Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Auszug aus der Ansprache des Bundes­vor­sit­zenden

03. Dezember 1980

Ulrich Klug

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seiten 7-9

„Es gibt einen Bereich, wo sich das Problem der Humanisierung der Psychiatrie mit strafrechtlichen Prinzipien und strafrechtlichen Problemen überschneidet. Von diesen möchte ich eins herausgreifen, von dem ich meine, daß es in bedenklicher Weise in Vergessenheit geraten ist und neu überdacht werden muß. Die anwesenden Ärzte bitte ich im vorhinein um Entschuldigung dafür, daß ich hier etwas harte Dinge ansprechen muß, aber ich glaube, daß sie in Ihren Themenbereich gehören.

Ich greife mir etwas ganz Konkretes heraus, angeregt durch die Vorbesprechung, die mit dieser Tagung zusammenhing, nämlich die Elektroschock-Therapie. Man hat sich daran gewöhnt, daß es so etwas gibt, und die Frage ist, wie sieht das eigentlich hier mit den rechtlichen Grenzen aus, was kann hier akut werden. Da ist zunächst einmal zu erinnern, daß eine solche Therapie, die ja ein ganz intensiver Eingriff in die körperliche und psychische Integrität des Patienten ist, eine Heilbehandlung ist, die rechtlich jedenfalls nicht anders zu beurteilen ist als ärztliche Heilbehandlungen auch sonst. Die Damen und Herren, die aus der medizinischen Wissenschaft kommen, wissen, daß wir Juristen Bedenken haben bei der Qualifizierung der ärztlichen Heilbehandlung. In ständiger Rechtsprechung haben die höchsten Gerichte nämlich erklärt, die ärztliche Heilbehandlung sei auch dann, wenn sie zu Heilzwecken erfolgt, kunstgerecht durchgeführt wird und noch dazu nach Möglichkeit erfolgreich ist, tatbestandlich eine Körperverletzung. Die Ärzte protestieren im allgemeinen, ich habe auch dafür Verständnis, man muß sich fragen, wie kommt es zu dieser zunächst sehr harten rechtlichen Konsequenz? Es hängt damit zusammen, daß es keine Norm gibt, die eigenmächtiges Handeln des Arztes verbietet und in schweren Fällen unter eine Strafdrohung stellt: Die Strafgesetzentwürfe, ein Regierungsentwurf aus dem Jahre 1962 und der Reformentwurf, der Alternativentwurf genannt wurde, an dem ich auch selber mitarbeiten durfte, haben solche Bestimmungen vorgesehen, um das ärztliche Heilhandeln aus dem Tatbestandsbegriff der Körperverletzung herauszunehmen. Aber diese Vorschläge hat der Gesetzgeber nicht übernommen. Weil die Gerichte der Meinung sind, daß die freie Entscheidung des Patienten von größter verfassungsrechtlich sanktionierter Bedeutung ist, gehen die Gerichte nach wie vor davon aus nach deutschem Strafrecht, daß die ärztliche Heilbehandlung immer den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, wenn sie einen Eingriff in die körperliche Integrität enthält, was ja in der Regel bis hin zur Einnahme von Medikamenten der Fall ist. Und nun taucht natürlich die Frage auf, wie kommt man jetzt zu einer normativ friedlichen Lösung, bei der der korrekte Arzt natürlich nicht bestraft wird. Und das machen wir im Strafrecht so, daß wir sagen, das, was tatbestandmäßig Körperverletzung ist, bedarf der Rechtfertigung, und der prinzipielle Rechtfertigungsgrund für solche ärztlichen Eingriffe ist die Einwilligung des Patienten. Und jetzt merken Sie natürlich schon, worauf ich hier bei unserem ganz konkreten Elektroschockproblem hinaus will. Es ist nämlich nach dem, was aus der Praxis berichtet wird, zu fragen: Wird die Notwendigkeit der Herbeiführung der Einwilligung des Patienten in einen so harten therapeutischen Eingriff richtig erkannt und berücksichtigt? Gibt es nicht Fälle, wo man glaubt, daß der Geisteskranke nicht gefragt zu werden braucht? Er ist ja ohnehin mehr oder weniger Objekt, obwohl man das heute natürlich nicht mehr so deutlich ausspricht. Aber steht das nicht im Hintergrund?

Und nun ist die Rechtsprechung hier zu zitieren, die sehr viel verfassungskonformer ist als man das so gemeinhin vielleicht vermutet. Auch der entmündigte Patient muß nach seiner Einwilligung in solche therapeutischen Maßnahmen gefragt werden. Die Richter haben ausdrücklich festgestellt, daß die Beseitigung der Geschäftsfähigkeit des Patienten nicht die automatische Konsequenz habe, daß man ihn nicht mehr nach seiner Einwilligung in solche Eingriffe fragen müsse. Natürlich gibt es Fälle, wo man den Patienten nicht ansprechen kann und eine solche Frage wegen seines Zustandes nicht möglich ist. Dann muß aber der Vormund gefragt werden, der gesetzliche Vertreter, es könnten auch einmal die Eltern sein. Auf jeden Fall ist aber zu bedenken, daß der Arzt allein aus der Übernahme der Behandlung ohne die Zustimmung , sei es des Patienten, sei es des gesetzlichen Vertreters, die Einwilligung in so harte therapeutische Maßnahmen im Einzelfall nicht herleiten darf. Denn nach unserer Strafrechtsregelung geht das sogar so weit, daß dieses alles an Berücksichtigung von Prinzipien höchst wichtiger Art selbstverständlich auch auszudehnen ist, etwa auf medikamentöse Behandlungen. Es gibt keinen Schluckzwang nach unserer Rechtsordnung, und ich habe manchmal den Eindruck, die hier anwesenden Ärzte sind natürlich immer ausgenommen bei so harten Strafrechtlerformulierungen, aber es ist doch wohl nicht zu übersehen, daß manchmal in der Praxis dieses nicht so beachtet wird, wie es beachtet werden muß nach unseren Rechtsnormen, und dieses wollte ich nur einmal ganz kurz in das Scheinwerferlicht ziehen.

Hieran muß gedacht werden, wenn z.B. aus der psychiatrischen Praxis berichtet wird, daß Patienten Angst haben vor dem nächsten Elektroschock. Dies ist für den Juristen, darüber müßte er sich natürlich im konkreten Fall mit dem Arzt unterhalten, mindestens ein Indiz dafür, daß hier ein Fall gegeben ist, bei dem die Einwilligung, die zur Rechtfertigung ärztlichen Handelns unerläßlich ist, auch vom Patienten gegeben werden muß. Jemand, der Angst hat vor einer solchen Therapie, der verhält sich so, daß man erkennen kann, er ist in der Lage, die Situation mindestens in relativen Grenzen, aber in den Grenzen, die für ihn von Bedeutung sind und die verfassungsrechtlich garantiert sind, zu erkennen, und deshalb darf man nicht über seinen Willen einfach hinweggehen, wenn er überhaupt noch zur Willensentscheidung fähig ist in diesen relativen Grenzen. Die Normen verlangen dann eben nicht die volle Geschäftsfähigkeit, die volle Einsichtigkeit, dann kann auch nicht seine Entscheidung ausgelöscht werden durch die Entscheidung des gesetzlichen Vertreters. Und ein gesetzlicher Vertreter, der unüberlegt schnell Genehmigungen erteilt für derartige therapeutische Eingriffe von dieser Relevanz, der würde auch seine Pflichten verletzen, und es gibt ja auch eine richterliche Beaufsichtigung des gesetzlichen Vertreters. Es gibt einen Vormundschaftsrichter, der ständig den Vormund rechtlich zu prüfen und zu kontrollieren hat.“

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