Themen / Innere Sicherheit

BND-Aus­lands­über­wa­chung vor Gericht

21. Dezember 2016

in: vorgänge Nr. 216 (4/2016), S. 95-99

Die letzte Ausgabe der vorgänge (Heft 215, S. 49ff.) enthielt eine Übersicht von Musterklagen gegen geheimdienstliche Massenüberwachungen. Der dort dokumentierte Stand ist mittlerweile überholt: Eine der Klagen (Organstreitverfahren der G10-Kommission gegen die Bundesregierung zur Einsichtnahme in ausgefilterte NSA-Selektoren) wurde durch Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20.9.2016 (2 BvE 5/15) entschieden – die Anträge wurden vom Gericht als unzulässig zurückgewiesen, da die G10-Kommission nicht parteifähig sei. Auch eine zweite Klage der Reporter ohne Grenzen vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde mit Urteil vom 14.12.2016 weitgehend zurückgewiesen (BVerwG 6 A 9.14 und 6 A 2.15), lediglich bei der umfassenden Erhebung und Auswertung von Verkehrsdaten durch den BND sah das Gericht noch Entscheidungsbedarf.
Einen Neuzugang bei den Klagen gegen die BND-Überwachung gibt es dagegen auch zu verzeichnen: Amnesty International Deutschland, die Gesellschaft für Freiheitsrechte und mehrere Einzelpersonen haben im November 2016 eine Verfassungsbeschwerde gegen das G10-Gesetz eingereicht. Die Beschwerde wird vor Gericht von Prof. Dr. Matthias Bäcker vertreten. Der folgende Beitrag stellt Eckpunkte der Beschwerdeschrift vor.

Mit der am 3. Juli 2015 verabschiedeten Reform hatte der Bundestag den Katalog jener Gefahrenbereiche im G10-Gesetz erweitert, zu deren Erforschung der BND eine strategische Fernmeldeaufklärung betreiben darf. Die Beschwerde richtet sich jedoch nicht nur gegen den neuen Gefahrenbereich – mögliche Bedrohungen für die IT-Sicherheit – sondern gegen zahlreiche gesetzliche Regelungen der strategischen Überwachung. Bei der strategischen Fernmeldeaufklärung nach dem G10-Gesetz (G10) darf der Bundesnachrichtendienst die grenzüberschreitende Telekommunikation (zwischen Inland und Ausland) überwachen, um mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen. Bei der Maßnahme handelt es sich um eine flächendeckende, anlasslose Überwachungsmethode, die nicht auf konkreten Hinweisen oder Erkenntnissen über konkrete Gefahren beruht, sondern vorrangig dazu dient, das allgemeine Lagebild von BND bzw. Bundesregierung zu verbessern. Im Einzelfall liefern die Maßnahmen auch Verdachtsmomente, die Anlass für weitergehende Ermittlungen von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden sein können. [1]

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich insbesondere gegen folgende Mängel der gesetzlichen Praxis:

  • die Unverhältnismäßigkeit der strategischen Fernmeldeaufklärung insgesamt, weil die Überwachungsmaßnahme durch die verfahrensrechtlichen Vorgaben des Gesetzes kaum sinnvoll begrenzt werde
  • den fehlenden Schutz vor einer Überwachung des Kernbereichs privater Lebensgestaltung, insbesondere bei Ausländern (§ 5a Satz 7 G 10)
  • die Ausnahmeklausel in § 5 Abs. 2 S. 3 G10, wonach eine gezielte Überwachung der TK-Anschlüsse für ausländische Personen zulässig sei
  • die Übermittlung der erhobenen Daten an Strafverfolgungsbehörden, zu präventiven Zwecken an die Polizei sowie an andere deutsche bzw. ausländische Nachrichtendienste (§ 7 Abs. 2, 4 und 4a sowie § 7a Abs. 1 und 2 G 10)
  • die Ausnahmen von der Benachrichtigungspflicht für die Betroffenen (§ 12 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 G 10)
  • die unzureichende Dokumentation der Datenerhebung, die eine wirksame Kontrolle behindere (§ 5 Abs. 2 Satz 6, § 5a Satz 7, § 6 Abs. 1 Satz 5, § 7 Abs. 5 Satz 4 und § 7a Abs. 3 Satz 4 G 10)
  • die unzureichende Kontrolle und Datenschutzaufsicht des BND bei diesen Datenerhebungen, die sich u.a. aus der Zweiteilung der Kontrolle zwischen G10-Kommission und Bundesdatenschutzbeauftragter ergebe (§ 15 Abs. 5 Satz 2 G 10 und § 24 Abs. 2 Satz 3 BDSG).

Unter den Beschwerdeführern finden sich auch zwei US-amerikanische Staatsbürger, die eine Verletzung ihres Fernmeldegeheimnisses nach Artikel 10 GG durch den BND geltend machen. Dazu erörtert die Beschwerdeschrift ausführlich die Geltung des deutschen Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10 GG) bei der Erhebung ausländischer Kommunikationsdaten, die der BND im Inland vornimmt (S. 19ff). Die personale und territoriale Reichweite des Grundrechtsschutzes könne nicht abstrakt, sondern nur in Bezug auf das konkrete Grundrecht und das Eingriffsgeschehen beurteilt werden. Aus Sicht der Beschwerdeführer ergeben sich keine funktionalen Gründe, die dagegen sprechen, den grundrechtlichen Schutzbereich von Artikel 10 auf die landesinterne Kommunikation zu begrenzen:

„Hinsichtlich der Überwachung als solcher sind sachliche Unterschiede zwischen deutschen Staatsangehörigen, Personen im Inland und Ausländern im Ausland von vornherein nicht erkennbar, wenn die Überwachung vom Inland ausgeht. Die durch die Bundesrepublik verlaufende Telekommunikation ist stets dem Zugriff deutscher staatlicher Stellen ausgesetzt, einerlei wo sich die kommunizierenden Personen befinden. In jedem Fall werden dieselben hoheitlichen Mittel eingesetzt, um die Überwachung zu ermöglichen. Namentlich werden im Fall der strategischen Telekommunikationsüberwachung die Telekommunikationsunternehmen durch § 2 G 10 verpflichtet, an der Überwachung mitzuwirken. Hinsichtlich der Vertraulichkeit ihrer Fernkommunikation sind daher Ausländer im Ausland, die mit einem Partner in der Bundesrepublik kommunizieren, der deutschen Staatsgewalt in gleicher Weise unterworfen wie Personen im Inland. Das Argument der unterschiedlichen Betroffenheit von staatlichen Eingriffen ist mithin unzutreffend, soweit es um die Datenerhebung und anschließende Datenauswertung geht. Diese betreffen alle genannten Personenkreise gleichermaßen.“ (S. 22)

Keineswegs könne davon ausgegangen werden, dass die Folgen einer strategischen Fernmeldeaufklärung für ausländische Bürger weniger gravierend seien als für Deutsche. In Anbetracht möglicher Einreiseverbote, finanzieller Sanktionen, Strafverfolgungsmaßnahmen durch deutsche Stellen (bei Auslandsdelikten), von Bundeswehr-Kampfeinsätzen (die basierend auf Überwachungserkenntnissen gesteuert werden) sowie der Datenweitergabe an ausländische Stellen und daraus folgenden Maßnahmen seien gravierende Eingriffe in die Freiheitsrechte möglich, die kaum abgeschätzt werden können. Gegen ein unterschiedliches Schutzniveau für In- und Ausländer bei der Kommunikationsüberwachung durch den BND spreche außerdem, dass sich beim heutigen Stand der Technik kaum mehr zwischen nationaler, grenzüberschreitender und internationaler Kommunikation unterscheiden lasse – auf den meisten Datenleitungen treffe der BND alle drei Arten der Kommunikation an (s.S. 27 und 30ff.).

Mit der Beschwerde verfolgen die Antragsteller auch das Ziel, das Bundesverfassungsgericht zu einer Neubewertung der Überwachungsmaßnahme zu veranlassen – nachdem bereits eine frühere Regelung des G10-Gesetzes von den Verfassungsrichtern revidiert, aber in weiten Teilen für verfassungskonform befunden wurde (Urteil vom 14.7.1999, BVerfGE 100, 313). Dabei stützen sich die Beschwerdeführer auf zwei zentrale Argumente: Ersten funktionierten jene rechtlichen und praktischen Begrenzungen der Überwachungstätigkeit nicht mehr, die das Gericht 1999 noch als Voraussetzungen dafür ansah, dass die strategische Fernmeldeaufklärung verfassungskonform sein. Im Einzelnen handelt es sich dabei um folgende Kriterien: [2]

  • die Beschränkung auf geografische Zielgebiete der Überwachung (die inzwischen so weit gefasst sind, dass beispielsweise im Jahr 2010 für den Gefahrenbereich „Terrorismus“ 150 Staaten und weitere 46 Regionen überwacht wurden)
  • die Beschränkung der G10-Überwachung auf grenzüberschreitende, internationale Kommunikation – die mit technischen Mitteln kaum zu gewährleisten sei, weil den Datenpaketen kaum Informationen zu entnehmen sind, wo Absender bzw. Empfänger einer Nachricht zu lokalisieren sind bzw. welchen grundrechtlichen Schutzstatus sie haben
  • die Beschränkung auf nicht-leitungsgebundene Kommunikation (die 1999 nur einen Teil der elektronischen Kommunikation ausmachte – heute dagegen existiert kaum noch eine andere Form der TK-Übertragung)
  • die Benennung möglicher Gefahrenbereiche, die so allgemein und umfassend ist, dass der BND dafür über 10.000 Suchbegriffe einsetzt,
  • Schutz vor gezielter Überwachung einzelner TK-Anschlüsse, der bei genauerer Betrachtung nur vor einer gezielten Überwachung einzelner Telefon-/Faxanschlüsse, aber nicht vor einem gezielten Ausspähen einzelner Mailaccounts oder anderer Teilnehmerkennungen schützt
  • die Begrenzung des überwachten Datenstromes auf 20 % der Kommunikation, die sich jedoch nur auf die Übertragungskapazitäten der überwachten Netze bezieht und angesichts einer niedrigen Netzauslastung in der Praxis deutlich höhere Überwachungsanteile zulässt.

Der zweite Argumentationsstrang, mit dem die Beschwerdeführer eine grundrechtliche Neubewertung der strategischen Fernmeldeaufklärung anstreben, zielt auf den technischen Wandel, dem die Kommunikationsnetze seit 1999 unterworfen sind und der eine neue Sensibilität der TK-Daten erzeuge. Sie beziehen sich dabei auf drei Entwicklungen:

  • die Ausweitung klassischer Telekommunikation, die mit der besseren Verfügbarkeit der (Mobil-)Netze und Geräte (z.B. Mobiltelefonverbreitung in Deutschland), der Verbilligung entsprechender Angebote (günstigere Tarife) und der Verbreiterung des Angebots (Messenger, Soziale Netzwerke) verbunden ist
  • die Entwicklung der paketvermittelten Telekommunikation (IP-Netze) als Basisinfrastruktur, die neben Kommunikationsdiensten für zahlreiche weitere Dienste genutzt wird (Kraftfahrzeugdaten, Hausanlagensteuerungen …)
  • die damit verbundene Zunahme von Metadaten und deren inhaltliche Anreicherung korrespondiert mit zunehmenden Analysefähigkeiten für solche Daten: „Aus ihnen können weitreichende Rückschlüsse auf das Verhalten und die sozialen Beziehungen Einzelner gezogen werden, da sie sich – anders als manche Inhaltsdaten – inzwischen sehr weitgehend automatisiert auswerten und so beispielsweise zu Bewegungs- und Kommunikationsprofilen einzelner Personen oder zu komplexen Beziehungsnetzwerken aggregieren lassen …“ (S. 37)

In der Konsequenz müsste die grundrechtliche Sensibilität von Telekommunikationsdaten heute höher bewertet werden als 1999. „Angesichts der stark gestiegenen Eingriffsintensität strategischer Telekommunikationsüberwachungen erscheint zweifelhaft, ob solche Überwachungen überhaupt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen können. Aufgrund der technischen und ermittlungstaktischen Nähe zwischen strategischen Telekommunikationsüberwachungen und Rasterfahndungen liegt es näher, als verfassungsrechtliche Mindestschwelle für eine großflächige Erfassung und Auswertung der Telekommunikation wenigstens eine konkrete Gefahr für ein gewichtiges Rechtsgut zu fordern …“ (S. 38) Ein weitgehend anlasslose Überwachung wie in § 5 G10-Gesetz vorgesehen, sei dagegen heute nicht mehr hinnehmbar. Inwiefern das Bundesverfassungsgericht bereit ist, seine 1999 aufgestellten Leitsätze zur strategischen Fernmeldeaufklärung zu revidieren, bleibt abzuwarten.

Die Beschwerdeschrift gegen das G10-Gesetz ist bei der beteiligten Gesellschaft für Freiheitsrechte abrufbar: https://freiheitsrechte.org/index.php/2016/10/23/de-g10/.

SVEN LÜDERS   Jg. 1973, studierte Soziologe an der Freien Universität zu Berlin und ist seit 2004 Bundesgeschäftsführer der Humanistischen Union.

Anmerkungen:

[1] Zu den Fallzahlen vgl. die jährlichen Berichte des Parlamentarischen Kontrollgremiums über die G10-Maßnahmen, zuletzt in BT-Drs. 18/7423 v. 29.1.2016 für das Jahr 2014.

[2] Vgl. dazu auch detailliert Stellungnahme Prof. Bäcker vor dem 1. Untersuchungsausschuss des 18. Deutschen Bundestags vom 22.5.2014; zusammenfassend auch Lüders in vorgänge Nr. 206/207, S. 7-21.

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