Das Computer-Grundrecht: Herleitung - Funktion - Überzeugungskraft
Oliver Lepsius
Abgrenzung des neuen Grundrechts zu Artikel 2, 10 und 13 GG – subjektive Abwehrrechte vs. Anspruch auf Gewährleistung – Grundrechtsschutz und Sicherheitsarchitektur.
Dokumentation des Vortrags vom 28. April 2008
Oliver Lepsius ordnete mit seinem Vortrag über „Herleitung, Funktion und Überzeugungskraft“ das neue Computer-Grundrecht verfassungsdogmatisch ein. Da das Grundrecht ergänzend zu den angrenzenden Grundrechten auftrete, stelle sich die Frage, wie der neue Schutzbereich gegenüber den etablierten Schutzbereichen des Wohnraums, der fernmündlichen Kommunikation und der informationellen Selbstbestimmung abgegrenzt werde.
Sie können den vollständigen Vortrag von Prof. Dr. Oliver Lepsius hier nachhören:
Die im Vorfeld der Entscheidung am stärksten diskutierte Frage, ob eine Online-Durchsuchung in den geschützten Bereich des Wohnraums eingreife, hatte das Gericht mit Verweis auf ein raumbezogenes Schutzkonzept von Artikel 13 kurz und knapp abgewehrt: Da bei einem von außen infiltrierten Computersystem nicht eindeutig zu erkennen sei, ob sich dieses inner- oder außerhalb der Wohnung befinde, biete Artikel 13 keinen hinreichenden Schutz.
Gegenüber dem Fernmeldegeheimnis soll das neue Grundrecht auch jene Daten schützen, die nach Abschluss des Kommunikationsvorgangs gespeichert werden (etwa: das E-Mail-Archiv). Zudem schützt das Computer-Grundrecht nicht nur vor dem Zugriff auf individuelle Kommunikationsdaten, sondern auch vor einem Zugriff auf das Kommunikationssystem als solchem („unabhängig von seiner tatsächlichen individuellen Inanspruchnahme“).
Dieser Systemdatenschutz macht nach Lepsius auch die Abgrenzung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus: In einer nicht nachvollziehbaren Weise habe die Senatsentscheidung das klassische Datenschutzgrundrecht auf persönlich erzeugte Daten begrenzt, um die beim Betrieb von IT-Systemen automatisch anfallenden Daten und deren Schutz dem neuen Grundrecht zuzuordnen. Lepsius kommt deshalb zu dem Schluss, dass die Entscheidung zur Online-Durchsuchung nichts Gutes für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verheiße, da dessen Reichweite erheblich eingeschränkt wurde. Über die Alternative, die bereits etablierten Begriffe der Erhebung und Verarbeitung von individualisierbaren Daten auszuweiten, habe man offenbar nicht nachgedacht.
Die positive Bestimmung des neuen Grundrechts, sein Schutzanspruch, beruht auf der Einsicht, dass die Nutzung von Computern für eine freie Entfaltung der Persönlichkeit heute unverzichtbar ist. Mit der zunehmenden Bedeutung von Informationstechnologien im Alltag wird es nach Ansicht der Verfassungsrichter immer wichtiger, auch die dafür nötige Infrastruktur zu schützen. Ziel des neuen Computer-Grundrechts sei daher ein „objektiver Systemschutz“, der als Voraussetzung eines subjektiven Freiheitsraumes gesehen wird.
Bei der objektiv-rechtlichen Begründung des neuen Grundrechtes machte Lepsius indes zahlreiche Schwierigkeiten aus. So berge die Begründung eines Gewährleistungsrechts die Gefahr, dass der Schutzanspruch des Einzelnen unter einem „Gesellschaftsvorbehalt“ gestellt werde. Gewährleistungsansprüche werden üblicherweise durch funktionale oder organisatorische Bestimmungen umgesetzt, die gesellschaftlich normierte Freiheitsvorstellungen garantieren sollen. Wenn jedoch das individuelle Verhalten des Einzelnen nicht mit diesen objektiven Freiheitsbestimmungen übereinstimme, könnten die individuellen Freiheitsbelange zu kurz kommen, betroffene Bürger ihren Schutzanspruch nicht mehr wirksam einfordern.
Eine wichtige Funktion des Computer-Grundrechts kann nach Oliver Lepsius darin gesehen werden, dass es der „neuen Sicherheitsarchitektur“ eine neue Architektur des Grundrechtsschutzes entgegenstellt: Zunehmende „präventive“ Datenerhebungen und Überwachungen – etwa durch Rasterfahndungen, Vorratsdatenspeicherung, Flug- und Finanzdatentransfers – sprechen nicht mehr individuelle Gefährder an, sondern betreffen alle Bürger gleichermaßen. Der Einzelne könne sich diesen Überwachungen nicht entziehen, indem er sich gesetzeskonform und unverdächtig verhalte. Die heimliche Kontrolle werde allein damit begründet, dass er Teil einer allgemein gefährlichen Bevölkerungsmenge sei. Insofern findet in der Sicherheitspolitik eine Umkehr der Beweislast statt: Früher diente die heimliche Überwachung dazu, dass die Sicherheitsbehörden einen bestehenden Anfangsverdacht verfolgten. Heute muss dagegen jeder Bürger unter staatlichen Dauerbeobachtung leben und nachweisen, dass er oder sie wirklich nichts zu verbergen habe.
Hinzu kommt eine Vernetzung der erfassten Daten, die es erlaube, über den Einzelnen vorliegenden Informationen in einer Art und Weise zu aggregieren und zu verdichten, die weit über die Grenzen des menschlich Erfassbaren hinaus reichen. „Auf diese Summierung von Daten bis hin zum Persönlichkeitsprofil – auch sie lässt sich als eine Entindividualisierung beschreiben, nämlich ein Unterwandern punktueller, verhaltensbezogener grundrechtlicher Schutzbereiche – reagiert das BVerfG mit einem korrespondierenden Entindividualisierungs- und Objektivierungsprogramm.“ Die objektivrechtliche Begründung des Computer-Grundrechts soll also der Gefahr vorbeugen, dass am Ende der Überwacher mehr über den Überwachten weiß, als jener selbst über sich erfahren kann. Ob diese Rechnung jedoch aufgeht und die Freiheitsbilanz des Urteils am Ende positiv ausfallen wird, dies müsse sich erst noch zeigen, resümiert Oliver Lepsius.
Bericht: Sven Lüders
Das hier wiedergegebene Referat war ein Beitrag auf der Fachtagung „Online-Durchsuchungen. Konsequenzen des Karlsruher Richterspruchs“, die die Humanistische Union gemeinsam mit der Friedrich-Naumann-Stiftung am 28. April 2008 in Berlin veranstaltete. Die weiteren Referate der Fachtagung finden Sie hier dokumentiert.
Kategorie: Veranstaltungsberichte: Audio