Mitarbeiter und einer nicht nur ökonomischen, sondern auch berufsethischen und grundwertegebundenen Fundierung der Arbeit ab.

2.   Verant­wor­tung für echte Reformen

Es wäre wünschenswert, dass sich die (politisch) Verantwortlichen gegen alle Widerstände auch weiterhin oder auch erneut in den Dienst der wenig glanzvollen (aber effektiven) Resozialisierungsarbeit stellen und dass dies durch die Träger der politischen Kontrolle der Verwaltung und durch die Medien kritisch, aber auch sachorientiert und konstruktiv begleitet wird. Aber die Hoffnung ist gering. Von Behandlung im umfassenden Sinne der Strafvollzugsreformer wird kaum noch geredet. Fast hat der Begriff „Behandlung“ heute mehr etwas von Bedrohung als von Hilfe. Man denke nur an das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten – heute die zentrale Grundlage der Sozialtherapie.

Was heute Reform genannt wird ist häufig restaurativ und reaktionär, geschmückt und überzuckert freilich mit einer Begrifflichkeit, die ihre Herkunft aus dem neoliberal unterlegten Geist von Managerschulungen und Unternehmensberatungen nicht verbirgt, eher begeistert vor sich her trägt. So wie früher der Vollzug mehr mit Worten als mit Taten als „Behandlungsvollzug“ herausgeputzt wurde, so werden ihm auch heute prächtige neue Kleider übergeworfen. Nur wenig hat das mit der Realität unverändert mühsamer Resozialisierungsarbeit zu tun. Peter Brandewiede, der Leiter der JVA Lübeck, hat zu dem von Flügge, Maelicke und Preusker herausgegebenen Band „Das Gefängnis als lernende Organisation“, den ich im Folgenden als „NSM-Band“ zitiere,[242] einen Beitrag zum Thema „Behandlung als Gestaltungsaufgabe“ geliefert. Er schreibt, dass in dem Buch das Fehlen dieses Beitrags über Behandlung wohl nicht vermisst worden wäre. „Es sind andere Begriffe, die derzeit die Diskussionen über (…) Konzepte im Strafvollzug beherrschen: Organisationsentwicklung, Neues Steuerungsmodell, Budgetierung, Personalentwicklung etc.“[243] So ist es in der Tat, und daran ist manches Nützliche. Hervorzuheben ist besonders und uneingeschränkt die Budgetierung der Anstalten. Ansonsten lasse man sich nicht zu sehr vom neoliberalen Kauderwelsch der Unternehmensberatung blenden.

IV.  Begriff­lich­keit und Realität
1.   Worte verbessern den Vollzug nicht

Man achte auf den Abstand zwischen Begrifflichkeit und vollzuglicher Realität. So wie jüngst zu lernen war, dass die Finanzmärkte mit der darunter liegenden Wirklichkeit oft nur wenig zu tun haben, so ist z.B. auch der mit Bedeutung aufgeladene Begriff „Vollzugsmanagement“ mindestens in Teilbereichen ein irreführender Euphemismus. Jörg Alisch, der Leiter der JVA Neumünster, weist im erwähnten NSM-Band anschaulich darauf hin, dass sich Fragen der technischen und administrativen Sicherheit recht weitgehend dem steuernden Zugriff der insoweit fremdbestimmten Anstaltsleitungen entziehen.[244] Flügge überschreibt seinen Text programmatisch mit den Worten: „Von der Aufsicht zur Globalsteuerung“[245]. Ja, schön wäre es. Aber man sehe doch in die Wirklichkeit: Wie seit eh und je wird von oben nach unten durchregiert, wenn es vermeintlich oder tatsächlich brennt, wenn nach Minister-/Sena­torenwechsel mal wieder die Richtung geändert wird und man sich als tatkräftig und durchsetzungsfähig erweisen will. Das AKV-Prinzip (Zusammenführung von Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung in einer Person/einem Team) ist ein Schönwetterprinzip. Ist denn z.B. die radikale Verringerung der Lockerungen des Vollzuges in fast allen Bundesländern, auch in der Sozialtherapie, von unten her so gewollt – vielleicht, wäre ironisch zu fragen, das miese Produkt eines ergebnisgeilen Qualitätszirkels? Wohl nicht. Oder vielleicht doch??! Was sich aber zeigt ist, dass die Realität des Vollzuges hinter den blendenden Worten verblasst.

2.   Messen, Ökono­mi­sieren und Entsub­jek­ti­vieren

Man achte schließlich auch auf die mit der neuen Begrifflichkeit verbundenen Lücken, wenn vollzugliche Wirklichkeit beschrieben und analysiert wird. Schon der Begriff „Kunde“ nun auch für Gefangene[246] hat ja nicht nur komische Seiten, weil der Sprachschatz den leidigen, eigennützigen, aufgeblasenen und unzüchtigen Kunden kennt und der Gefangene als ein schlimmer oder schräger Kunde die Kundenidentität als eine böswillige Zuschreibung mehr wahrnehmen könnte. Wichtiger ist die mit dem Begriff verbundene Assoziation, wonach es sich, wenn von Kunden oder Kundschaft geredet wird, regelmäßig um eine geschäftliche Beziehung eng umschriebener Reichweite handelt. Der Kunde ist Käufer von Waren oder Dienstleistungen. Der Vollzug ist aber – vom Anstaltskaufmann abgesehen – keine Ladentheke, über die dem Gefangenen etwas gereicht wird, und dann geht er wieder. Der Gefangene ist vielmehr Mitglied dieser Organisation. Er lebt dort. Nicht als Kunde, sondern als Mensch. Er sollte als Subjekt, nicht als Objekt gesehen, geachtet und behandelt werden. Mit der Kundenorientierung, so gut die gemeint sein mag, gerät der lebensweltliche Ansatz ins Abseits. Das wird auch nicht besser, wenn für „Kunde“ der synonym verwendete Begriff „Leistungsempfänger“ eingesetzt wird.

Aber die Gefahr, dass der Gefangene als Subjekt aus dem Blick gerät, ist auch mit anderen heiligen Kühen des NSM verbunden, besonders mit dem Controlling. Controlling ist vor allem Steuerung, aber auch Kontrolle. Um in seinem Sinne steuern zu können, braucht es Kennzahlen, über deren Erreichen/Nichterreichen zu berichten ist. Nicht alle Standards und Leistungen sind gleich gut zu quantifizieren. Nicht alles, was messbar ist, ist auch wichtig, wenngleich der Mess-, Verarbeitungs- und Berichtsvorgang knappe Ressourcen bindet. Jedoch ist vieles von dem eminent wichtig, was nur mit großem Zeitaufwand und großer Fehleranfälligkeit oder überhaupt nicht messbar ist. Hier sei nur auf die Qualität zwischenmenschlicher Kommunikation, das Klima der Anstalt, den Umgang mit Konflikten, die intensive Einbindung aller Mitarbeitergruppen in die Arbeit mit Gefangenen, die Qualität theoriegeleiteter methodischer Arbeit in Einzelfallberatung und sozialem Training, in Einzel- und Gruppentherapien, die Entwicklung und Durchführung von Freizeitaktivitäten, die Arbeit mit Angehörigen usw. hingewiesen. Alle diese Felder bedürften der ständigen Pflege und Fortentwicklung. Aufs Ganze gesehen besteht nun die Gefahr, dass sie von einem ökonomiefixierten Sprachgebrauch verdeckt werden und aus dem Blick geraten. In dem zitierten NSM-Band steht, es sei nicht gelungen, solche Rahmenbedingungen messbar zu machen. Deshalb sei anzustreben, „dass möglichst diejenigen Wirkfaktoren, von denen angenommen wird, dass sie wesentlich sind, erfasst werden. Alles was darüber hinaus geht, muss auch aus Gründen der Arbeitsökonomie restriktiv gehandhabt werden“[247]. Restriktiv, fragt man sich, hinsichtlich der Messung oder restriktiv hinsichtlich der Gestaltung? Fokussiert wird und wichtig ist, was berichtenswert ist? Es mag so nicht gemeint sein. Wenn aber das Wort von Wittgenstein, wonach die Grenzen meiner Sprache, die Grenzen meiner Welt bedeuten,[248] so ganz falsch nicht ist, so wäre nicht auszuschließen, dass wichtig, am Ende real nur ist, was gemessen und berichtet werden kann. Jedenfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass z.B. die berichtsfähige Zahl der Abschlüsse von Qualifizierungsmaßnahmen wichtiger ist als der mühsame Prozess der Motivierung und Befähigung auch der anstrengenden und weniger aussichtsreichen Fälle. Im ökonomie- und leistungsfixierten, kundenorientierten und mit Chancen denkbar knapp ausgestatteten vollzuglichen Dienstleistungsbetrieb neuer Art besteht sodann die Gefahr, dass schnell aussortiert wird, wer seine Chance nicht nutzen kann. So wird eine ganz eigene, kalte und eindimensionale Wirklichkeit konstruiert. In einem ganz anderen Bereich, der Alten- und Krankenpflege, zerbricht man sich seit längerem den Kopf darüber, wie man die seelenlose Fixierung auf berichts- und abrechnungsfähige Handreichungen wieder mit einem menschenwürdigen, ganzheitlichen Umgang verbinden kann. Das leitet nun zu einem weiteren, durchaus heiklen Punkt über:

3.   Ökono­mi­sie­rungs­ten­denzen auch im thera­peu­tisch/­pro­gno­s­ti­schen Bereich?

Meine Frage an dieser Stelle ist, ob sich vielleicht auch das sozialpädagogische, psychologisch/psychotherapeutische und psychiatrische Handeln recht schlank mit der soeben dargelegten verkürzten Ökonomisierung des Vollzugs verbindet, verbinden könnte. Die starke Konjunktur quasi objektiver Items in immer ausgefeilteren Anamnese-, Diagnose- und Prognoseschemen, und die Zerlegung gruppentherapeutischer Prozesse in verbindliche Module legt die Vermutung nahe, dass es auch hier um eine gewissermaßen kennziffernbetonte, berichtsfähige Absicherung, Chancenverteilung und Distanzierung geht. Ein Gefangener wird unter solchen Vorzeichen um so mehr zum Objekt, zum Inhalt einer Schublade, je unachtsamer mit diesem brisanten Instrumentarium umgegangen wird.

Die Krone der Professionalität besteht aber nicht darin, ein Meister der Schubladen zu sein, sondern darin, im abhängigen Gefangenen zuerst den Menschen in seiner ganzen Komplexität zu sehen. Das Handwerkszeug muss Mittel zum Zweck bleiben. Das ist gewiss schwer in einer Zeit, in der Professionals sich zunehmend gutachtlich zu Höherstufungen, Lockerungen, Verlegungen in den offenen Vollzug und zur vorzeitigen Entlassung zu äußern haben. Da muss man schon etwas bieten, um Gehör und Anerkennung zu finden und gegen die Folgen einer „falschen“ Einschätzung gewappnet zu sein. Kein Wunder, dass Empfehlungen eher zurückhaltend ausfallen und die Zahl der falschen Prognosen zunimmt.

Daran wird deutlich, dass sich auch der Einsatz der therapeutischen und prognostischen Mittel und Methoden beängstigend funktional mit einem deutlich repressiver gewordenen kriminal- und vollzugspolitischen Umgang mit Straftätern verträgt. Überspitzt gesagt verselbständigt sich der mit der professionellen Arbeit im Strafvollzug einhergehende Kontrollaspekt, er dominiert den Hilfeaspekt und bewirkt, dass Behandlung an Wirksamkeit verliert. In Zeiten vollzogener und weiter drohender Personaleinsparungen gilt das umso mehr.

Die Prinzipien eines behandlungs- und eingliederungsorientierten Vollzuges werden im verhängnisvollen Dreieck einer sprachlich aufgemotzten Ökonomisierung, einer angstbesetzten und statusorientierten Formalisierung professioneller Mittel sowie einer selbstbezüglich-repressiven Vollzugsgestaltung eingeengt oder überhaupt an einer nennenswerten Entfaltung gehindert. Und über all dem wacht eine sensationsgierige Öffentlichkeit, wachen 16 Justizminister/innen und Justizsenatoren, ebenso viele Strafvollzugsverwaltungen und viele Referenten mit Aufsichtsfunktionen.

Fortschritte in den professionellen Theorien und Methoden sind jedoch nicht von sich aus schlecht. In menschenfreundlichen Verhältnissen angewandt sind sie hilfreich und verbessern die Qualität der Arbeit.[249] Es soll auch keineswegs denunziert werden, wer unter den geschilderten, von mir vielleicht auch zugespitzt dargestellten Verhältnissen arbeitet. Arbeit im Vollzug war und ist stets ein Trotzdem. Wer sie auf sich nimmt, dabei allerdings seine professionelle Orientierung nicht vergisst oder verdrängt, verdient Anerkennung und Bewunderung. Bei Preusker heißt es in dem erwähnten NSM-Band: Die „Modernisierung“ im Sinne einer „Ökonomisierung“ „hat allerdings nur einem Ziel zu dienen, nämlich den Vollzug so zu gestalten, dass die Chancen des Gefangenen, das Vollzugsziel zu erreichen, kontinuierlich verbessert werden (…)“[250].

V.   Schluss­be­mer­kung

Ich schließe mit einem unverändert aktuellen Appell von Fritz Bauer aus dem Jahr 1962. Nicht nur die Gesellschaft habe Forderungen an den Strafvollzug, sondern, recht verstanden, müsse auch der Strafvollzug Erwartungen an die Gesellschaft richten: „Zu fordern ist Nüchternheit, kühle Überlegung und Verzicht auf Affekte, ein solides Wissen um die Welt und die Menschen, kein Aberglaube und Wunschdenken, ferner eine Ethik, die sich von Selbstgerechtigkeit und Pharisäertum frei macht, sowie eine politische Gesinnung, die den demokratischen und sozialen Rechtsstaat nicht nur mit Worten, sondern mit Taten bejaht.“[251]

*       Gerhard Rehn war Leiter der sozialtherapeutischen Anstalt Hamburg Altengamme und Leiter der Abteilung Vollzugsgestaltung im Strafvollzugsamt der Justizbehörde Hamburg.

[239]     Feest/Lesting Zeitschrift für Strafvollzug 2005, 76–82; Dünkel Forum Strafvollzug 2009, 192–196.

[240]     Feest/Lesting, in: Feest (Hrsg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 5. Aufl. 2006, Vor § 2 Rn. 17; Rehn, in: Pecher/Rappold/Schöner/Wienecke/Wyrda (Hrsg.), Festschrift für Georg Wagner, 2005, S. 75 ff.

[241]     Walter, in: Häßler/Rebernik/Schnoor/Schläfke/Fegert (Hrsg.), Forensische Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie, Aspekte der forensischen Begutachtung, 2003, S. 226–230; Löhr, in: Cornel/Kawamura-Reindl/Maelicke/Sonnen (Hrsg.), Resozialisierung. Handbuch, 3. Aufl. 2009, S. 576–594.

[242]     Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001.

[243]     Brandewiede, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001, S. 91 (92).

[244]     Alisch, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001, S. 105 (106 ff.).

[245]     Flügge, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001, S. 325.

[246]     Maelicke, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001, S. 31 (39, 51); Kloff, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001, S. 59 (63).

[247]     Ohle, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001, S. 254 (270).

[248]     Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, 1964, S. 89 f.

[249]     Wischka, in: Rehn/Nanninga/Thiel (Hrsg.), Freiheit und Unfreiheit. Arbeit mit Straftätern innerhalb und außerhalb des Justizvollzuges, 2004, S. 283 ff.

[250]     Preusker, in: Flügge/Maelicke/Preusker (Hrsg.), Das Gefängnis als lernende Organisation, 2001, S. 11 (28).

[251]     Bauer, in: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. (Hrsg.), Schriften der Arbeiterwohlfahrt 14, 1962.

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