Begleitwort
Aus: Jens Puschke (Hrsg.), Strafvollzug in Deutschland. Strukturelle Defizite, Reformbedarf und Alternativen, S. 7-12
Die Tagung und der Tagungsband belegen nachdrücklich den Bedarf an rechtsstaatlich-kritischer Aufmerksamkeit und anhaltender wissenschaftlicher Forschung im Bereich des Strafvollzugs. Dies gilt schon für Entscheidungskriterien bezüglich Lockerungen oder Stellungnahmen zur Frage der Entlassung, wie sie zeitaufwändig von Bediensteten ständig erwartet werden. Soweit hierbei auch seitens Sachverständiger verschiedene Auflistungen wie etwa das PCL-R bzw. das PCL:YV[1] verwandt werden, lassen sie den Betroffenen nahezu rechtlos, weil die Unterlagen zwar im Sinne eines Diagnoseinstruments genutzt werden, tatsächlich jedoch einer – wissenschaftlich anerkannten methodischen Voraussetzungen entsprechenden – Zuverlässigkeits- und Gültigkeitsprüfung entbehren[2]. Sie sind geleitet von der verengenden Vorstellung, Flucht- oder Missbrauchsgefahr bzw. strafrechtlich relevante Gefährlichkeit stehe in Zusammenhang mit Elementen der Täuschung[3], und sie bewirken – ähnlich anderen methodisch vergleichbar wenig abgesicherten Auflistungen[4] – eine „Aussonderung“ durch „immer stärker reduzierte“ Einschätzungen[5]. Die Judikatur beurteilt dies weniger grundsätzlich, sondern schränkt die Nutzung (im Einklang mit dem strafrechtlichen Individualisierungsprinzip) lediglich dahingehend ein, dass konkret belegte Tatsachen festgestellt sein müssen[6], dass die der Entwicklung der Auflistung zugrundeliegende Personengruppe mit dem Abgeurteilten vergleichbar sein muss und dass eine Vergleichbarkeit auch hinsichtlich der für den Abgeurteilten zukünftig zu erwartenden Lebensumstände bestehen muss.[7]
Jens Puschke zeigt in seiner die anderen Beiträge gewissermaßen verbindenden Einleitung wesentliche rechtstatsächliche Entwicklungen vor allem bezüglich Gefangenenzahlen, Vollzugslockerungen und z.B. hinsichtlich der Situation des Personals auf und erörtert einzelne (auch) vollzugsbezogen wesentliche Urteile des BVerfG und des EGMR. Er resümiert eine anhaltende Tendenz zu mehr Punitivität und Sicherheit, die sich auf bestimmte Gruppen von als schwerwiegend beurteilten Straftaten bzw. von als gefährlich beschriebenen Abgeurteilten konzentriert. Abschließend nimmt er zu neueren gesetzgeberischen Aktivitäten bezüglich Sicherungsverwahrung Stellung.
Für Gaby Temme resultiert die Frage nach Alternativen zum Strafsystem daraus, dass Strafe Leid zufügt, wobei sie Möglichkeiten zu Alternativen auf den verschiedenen Stufen staatlicher Strafverfolgung (von Polizei bis Strafvollzug) sieht. Die Verwirklichung der Alternativen müsse wesentlich (auch) von dem der Deliktsbegehung zugrundeliegenden Konflikt her geschehen, und nicht – von diesem sozusagen abgekoppelt – (gar nur) in einem überlagerten juristischen Konflikt. Konkret stellt sie Möglichkeiten eines TOA anhand der Sentencing Circles in Kanada und der Variante des Ho’oponopono aus Hawaii dar, ferner u.a. Family Group Conferences (deren Beurteilung als positiv eine Geeignetheit bzw. Qualität der Ausbildung von Facilitator, Mediator, Vermittler oder Koordinator voraussetze) sowie Peace Circles (mit der Besonderheit der Einbeziehung der Community).
Klaus Jünschke veranschaulicht, dass Strafgefangenen keine Eigenschaften gemein seien, sondern Äußerlichkeiten in Form der sie von der Freiheit trennenden Mauer. Schon deshalb regt er u. a. an, das Gehaltenwerden in Zellen abzubauen. Konkret nimmt er zur Schuldenbelastung nach Entlassung und zur Lücke hinsichtlich einer Sozialversicherung Stellung. Für Gerhard Rehn ist Strafvollzugspolitik irrational, zumindest dann, wenn sie von vornherein auch von Verwahrung statt „Re-Sozialisierung“ ausgehe. Daher sei die Öffnung des Vollzuges das zentrale Anliegen einer solchen praktischen Vollzugspolitik, die leeren Worthülsen und einer Ökonomisierung abhold sei. – Dem nicht fern sieht Johannes Feest wirkliches Veränderungspotential für den Strafvollzug in den Bereichen Freigang oder integrative Sozialtherapie. Beides werde aber in der Realität nur (noch) eingeschränkt praktiziert.
Harald Preusker erkennt in der Schaffung des (vormaligen) StVollzG trotz einiger Mängel eine nicht wiederholbare Kulturleistung, wogegen die Föderalismusreform eher mehr Restriktion mit sich gebracht habe. Auch falle es nicht nur der fachfremden Außengesellschaft, sondern auch Teilen des Vollzugspersonals und der zuständigen Gerichte weiterhin schwer, Rechte von Gefangenen anzuerkennen und ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen. Zugleich weist er auf die hilfreiche Funktion der verschiedenen einschlägig relevanten Internationalen Vereinbarungen und Institutionen zur Wahrung von Gefangenenrechten hin. – Jochen Goerdeler erörtert ausführlich und detailliert gewaltbegünstigende Faktoren innerhalb des Strafvollzugs. Zusätzlich analysiert er die Ergebnisse der Werthebach-Kommission, zumal hier Interviews mit Gefangenen selbst geführt wurden. Die rechtstatsächlichen Erörterungen sind ebenso nüchtern wie konstruktiv und weiterführend. Resümierend wird festgehalten, dass Gewalt im Gefängnis strukturell vorgezeichnet sei durch kulturelle Übertragung und Deprivation, und dass gewaltwehrend am ehesten Transparenz, Kontrolle und Rechtsschutz seien.
Ingke Goeckenjan bezieht sich hinsichtlich Gewalttaten zunächst auf solche körperbezogener Art zwischen Gefangenen und auf die Unterlassungsverantwortlichkeit von Bediensteten. Die Aufdeckung sei wegen Besonderheiten des Strafvollzugs – wie Kooperationsverbot und Mangel an Aufmerksamkeit seitens Bediensteter – in erhöhtem Maße schwierig. So würden Strafanzeigen und Berichterstattung gegenüber Aufsichtsbehörden sehr uneinheitlich gehandhabt. Formelle Sanktionen von Gewalttaten im Strafvollzug wie z.B. disziplinarische Maßnahmen seien mit dem Problem konfrontiert, dass selten einseitige Schuldzuweisungen möglich seien, und zwar auch im Hinblick auf organisatorisches oder konkret individuelles Versagen in den Reihen der Bediensteten. Demgegenüber dienten „aufarbeitende“ Ausschüsse und Kommissionen eher der Beruhigung der Öffentlichkeit bzw. der Machterhaltung und Stabilisierung, abgesehen von der Durchsetzung ohnehin überfälliger Vorgaben bzw. Maßnahmen.
Christine Graebsch veranschaulicht eine besondere Belastung bei der Abschiebungshaft wegen der Ungewissheit hinsichtlich des Abschiebungszeitpunktes. Dies gelte umso mehr, als Unterstützung seitens Bediensteter eher fehle und Übergriffe ggfs. häufiger stattfänden als im Strafvollzug, da die Betroffenen grundsätzlich nicht wieder in die deutsche Gesellschaft gelangten. Konkret zeigt sie das Spektrum von Verzweiflungsverhalten, das bis hin zu Suizid reiche, ebenso auf wie Gefahren übermäßiger Vergabe von Psychopharmaka. Zudem weist sie darauf hin, dass es weithin an eigenständigen Regelungen zur Haftgestaltung bzw. klaren Rechtswegbestimmungen zur Erlangung von Rechtsschutz fehle. – Ergänzend wird konstatiert, dass der Polizeigewahrsam vergleichsweise noch geschlossener sei als der Strafvollzug bzw. die Abschiebungshaft. Zum Schutz Betroffener sei eine gewisse Öffnung für Ärzte ohne anwesende Polizei und für zusätzlich rechtsberatende Gruppen angezeigt.
Wenige Monate nach der Tagung sind speziell zu der schon in dem Beitrag von Jens Puschke einbezogenen Rechtsfolge Sicherungsverwahrung Spaltungstendenzen innerhalb der Judikatur offenbar geworden, und zwar zwischen dem EGMR einerseits und dem BVerfG sowie Teilen der deutschen Strafrechtsjudikatur andererseits. Dabei ist betreffend sog. „Altfälle“ die Version, der Deutsche Bundestag habe sich bezüglich § 6 II EGStGB bewusst gegen Art. 7 EMRK (in der Auslegung des EGMR) entschieden, wenig tragfähig, denn im Gesetzgebungsverfahren wurde der Konflikt eher verharmlost[8]. – Hinsichtlich der am 1.1.2011 in Kraft getretenen Neugestaltung[9] des § 463 III 4 StPO ist zweifelhaft, ob die Voraussetzungen zur Versagung von Entlassungsentscheidungen deshalb erheblich erhöht werden dürfen, weil in der genannten Norm die vormals enthaltenen Worte „aufgrund seines Hanges“ gestrichen wurden[10].
Die Vorgaben zur Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung bezüglich zur Tatzeit Jugendlicher bzw. Heranwachsender (§ 7 II-IV JGG[11]), deren Tat nach materiellem Jugendstrafrecht abgeurteilt wurde (§ 105 I JGG), sind von der zum 1.1.2011 in Kraft getretenen gesetzlichen Neuregelung unberührt geblieben, obgleich der rechtsstaatliche Verstoß hier im Vergleich zum allgemeinen Strafrecht noch schwerer wiegt[12]. Indes ist eine Prognose unter den gegebenen tatsächlichen Voraussetzungen verlässlich schon gar nicht möglich[13], und deshalb wäre zumindest die Vermeidung von zur Täuschung geeigneten Angaben – nicht auf Seiten der Adressaten der eingangs genannten Auflistungen, sondern der Machthabenden – angezeigt[14].
Zu der Frage, nach welchen Vorschriften der Vollzug stattfindet[15], haben sich die Gesetzgebungsorgane nicht verhalten[16]. Da es sich um eine Anordnung nach materiellem Jugendstrafrecht handelt (§ 1 II JGG), scheidet – systematisch ebenso wie bei den Regelungen zum Vollzug der Jugendstrafe – eine Durchführung gemäß den Regelungen zum Vollzug bei nach allgemeinem Strafrecht Abgeurteilten aus.
Berlin, im Februar 2011 Ulrich Eisenberg
[1] Vgl. nur Welsh/Schmidt/McKinnon/Chattha/Meyers Assessment 2008, 104 ff.; Quenzer, Jugendliche und heranwachsende Sexualstraftäter: eine empirische Studie über Rückfälligkeit und Risikofaktoren im Vergleich mit Gewaltstraftätern, 2009, S. 214 f.
[2] Näher dazu Einwände bei Thalmann MSchrKrim 2009, 376 ff.: Konzept nicht haltbar; H. E. Müller NStZ 2011, (voraussichtlich) Heft 5. Vgl. exemplarisch zur Ablehnung der Entlassung, gestützt auf eine von einer Sachverständigen mittels dieses und eines vergleichbaren Instruments erlangte Prognoseaussage, OLG Frankfurt StV 2005, 345 ff. mit abl. Anm. Eisenberg (im anschließenden Verfahren vor der StrVollstrKammer wurde der Verurteilte entlassen).
[3] Vorausgegangen war das Werk des Psychiaters Cleckley, „The Mask of Sanity”, dem über alle fünf Auflagen hinweg (1941–1976) als Zitat von Alanus de Insulis „Non teneas aurum totum quod splendet ut aurum“ vorangestellt ist. Dieses Werk war als Erweiterung der psychiatrischen Systematik um eine Störung intendiert, die vermöge verschiedener Stilmittel des Ausdrucks verdeckt werde, d.h. die Betroffenen verhielten sich nach außen unauffällig, und sie seien mitunter überdurchschnittlich leistungsfähig. Diese Kriterien bestätigen, dass die Beurteilung einer Persönlichkeitsstörung nicht davon abhängig sein muss, ob der Betroffene als sozial vergleichsweise konfliktfrei sowie erfolgreich lebend und insoweit akzeptiert beurteilt wird oder nicht, denn solche Umstände sind selektionsgeeignet und ggfs. irreführend, weil Wertungen der jeweiligen sozialen Umgebung von anderen Eigenschaften des Betroffenen bzw. von Belangen der Umgebung überlagert sein können. Indes ist zweifelhaft, ob die von Cleckley (5. Aufl. 1976, S. 337 ff.) zur Umschreibung der Störung angeführten, als „clinical profile“ betitelten Wertungen wissenschaftlich tragfähig sind: Superficial charm and good „intelligence“, Absence of delusions and other signs of irrational thinking, Absence of „nervousness“ or psychoneurotic manifestations, Unreliability, Untruthfulness and insincerity, Lack of remorse or shame, Inadequately motivated antisocial behavior, Poor judgment and failure to learn by experience, Pathologic egocentricity and incapacity for love, General poverty in major affective reactions, Specific loss of insight, Unresponsiveness in general interpersonal relations, Fantastic and uninviting behavior with drink and sometimes without, Suicide rarely carried out, Sex life impersonal, trivial, and poorly integrated, Failure to follow any life plan.
[4] Etwa HCR-20, SVR-20 bzw. static 99 oder SORAG (zu den beiden letztgenannten
Eher/Rettenberger/Schilling/Pfäfflin R&P 2008, 79 ff., 86 f.: selbst in Extremgruppen Trefferquote unzureichend).
[5] Vgl. dazu etwa Pfäfflin, in: Foerster/Dreßing (Hrsg.), Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 300.
[6] Vgl. BGH NJW 2010, 544 (545).
[7] BGH vom 22.7.2010 (3 StR 169/10); s. auch König RuP 2010, 67 (71 f.).
[8] Vgl. dezidiert BGH vom 18.1.2011 (4 ARs 27/10), gegen den Anfragebeschluss BGH vom 9.11.2010 (5 StR 394/10): der eindeutige Wille des deutschen Gesetzgebers, sowie BGH vom 22.12.2010 (2 ARs 456/10): auch bei „offenkundigem Konventionsverstoß“ sei dieser Wille „zu respektieren“.
[9] Gesetz vom 22.12.2010 (BGBl. I 2300).
[10] In der Gesetzesbegründung ist davon nicht die Rede (vgl. BT-Drs. 17/4304). Seither stand z.B. die Gefahr, dass der Verurteilte andere als die mit dem „Hang“ im Sinne des § 66 I Nr. 4 StGB (a.F. Nr. 3) zusammenhängende Straftaten begehen wird, der Aussetzung nicht entgegen.
[11] Eingeführt durch Gesetz vom 8.7.2008 (BGBl. I 1212), entgegen sechs fundierten Gutachten vor dem Rechtsausschuss im Mai 2008 (BT-Drs. 16/6562).
[12] Vgl. nur Kreuzer NStZ 2010, 473 (477); Renzikowski NStZ 2010, 506 (508); Greger NStZ 2010, 676 (679).
[13] Vgl. nur Laubentha/Baier/Nestler, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2010, Rn. 476 zu der zu dem bislang einzigen Verfahren ergangenen Entscheidung BGH JR 2010, 306 ff: an die Prognoseschwierigkeit bei nur einer Tat „hat der BGH keinen Gedanken verschwendet“.
[14] Demgegenüber heißt es betreffend das seither einzige Verfahren in BGH JR 2010, 306 ff., der Verurteilte sei krank, und es wird mehrfach auf die Bedingungen des Jugendstrafvollzugs Bezug genommen, jedoch verschwiegen, dass er alsbald herausgenommen worden war. Ferner haben z.B. die im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens zur Stellungnahme aufgeforderten Bundesvorsitzenden des „Weißen Rings“ bzw. des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands sich wie folgt geäußert (Schreiben vom 27.8.2010, S. 2 bzw. vom 26.8.2010, S. 2.): „(…) muss wegen der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers dessen Freiheitsrecht hinter dem Opferschutz zurücktreten“, und auf S. 3 des zweitgenannten Schreibens: der Verurteilte „hat nach wie vor Gewaltfantasien wie seit dem 15. Lebensjahr (…). Sogar sein soziales Umfeld scheint seinen begangenen Mord zu bagatellisieren“. Tatsächlich haben die vor der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung von dem LG Regensburg beauftragten beiden Sachverständigen eine „hohe Gefährlichkeit“ nicht bejaht. Die Behauptung von „Gewaltfantasien“ ist methodisch belastbar nicht belegt (vgl. näher Eisenberg DRiZ 2009, 219 ff. sowie JR 2010, 314 ff.), und die Version einer Bagatellisierung verdreht die Tatsache, dass Angehörige und Personen aus dem Freundeskreis die seinerzeitige tatgerichtliche Würdigung des Geschehens als falsch erachteten.
[15] Vgl. dazu auch Nestler/Wolf NK 2008, 153 (158); Brettel ZJJ 2009, 331.
[16] Vgl. hierzu BT-Drs. 16/9643 vom 18.6.2008. Lediglich bei der Frage entstehender Mehrkosten ist vage die Rede von „möglicherweise erforderliche(n) besondere(n) Einrichtungen und Maßnahmen für junge Untergebrachte“ (Reg-E S. 11).