Betrifft: "Richard Herzinger: Die Freiheit nehm ich Dir. Der Bürger wird rundum überwacht - und findet nichts dabei"
Ob ausufernde Videoüberwachungen, präventive Telephonüberwachungen, E-Mail und Internetüberwachung, überwachungsgeneigte Infrastrukturen des täglichen Lebens wie Straßen- und Geldverkehr – Richard Herzinger beschreibt und diagnostiziert zutreffend, was mit diesen Entwicklungen eigentlich auf dem Spiel steht: nicht mehr und nicht weniger als die klassisch liberale Zivilisation wie wir sie kennen. Und sein Fazit mündet in einem Ruf nach einem wirksamen Recht: Namentlich auch das Recht, selbst entscheiden zu dürfen, ob man persönliche Daten preisgeben möchte oder nicht. Zuvörderst aber und noch vorausliegend auch: das Recht auf Transparenz: überhaupt erst einmal zu wissen, wer was wann über mich gespeichert hat. Und das ist wahrlich nicht zu viel verlangt: denn das Bundesverfassungsgericht selbst erhob diesen Anspruch bereits 1983, als es in seinem berühmt gewordenen Volkszählungsurteil die geplante Volkszählung kippte.
15.08.2003
HU-Leserbrief an die ZEIT Leserbriefredaktion
Ob ausufernde Videoüberwachungen, präventive Telephonüberwachungen, E-Mail und Internetüberwachung, überwachungsgeneigte Infrastrukturen des täglichen Lebens wie Straßen- und Geldverkehr – Richard Herzinger beschreibt und diagnostiziert zutreffend, was mit diesen Entwicklungen eigentlich auf dem Spiel steht: nicht mehr und nicht weniger als die klassisch liberale Zivilisation wie wir sie kennen. Und sein Fazit mündet in einem Ruf nach einem wirksamen Recht: Namentlich auch das Recht, selbst entscheiden zu dürfen, ob man persönliche Daten preisgeben möchte oder nicht. Zuvörderst aber und noch vorausliegend auch: das Recht auf Transparenz: überhaupt erst einmal zu wissen, wer was wann über mich gespeichert hat. Und das ist wahrlich nicht zu viel verlangt: denn das Bundesverfassungsgericht selbst erhob diesen Anspruch bereits 1983, als es in seinem berühmt gewordenen Volkszählungsurteil die geplante Volkszählung kippte.
In einem ist dem Autor jedoch nicht zuzustimmen: der von ihm in seinem Artikel rein liberalistisch gewendete Demokratiebegriff scheint mir eine Verkürzung zu beinhalten; es geht eben nicht nur um einen reinen Selbstzweck, wenn der Einzelne auf die Achtung und den Schutz seiner Menschen- und Bürgerrechte pocht. Vielmehr geht es bei der Frage nach dem Stand der Menschenrechte, und das hat ebenfalls das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen herausgearbeitet, regelmäßig auch um die Demokratie selbst. Es betrifft eben nicht nur den einzelnen, mit gutem Grunde empörten Bürger, dass ihm eine Kamera auf Schritt und Tritt auf seinem Weg durch die Innenstadt über die Schulter schaut. Vielmehr steht hier zugleich auf dem Spiel, was eine lebendige Demokratie ebenso braucht wie Menschen die Luft zum Atmen: unbeobachtete Freiräume, aus denen überhaupt erst der Wille Einzelner erwachsen kann, sich für das Ganze verantwortlich zu fühlen und es tatsächlich – hier treffe ich dann wieder mit Herzinger – verantwortlich zu übernehmen, anstatt aus Bequemlichkeit den vorauseilenden Grundrechtsverzicht zu üben. Dies wäre in der Tat dann das Ende nicht nur liberaler Zivilisation, sondern es wäre auch der Zustand eines „Stell Dir vor es ist Demokratie und keiner geht hin.“ erreicht. Auch die von Herzinger so gegeißelte „Diktatur der Mehrheit“ wäre dann also dahin.
HUMANISTISCHE UNION E.V.
Rechtsanwalt Nils Leopold, LL.M.
Bundesgeschäftsführer