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Der Fötus ist noch nicht ein Mensch. Philo­so­phi­sche Überle­gungen zum Problem der Abtreibung

31. August 1974

aus: vorgänge Nr. 10 (Heft 4/1974), S. 9-17

(vg) Das Problem einer vernünftigen strafrechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs ist in der Bundesrepublik immer noch nicht gelöst. Der Deutsche Bundestag hat sich zwar am 26. April eindeutig für die Fristenlösung entschieden und am 5. Mai mit klarer Mehrheit den Einspruch des Bundesrates zurückgewiesen. Aber das Land Baden- Württemberg und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben Verfassungsklage beim Bundesverfassungsgericht nach Artikel 2 des Grundgesetzes (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Unverletzlichkeit der Freiheit der Person) erhoben. Nach dem Bundespräsident Heinemann das Gesetz über die Reform des Paragraphen 218 am 18. Juni unterzeichnet hatte, hat das Bundesverfassungsgericht auf Antrag Baden-Württembergs am 22. Juni den Vollzug des Gesetzes mit einer Einstweiligen Anordnung ausgesetzt, bis es – bis zum Herbst – eine Entscheidung in der Hauptsache fällen wird.
In dieser Situation sind die philosophischen Überlegungen von Hans Saner, Philosoph aus der Schule von Karl Jaspers in Basel, von großer Bedeutung und neuer Aktualität, wenn sie auch zunächst für die Auseinandersetzung um die Neuregelung des Abtreibungstatbestandes in der Schweiz (die nicht wesentlich anders verläuft als die unsere in den letzten Jahren) geschrieben wurden.
Saner macht sich die Argumentation nicht leicht; vielleicht könnten seine Überlegungen darum auch den Richtern unseres Bundesverfassungsgerichts als Entscheidungshilfe dienlich sein.

Seit die Menschen den Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt sehen, scheinen sie unter dem Auseinanderklaffen von Geschlechtstrieb und Zeugungswillen zu leiden. Wir wissen nicht, wie viele Frauen, vielleicht aus religiösen, vielleicht aus moralischen Gründen, vielleicht auch aus Angst vor der diskriminierenden und strafenden Gesellschaft, sich in die Folgen dieser Divergenz gefügt haben; aber wir wissen, daß zumindest bei den Kulturvölkern, überall und zu jeder Zeit der künstliche Schwangerschaftsabbruch, ob nun verboten oder nicht, als nachträgliches Korrektiv dieser Divergenz diente.
Es scheint nicht bloß eine gelegentliche bis häufige Ausnahme, sondern geradezu eine anthropologische Gepflogenheit zu sein, daß die Geborenen, vor allem aber die Gebärende selbst, unter Umständen über das Lebensrecht des zu Gebärenden entscheiden. Die willentliche Tötung gibt es auch im Tierreich; die willentliche Abtötung der Leibesfrucht ist ein Anthropologicum.

Ein übliches mensch­li­ches Verhalten

Daß es keine Übertreibung ist, von einer menschlichen Gepflogenheit zu sprechen, zeigen die uns zugänglichen Zahlen. Schon die offiziellen Statistiken lassen aufhorchen: In der Schweiz (in deren Abtreibungsdebatte diese Überlegungen verfaßt wurden) entfällt auf jede fünfte Geburt ein Spontan-Abort. Man weiß aber, daß etwa die Hälfte der Spontan-Aborte wieder provoziert sind. Zudem fällt, und hier bewegen wir uns nun fast ganz im Bereich der Dunkelziffern, vielleicht auf jede zweite Geburt ein illegaler Abort.
Auf fünf ausgetragene Schwangerschaften kommen also etwa vier willentlich abgebrochene. Dieses schweizer Verhältnis scheint eher ein wenig unter dem westeuropäischen Durchschnitt zu liegen. Man darf als Faustregel annehmen: pro Geburt ein Abbruch. Jährlich werden allein in Westeuropa einige Millionen Schwangerschaften willentlich abgebrochen. Wollte man es für einen Augenblick mit den Rechtskategorien nicht zu genau nehmen, so könnte man mit Karl Barth von einem „heimlichen und offenen Massenmord“ sprechen, der auf diesem Gebiet zur Gewohnheit geworden ist. Spricht man außerhalb des Rechts und wertfrei, so muß man festhalten: Der Schwangerschaftsabbruch ist heute ein ebenso übliches Verhalten der Geborenen zu den Ungeborenen wie das Gebären selber.

Erlaubt oder Mord?

Obwohl also alle Völker gleichermaßen (wenn auch nicht in gleichem Ausmaß) abgetrieben haben und abtreiben; obwohl die Abtreibung, wertfrei gesehen, geradezu als Normverhalten beschrieben werden müßte, gehen die Wertungen, und zwar die ethischen und rechtlichen, nicht nur im Verlauf der Zeiten, sondern auch innerhalb der gleichen Zeit und des gleichen sozialen Raumes, in ungeheurem Maße auseinander.
Rechtlich reichen die Qualifikationen vom erlaubten Akt über das kleine Vergehen bis zum Kapitalverbrechen, und entsprechend waren die Strafen angesetzt, nämlich von Straffreiheit über eine geringe Geldstrafe bis zu Gefängnis, Zuchthaus, Verbannung, Tod durch das Schwert, den Strang, das Rad, durch Ertränken und lebendig Begraben.
Ethisch schwankte die Wertung vom erlaubten, ja unter Umständen gebotenen Akt bis zum unter keinen Umständen verantwortbaren Homicid (Menschenmord).
Im großen gesehen, scheint das menschliche Gewissen selten so unsicher und wechselnd entschieden zu haben wie in dieser Sache. Sicherheit fand es offenbar nur in einer letzten transzendenten Bindung – freilich eine Sicherheit, die wieder über viele Menschen eine namenlose Not gebracht hat. Je genuiner religiös das Denken war, desto sicherer hat es den Abort prinzipiell abgelehnt, obwohl dafür in den „heiligen Schriften“ keine direkten Weisungen zu finden sind. Im Namen des Erbarmens mit den Ungeborenen wurde man erbarmungslos mit den Gebärenden – bis hinein in das legalisierte Verbrechen.
Historisch ist unter allen alten Kulturen eine strikte Ablehnung des Abortes nur im alt-indischen Recht zu finden – aus Gründen der Seelenwanderung.

Die Antike war unbefangen

Die Griechen standen der Frage unbefangen, nahezu außerethisch gegenüber. Platon empfahl den Abort aus eugenischen Gründen, wenn Mann und Frau das günstige Zeugungsalter überschritten haben. Aristoteles riet aus ökonomischen Erwägungen zu ihm, wenn die Kinderzahl in der Familie oder im Staat zu groß wird. Bei ihm ist zum ersten Mal der Abort als Methode der Geburtenregelung eingesetzt. Hippokrates, der ihnen zeitgenössische, etwas ältere Arzt, nahm im Asklepiaden-Eid seinen Berufskollegen das Gelöbnis ab, „keiner Frau ein Mittel zur Vernichtung keimenden Lebens“ zu geben. Er selber hat aber berechnet, wann die Vornahme einer Abtreibung besonders günstig ist, und er selber beschreibt, wie er einer Harfenspielerin zu einem Abort verhilft. Der Gedanke, daß die Leibesfrucht schützenswert ist, allein weil sie lebt, war den Griechen fremd. Nicht dem Leben, auch nicht dem menschlichen Leben als solchem galt ihre Ehrfurcht, sondern allein dem vernünftig erfüllten Leben.
Auch im älteren Römischen Recht gab es keine grundsätzliche Bestrafung des Aborts. Unter dem Einfluß der Stoa galt der Fötus als „portio mulieris“, als Teil des Weibes, oder gar als „pars viscerum matris“, als Teil der Eingeweide der Mutter. Sie durfte darüber verfügen, wenn sie nur nicht dem Willen des Vaters zuwiderhandelte; denn letztlich war das „ius vitae et necis“, das Recht über Leben und Tod, ihm anheimgestellt. Es räumte ihm selbst über das Neugeborene die absolute Verfügungsgewalt ein. Irgendein Recht des Ungeborenen gab es also nicht. Auch dort wo vom Nasciturus (vom zu Gebärenden) ausdrücklich die Rede ist, nämlich im Erbrecht, schützte der Gesetzgeber nicht das Recht eines Ungeborenen, sondern das eines künftigen Geborenen.
Erst als das Christentum Staatsreligion geworden war, drang nun ins Römische Recht ein anderer Zug in der Beurteilung des Aborts. Kaiser Konstantin setzte, soviel ich sehe zum ersten Mal, auf Abtreibung die Todesstrafe, und zwar durch das Schwert. Dieser Wende liegt eine völlig neue Wertung des Ungeborenen zugrunde, die zurückgeht auf den Schöpfer der lateinischen Theologie: auf Tertullian.
Tertullian sagt: „Wir hingegen dürfen, nachdem uns ein für allemal das Töten eines Menschen verboten ist, selbst den Embryo im Mutterleibe, solange noch das Blut sich für den neuen Menschen absondert, nicht zerstören. Ein vorweggenommener Mord ist es, wenn man eine Geburt verhindert; es fällt nicht ins Gewicht, ob man einem Menschen nach der Geburt das Leben raubt oder es bereits im werdenden Zustand vernichtet. Ein Mensch ist auch schon, was erst ein Mensch werden soll – auch jede Frucht ist schon in ihrem Samen enthalten“ (Apol. 9.8). Bei Tertullian also führte vorerst das teleologische (zweckgerichtete) Denken zu jenem geradezu klassischen Satz: „Homo est et qui est futurus“: „Ein Mensch ist auch schon, was erst ein Mensch werden soll.“ Damit war der Abort gewertet als Homicid.

Das Christentum als Zäsur

Zu diesem an sich profanen Gedanken kamen nun, die Abwehr verstärkend, ein allgemein religiöser und ein spezifisch christlicher Gedanke hinzu. Der allgemein religiöse besagte etwa: „Allein Gott ist der Herr über Leben und Tod. Nicht der Mensch soll hier entscheiden, sondern Gott allein; darum ist jeder vernichtende Eingriff in das Werden des Menschen kategorisch abzulehnen.“
Der spezifisch christliche Gedanke besagte: „Für den Menschen geht es letztlich um das Heil der Seele. Wer einen Ungeborenen tötet, beraubt einen Menschen der möglichen Seligkeit.“ Dieser Raub der Seligkeit war es denn auch, was aus dem Abort ein Verbrechen machte, das eigentlich schwerer wog als jeder andere Mord; denn kein anderer, es sei denn die ganz frühe Kindstötung, vernichtete den Sinn des Daseins in alle Ewigkeit hinein.
Der orthodoxe Katholizismus ist mit gleichermaßen empörender und imponierender Härte bei diesen Argumenten geblieben. Noch in einer Schrift des früheren Bischofs von Streng wurden sie als ultima ratio gegen jedes vermeintliche Recht auf Abtreibung angeführt. Selbst in den Grenzfällen, wo das Leben der Mutter gegen das Leben des Kindes steht, darf man, so führt von Streng aus, die Mutter nicht auf Kosten des Kindes retten: „Die Mutter, die stirbt, kann vor dem Tode ihr Seelenheil noch bestellen, nicht aber kann dies das ungeborene Kind tun. Wird es getötet, so setzt man zwei Seelen auf das Spiel. Es darf in dieser Frage kein Zugeständnis gemacht werden … Gott ist der Herr über Leben und Tod. Nicht der Mensch soll darüber entscheiden, sondern eine höhere Macht“ (Um das Leben von Mutter und Kind, 1932).

Beseelungstheorien

Wenn auch Tertullians Satz in den Kirchen Allgemeingut geworden ist, so galt er doch bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht in totaler Strenge. Augustin, der an der antiken Philosophie geschulte Kirchenvater, kannte die Meinung des Aristoteles, daß der Embryo erst allmählich beseelt werde: der männliche am 40. Tag nach der Zeugung, der weibliche am 80. Diese Lehre von der Sukzessivbeseelung, in vielen Variationen vorhanden, pendelte sich bei Plinius, im Talmud und bei Galenus auf den 40. Tag ein. So übernahm sie Augustin, während später Thomas von Aquin sich wieder an die Zeitpunkte des Aristoteles hielt.
Augustin unterschied deshalb den fetus formatus oder animatus vom fetus informatus oder inanimatus. Nur die Abtreibung des beseelten Fötus war für ihn ein Homicid, während die Abtreibung eines unbeseelten Embryo ihm als nicht allzu schwere Sünde galt. Diese Unterscheidung schlug sich im Kanonischen Recht nieder und ermöglichte eine relativ milde Beurteilung des Aborts, sofern er früh genug vorgenommen wurde.
Erst im 18. und 19. Jahrhundert drang die auf griechische Kirchenväter zurückgehende und von Albertus Magnus, dem Lehrer des Thomas von Aquin, vertretene Meinung von der Simultanbeseelung in die kirchliche Lehre und dann auch in das Recht ein. Sie besagt, modern gefaßt, daß Gott im Augenblick der Befruchtung der vereinigten Zelle eine Seele zulegt. Praktisch führte diese an sich weniger willkürliche Theorie zu einer Verschärfung der Abtreibungsverbote. Erst jetzt konnte Tertullian in die kirchliche Lehre und in das Kanonische Recht ungeschmälert eingehen. In die weltlichen Rechtsordnungen war indessen da und dort ein kleines Stück Aufklärung eingedrungen.
Richtet man den Blick auf all das, was im Abendland über die Schwangerschaftsunterbrechung gedacht und gesagt worden ist, dann bedeutet das Christentum eine ungeheure Zäsur. Vor und außer ihm galt: „Der Fötus ist nicht ein Mensch.“ Es entgegnete: „Der Fötus ist ein Mensch.“ Beide Positionen sind, so scheint mir, undialektische Verkürzungen der Dialektik des Werdens. Ich halte deshalb beide für unwahr, und es scheint mir bezeichnend zu sein, daß sie, bis ins Recht hinein, in unkritische Parolen ausarten konnten: die christliche Position in den Ruf „Jeder Abort ist Mord!“, die antike Position in das Schlagwort „Freiheit für meinen Bauch!“
Um diesen Versimpelungen zu entgehen, muß man sich, was nur selten geschehen ist, auf die Seinsweise des Fötus besinnen.

Seinsweise des Fötus

Noch immer herrscht die gängige Meinung vor, daß mit der Befruchtung neues Leben erschaffen werde. Diese Ansicht spiegelt sich etwa in der Rechtssprache, wenn sie vom Schutz des „werdenden Lebens“ spricht.
Was „Leben“ ist, können wir zwar nicht befriedigend definieren; aber Leben ist biologisch immer und überall zelluläres Leben. Zelluläres Leben beginnt nun keineswegs mit der Befruchtung, so als ob in ihr durch die Verschmelzung von zwei anorganischen Partikeln die erste organische Zelle entstünde. Vielmehr haben bereits das Ei und das Spermium zelluläres Leben. Sie sind lebendige Zellen, organische Teile lebendiger Menschen. Ihr Leben bricht im Vorgang der Konzeption nirgends ab; deshalb kann in oder nach ihm Leben auch nicht neu beginnen.
Leben wird demzufolge nicht erst vernichtet, wenn der Embryo oder das bereits befruchtete Ei, das Spermovium, abgetötet werden; biologisch wird Leben auch vernichtet, wenn – durch Verhinderung der Befruchtung – das Ei und die Spermien getrennt absterben. Und sie sterben nicht ab als unbestimmtes, allgemeines Leben. Sie tragen den Bauplan des Lebewesens, dessen organischer Teil sie sind, in sich: bereits sie sind der Anlage nach spezifisch organisiertes, menschliches Leben. Deshalb ist das orthodoxe katholische Verbot jeder willentlichen Empfängnisverhütung nicht ohne biologische Basis. Es fragt sich nur, zu welcher Art der menschlichen Gemeinschaft sein Konsequenzenfanatismus führt.
Nicht biologisches Leben beginnt also mit der Empfängnis neu; wohl aber beginnt neu eine bestimmte individuelle Merkmalstruktur dieses Lebens. Ein neuer Prozeß der Individuation setzt ein. Mit einem Wort: Es entsteht ein neues Lebewesen.
Wann beginnt dieses Lebewesen menschliches Lebewesen zu werden? Die einen sagen: mit der Befruchtung. Andere sagen: mit der Nidation, das heißt der Einnistung des befruchteten Eis in die Gebärmutter; denn, so argumentieren sie, erst jetzt, etwa sieben bis zwölf Tage nach der Befruchtung, wird die Mehrlingsbildung ausgeschlossen: es entsteht nun dieses Lebewesen, ein Individuum. Noch andere sagen: dieses Lebewesen wird menschliches Wesen mit der Ausbildung der Großhirnrinde, also in der Zeit etwa vom 20. bis 40. Tag nach der Befruchtung; denn, so argumentieren sie, erst das Großhirn macht den Menschen zum Kulturwesen, und damit zur Person.
Mir scheint nun: Das werdende Lebewesen kann auf keiner Stufe seiner Entwicklung bloß als allgemeines oder pflanzliches oder tierisches Lebewesen betrachtet werden. Es ist ja nicht eine allmählich oder durch bestimmte Ereignisse sich plötzlich individualisierende Emanation aus dem allgemeinen Kontinuum Leben, kein plötzliches Hervortreten aus dem Lebensstrom. Sondern es ist ein Werden aus der Vereinigung zweier Zellen, die bereits spezifisch menschlich organisiert sind. Der ganze Prozeß dieses Werdens ist deshalb darauf angelegt, einen Menschen herauszubilden. Kurzum: Dieses Lebewesen ist immer schon menschliches Lebewesen, weil es je schon, und selbst über sich hinausweisend, in menschlichen Lebenszusammenhängen steht.
Dieses Lebewesen ist in jeder Phase seiner pränatalen (vorgeburtlichen) Existenz vom mütterlichen Leib extrem abhängig. Es lebt in der Mutter in einer nahezu parasitären Symbiose mit ihr und von ihr. Aber außer Zweifel steht, daß es selber nie mit der Mutter identisch oder bloß ein organischer Teil der Mutter ist. Es ist ein Lebewesen mit einer neuen Merkmalstruktur, ein Lebewesen, das in der Mutter absterben kann, ohne daß die Mutter mitstirbt, ein Lebewesen, das von der Mutter geboren wird, das aber, wie Experimente gezeigt haben, vermutlich von Anfang an außerhalb der Mutter sich herausbilden und wachsen könnte, wenn es gelänge, ihm mutterähnliche Bedingungen zu schaffen. Das Verfügen über den Mutterleib ist ein Mitverfügen über den Embryo: das Verfügen über den Embryo ist nicht nur ein Verfügen über den Mutterleib.
Aus all dem müssen wir schließen:
1. Der Fötus ist nicht bloß werdendes Leben, sondern ein werdendes Lebewesen, das über sich hinausweist in frühere Lebenszusammenhänge.
2. Der Fötus ist als Lebewesen spezifisch organisiertes, menschliches Leben.
3. Der Fötus steht als menschliches Leben in einem Prozeß der Individuation und Personifikation zu einem bestimmten Menschen hin. Ungefähr soviel halte ich für wissenschaftlich entscheidbar, und es scheint mir keine Frage zu sein, daß die moderne Biologie und die moderne Medizin in diese Richtung weisen.

Ist dieses Lebewesen auch ein Mensch?

Damit aber beginnt erst die Schwierigkeit: Ist dieses spezifisch organisierte, auf einen bestimmten Menschen hin sich bildende und hinwachsende Lebewesen darum auch ein Mensch?
Wer die Frage beantworten will, muß offenbar wissen, was der Mensch ist. Dafür gibt es keine befriedigende Antwort in den Wissenschaften. Aus der Geschichte des Denkens hören wir: Der Mensch ist das Zoon logon echon: das Wesen, das Sprache hat. Oder: Der Mensch ist das animal rationale: das vernunftbegabte Tier. Oder auch: Er ist das Zoon politikon: das wesensmäßig in eine organisierte Gemeinschaft hineingehörende Lebewesen.
Wer nach dem Sein des Menschen fragt, der fragt offenbar nicht bloß nach menschlichem Leben, sondern, über die biologische Basis hinaus, nach dem Humanen in diesem Lebewesen. Wir halten uns, der Einfachheit halber, gleichsam an ein Minimalprogramm, an die hervorspringenden anthropologischen Merkmale: Der Mensch ist das sprachbegabte, kulturschaffende, aufgerichtete Lebewesen.
Wenn wir menschliches Leben mit diesen anthropologischen Merkmalen Menschsein nennen, dann gilt für den Fötus: keines dieser Merkmale ist dem Fötus eigen; ihm kommt Menschsein nicht zu. Aber zugleich gilt: der Fötus ist in seinem ganzen Herausbilden und Wachsen biologisch schon angelegt auf das hin, was er werden wird; insofern kann man ihm das Menschsein von der Anlage her nicht absprechen. Wir fassen seine Seinsweise deshalb in die Formel: Der Ungeborene ist Sein zum Menschsein. Dies besagt: Der Ungeborene ist noch nicht, was er erst wird; aber was er erst wird, ist er doch schon in seiner Anlage.
Bei dieser abstrakten begrifflichen Dialektik des Werdens hat es indes kein Bewenden. Sie muß zugleich eine in der wirklichen Geschichte stehende, am Zeitverlauf zu bemessende, konkrete Realdialektik werden.
Das heißt: Obwohl der Fötus zu allen Zeiten Sein zum Menschsein ist, so macht es doch etwas aus, auf welcher Stufe des Werdens das Ungeborene steht: ob es noch eine Zygote ist, die sich in der Gebärmutter noch nicht eingenistet hat, ob ein etwa 14 Wochen alter, in der menschlichen Gestalt schon fast völlig ausgebildeter oder gar ein 28 Wochen alter Fötus, der auch außerhalb des Mutterleibes lebensfähig wäre. Eben weil eine konkrete Dialektik vorliegt, zerbricht jeder eindeutige, prinzipielle Lösungsversuch der Abortfrage.

Geburt als „Sprung“

Hier zeigt sich nun, weshalb sowohl die antike Aussage „Der Ungeborene ist nicht Menschsein“ als auch die christliche Entgegnung „Der Ungeborene ist Menschsein“ Verkürzungen sind in doppelter Hinsicht. Beide übergehen 1. die abstrakte Dialektik des Werdens in dieser Frage und gelangen so zu thetischen (behauptenden) Aussagen, die Teilwahrheiten für umfassende Wahrheiten ausgeben. Beide übersehen 2. die konkrete Dialektik des Sich-Herausbildens und Wachsens und bieten so nur prinzipielle Lösungen an, wo im Grunde genommen auch Ermessensfragen gestellt sind.
Man kann all dem entgegenhalten: Was nun über das Ungeborene gesagt worden ist, das gilt auch für das Neugeborene: auch dies ist nicht das sprachbegabte, aufgerichtete, kulturschaffende Lebewesen, sondern, im Verhältnis zu diesem, nur Sein zum Menschsein. Sicher steht auch der neugeborene Mensch noch in jener Realdialektik. Insofern ist die Geburt nur ein besonderer Schritt innerhalb einer Entwicklung. Aber sie ist zugleich, wie Hegel gesagt hat, ein „ungeheurer Sprung“. Erst durch sie wird nämlich der Mensch in jene Bedingungen gestellt, in denen er ein Kulturwesen werden kann; durch sie wird der Weltbezug möglich, der Bezug zur Sozietät und mit beidem auch der reflexive Bezug auf sich selbst. Die Geburt ist deshalb für den Menschen die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt ein Kulturwesen zu werden und damit der Anfang des Anfangens: der Anfang der Nachahmung, des Lernens und des spontanen Versuchens. Ich kann das hier im einzelnen nicht ausführen, glaube aber, daß die uralte Betrachtungsweise, wonach das Zur-Welt-Kommen der Anfang des Menschseins ist, bei aller möglichen Kritik eine tiefe Weisheit bleibt.
Es scheint mir, aus all dem, ganz richtig zu sein, daß man für das Ungeborene nicht das Wort „Kind“ oder „Mensch“ gebraucht, sondern eine besondere Vokabel, die jene spezielle Seinsweise des Seins zum Menschsein antönt, sei dies nun Fötus oder Leibesfrucht. Von der Leibesfrucht sollte man auch nicht sagen, daß sie stirbt, sondern daß sie abstirbt, und nicht, daß sie getötet, sondern daß sie abgetötet wird. All das entspricht durchaus einem verbreiteten Empfinden. Auch ist in allen vernünftigen Rechtsordnungen der Fötus nicht ein mit dem Menschen identisches Rechtsgut.

Ethische Probleme

Da der Fötus Sein zum Menschsein ist, ist jeder Schwangerschaftsabbruch, sei er nun legal oder illegal, grundsätzlich ein ethisches Problem. Da aber Sein zum Menschsein in einem realen Prozeß zum Menschen hin steht, ist nicht jeder Abbruch in gleichem Ausmaß ein ethisches Problem.
Welche ethischen Normen kommen nun da ins Spiel? Soll man Albert Schweitzers Maxime „Ehrfurcht vor dem Leben“ zum ethischen Imperativ umformen? Etwa von der Art: „Du sollst jegliches Leben schützen!“ Das ist schlechthin unmöglich und widersinnig. Leben ist ja nicht erst im Menschen, sondern in der ganzen belebten Natur, auch im Schalentier, im Moskito, im Unkraut. Der Mensch hat von jeher nur dadurch sein Leben erhalten können, daß er anderes Leben vernichtet hat.
Soll man wenigstens jedes menschliche Leben schützen? Auch das ist nicht möglich. Denn nicht erst das befruchtete Ei lebt, sondern auch schon das Ei allein und die Spermien. Ob wir es zur Kenntnis nehmen oder nicht: Wir vernichten ständig auch spezifisch menschlich organisiertes Leben.
Kann man dann als Minimum fordern, daß jedes Sein zum Menschsein, also jedes menschliche, fötale Lebewesen, ethisch gesehen, unseren Schutz unbedingt erfordert? Das könnte ein kategorischer Imperativ nur sein – wenn der Fötus ein Lebewesen ohne Bezug zur Gesellschaft wäre, ein Einzelner, der gleichsam ein Stück Welt mit zur Welt bringt. Aber so ist das nicht. Er wird gezeugt von zwei Menschen, getragen und geboren von einer Mutter, gehegt dann und erzogen wieder von der Mutter und von der Familie und aufgenommen von der Gesellschaft.
Das werdende Lebewesen ist von Anfang an ein Gesellschaftswesen, vorerst fast ausschließlich im passiven Sinn. Es beansprucht während der Schwangerschaft und als Mensch nach der Geburt auf Jahre hinaus ununterbrochen und intensiv andere Menschen: körperlich, psychisch und sozial. Eben deshalb erwachsen die Pflichtenkollisionen um sein Dasein: Kollisionen zwischen ihm und der ersten bergenden Menschengruppe, zwischen ihm und der Menschengesellschaft.

Die „Indi­ka­ti­onen“

Ich sage nun: Keine dieser Kollisionen ist rational und ethisch so zu lösen, daß ihre Lösung nicht in jedem Fall ein Wagnis bliebe, das verantwortet werden muß.

Wir fragen von der Beziehung Fötus – künftiger Mensch her: Ist es verantwortbar, eine Schwangerschaft, gleichsam im Interesse des künftigen Menschen, abzubrechen, wenn wir mit Sicherheit wissen, daß schon das keimende Lebewesen durch schwere Mißbildungen deformiert ist? Daß diese eugenische Indikation, die ein wenig in die Nähe der Euthanasie kommt (obwohl sie etwas ganz anderes ist), problematisch bleibt, sehen wir alle: wie kann man ein menschliches Lebewesen zu seinem eigenen Wohl vernichten?
Aber die Gegenfrage verbergen wir uns: wie kann man es verantworten, ein verkrüppeltes Wesen in ein Dasein zu schicken, das Entbehrung, Ausstoßung, Bemitleidung und Not bedeuten wird? Der Möglichkeit nach ist weder das Abtöten noch das Zur-Welt-Bringen zu verantworten. Es gibt aber kein Drittes. Zwischen den beiden müssen wir wählen, auch dann noch, wenn wir uns die Grenzsituation dieser Wahl verschleiern und so tun, als ob Gott oder der Zufall sie für uns vollzogen hätte.

Zum Verhältnis Fötus – Mutter stellen wir die Frage: Wenn Leben gegen Leben steht, was tun wir dann? Wir sagen im Fall dieser medizinischen Indikation meist: Dann wählen wir die Mutter, für sich selbst und für die Familie.
Aber wir verbergen uns die Gegenfrage: Wer weiß denn so genau, ob nicht im späteren Verlauf der Schwangerschaft oder bei der Geburt die Mutter plötzlich für ihr Kind oder wegen des Kindes mit dem Leben bezahlt? – Wer weiß denn, ob im Einzelfall nicht das abgetriebene Lebewesen der Anlage nach ein höheres Gut gewesen wäre? Ob es nicht doch hätte gerettet werden können? Wer darf denn überhaupt zwischen zwei Lebewesen abwägen? – Wer das allgemein weiß, weiß zuviel.

Und im gleichen Verhältnis fragen wir weiter: Was, wenn ein Lebewesen in Notzucht gezeugt wird? Wir denken heute bei dieser ethischen (man sagt besser: juristischen) Indikation meist: Dann soll die Mutter wählen, ob sie gebären will.
Warum aber soll, und das verbergen wir uns, die deliktisch gezeugte Leibesfrucht nicht auch schützenswert sein? Wer nennt denn jene anderen aufgezwungenen Schwangerschaften, die der nie geahndeten ehelichen Notzucht entspringen? Wenn die Freiheit etwas gilt, dann gibt es hier eine große Anzahl geheiligter Verbrechen.
Im Hinblick auf das Verhältnis Fötus – soziale Gruppe fragen wird: Wenn eine Geburt ein tiefes soziales Elend vergrößert, was dann? Wir denken, angesichts dieser sozialen Indikation, meist: Armut und Entbehrung sind zwar ein Elend; aber sie sind nichts Endgültiges; endgültig aber ist der Tod, und so wählen wir für den Fötus das Leben.
Aber vielleicht denkt so nur, wer das Elend bloß vom Hörensagen kennt. An sozialen Mißständen: an Armut, Ausbeutung und Not, verkommen heute mehr Menschen als an irgendeiner der großen Krankheitsgruppen. Das Soziale ist, weltweit gesehen, ein wesentlicherer Faktor der Gesundheit als unsere indizierbaren Wohlstands-Psychen. Hat also die Mutter ein Recht, das wirkliche, trostlose und engende Elend ihrer sozialen Gruppe durch einen Noch-Hinzukommenden zu vergrößern?
Und schließlich: Im Hinblick auf das Verhältnis Fötus – Menschengeschlecht fragen wir: Wie lange kann die weltweite Explosion der Bevölkerung ungestraft noch weiter gehen? Angesichts dieser demopolitischen Indikation denken wir heute noch meist: Für diesen einen da, mit dem eine Frau nun schwanger geht, findet sich auf der Welt immer noch ein Platz. Es gibt keine demopolitischen Gründe, Föten nicht auszutragen.
Aber wer so denkt, denkt in der Welt von gestern. Heute schon nimmt die Weltbevölkerung täglich um über 200 000 Menschen zu. Wenn es nicht in absehbarer Zeit gelingt, das Gleichgewicht zwischen Geburten- und Sterberate herzustellen, naht eine Katastrophe von ungeheuren Ausmaßen. Noch wagt es niemand zu sagen, weil das den Anstand, das religiöse und das ethische Gefühl verletzt – und doch wissen wir es schon alle: Es wäre, konkret gesprochen, für unser Land (d.h. die Schweiz) schlechthin ein Unglück, wenn die 50 000 jährlich illegal abgetriebenen Föten auch noch zur Welt gebracht würden. – Wir können uns heute bereits eine Welt ausdenken, in der die Eltern von ihren Kindern sagen: „Daß sie leben, ist unsere Schuld.“ Der Schwangerschaftsabbruch mag die schlechteste Form der Geburtenregelung sein – statistisch gesehen, ist er immerhin eine.

Wer soll entschei­den?

Also doch noch ein Plädoyer für den Schwangerschaftsabbruch? Keineswegs. Ich sage nur: Wer alle Verhältnisse des Fötus zur Lebensgemeinschaft mitbedenkt, verliert den Glauben an jede allgemeine Lösung. Er sieht einerseits: Jeder Abbruch ist und bleibt eine Grenzüberschreitung; aber er sieht zugleich: auch das Zur-Welt-Bringen muß immer und kann vielleicht nie verantwortet werden: vor dem Kind selbst, vor der Mutter, der Familie und der Gesellschaft. Wie in diesem Geflecht der Beziehungen die Faktizitäten liegen, wie die Werte gesetzt sind, wie die Zumutungen noch gemacht werden dürfen und die Verantwortungen getragen werden können: das muß von Fall zu Fall erwogen werden.
Der auf dieses Abwägen folgende Entscheid ist aber nur dann ein moralischer Entscheid, wenn er im Raum der Freiheit, auf die eigene Verantwortung hin, gewagt wird. Freiheit gibt es nur dort, wo man ja oder nein sagen könnte. Ja oder nein darf man nur dort sagen, wo keine Institution und kein Recht vorschreibt, daß man nur das eine sagen darf. Und nur dort wird die Freiheit ethisch auch erfüllt, wo die persönliche Entscheidung aus der an sich möglichen Wahl auch gewagt wird.
Aber wer soll diesen ethischen Entscheid fällen? Vielleicht eine Gruppe von Spezialisten, innerhalb deren der Gynäkologe das physische, der Psychiater das seelische, der Theologe das religiöse, der Sozialhelfer das soziale und der Demograph das demopolitische Moment in die Waagschale legt?
Eine derartige Lösung, heute vielerorts praktiziert, beweist nur die ethische Konfusion unserer Gesellschaft in dieser Frage. Die Mutter darf nicht frei sein zum Entscheid, aber sie soll doch die Verantwortung für den Entscheid der Anderen übernehmen. Das ist ethisches Sklaventum unter dem Joch überheblicher „Fachleute“: die kleinen Götter halten Rat über die Zukunft der Mägde und ihrer Kinder. Ethisch entscheiden kann doch nur, wer in der Realität auch die Folgen aus diesem Entscheid trägt und verantwortet; in diesem Fall also vorab die Mutter, die auf Gedeih und Verderb mit diesem Lebewesen, nicht allein für die Zeit der Schwangerschaft, verbunden ist, und dann mitbestimmend der Vater als Miterzeuger.
Es darf den Zwang zur Schwangerschaft nicht geben; denn er führt unweigerlich, so paradox das klingen mag, in der Zukunft zum Verbot des Gebärens. In beiden Fällen aber hat die Ethik je schon kollabiert, hat sie ihre Macht verloren. Das schwangere und gebärende Wesen, die Frau, hat in ihnen seine Würde verloren. Die ethische Verlotterung in der Abtreibungsfrage zeigt sich nicht darin, daß abgetrieben wird, sondern darin, daß die Gesellschaft ein moralisches Problem rechtlich durch ein Verbot fixiert und damit Entscheide unter Strafe stellt, die ethisch vielleicht geboten wären. Kirche und Justiz: beide haben das Gesetz an die Stelle der Verantwortung, den Zwang an die Stelle der freien Entscheidung und den Richter an die Stelle des Gewissens gesetzt. Sie haben die Moralität mit der Legalität vertauscht und so das Moralische in dieser Frage in Vergessenheit gebracht. Sie haben den Zustand, den sie beklagen, ganz wesentlich verursacht.

Der Einzelne soll entscheiden!

Man sieht, wo ich hinauswill: Der Schwangerschaftsabbruch gehört eigentlich nicht ins Strafgesetz, sondern in die sittliche Entscheidung des Einzelnen. Ich möchte diese These zum Schluß dreifach begründen: von der Seinsart des Fötus, von der Ethik und von der Effektivität der bisherigen Gesetzgebung her.

1. Der Fötus ist Sein zum Menschsein, aber nicht Mensch. Er ist deshalb noch kein Rechtssubjekt, sondern wird das erst mit der Geburt. Mit der Geburt und nicht mit der Zeugung wird er ein öffentliches Mitglied der Gesellschaft und erwirbt er sich die primären Menschenrechte: das Recht, überhaupt Rechte zu haben, und das Recht zu leben. Rechtslogisch müßte deshalb nicht das „werdende Leben“ vom Gesetz geschützt werden, sondern das Leben der schwangeren Frau. Dieser Schutz aber soll so umfassend sein, daß er das physische, psychische und soziale Wohlbefinden der Mutter zu sichern vermag. Eine solche Sicherung weist über die Zeit der Schwangerschaft hinaus.

2. Gerade der Wille zur ethischen Verantwortung fordert im Hinblick auf den Fötus einen rechtsfreien Raum, in dem der Mutter die Offenheit für den ethischen Entscheid gegeben ist. Wer den Schwangerschaftsabbruch nicht unter Strafe stellt, macht ihn deswegen nicht zur Pflicht und fordert nicht zu ihm auf, ja er sagt nicht einmal, daß er ihn für erlaubt hält oder billigt. Vielleicht meint er nur: Ich möchte, daß über diesem Bereich die Moralität und nicht die Legalität wacht. Daß dann der Mißbrauch der Freiheit möglich ist, sei unbestritten. Aber, so paradox das klingen mag: Freiheit, Verantwortung und ethisches Handeln gibt es nur dort, wo der Mißbrauch möglich ist und möglich bleibt.

3. Wir (d.h. die Schweiz) haben heute ein Gesetz zum Schutz des „werdenden Lebens“, das den Schwangerschaftsabbruch erlaubt, „um eine nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder große Gefahr dauernden Schadens an der Gesundheit von der Schwangeren abzuwenden“. Dieses Gesetz wird in den Städtekantonen von relativ vielen Ärzten liberal, in den Landkantonen strenger, in den vorwiegend katholischen Kantonen ganz restriktiv interpretiert. So ist auf legalem Weg oft vieles und oft gar nichts möglich. Wie immer das sei: dieses Gesetz kann jedenfalls die hohe Zahl der illegalen Abtreibungen nicht verhindern. Hin und wieder kommt ein Fall vor Gericht, auf 200 etwa einer. Es handelt sich meist um eine sozial schon ausgebeutete Frau, die nun stellvertretend auch für jene büßt, die es sich besser leisten können und die auch wissen, wie.
Abtreibungsgesetze sind, nicht der Intention, aber doch der Konsequenz nach, unweigerlich Klassengesetze. Sie sind legalisiertes Unrecht. Die Minderbemittelten sind es auch, die ihren Gang in die Illegalität mit ihrer Gesundheit bezahlen. Man spricht davon, daß Sterblichkeit, Invalidität und Krankheit infolge des illegalen Abbruchs etwa den Zahlen der Verkehrs-Unfall-Statistik entsprechen. In Deutschland soll es sich jährlich um 10 000 bis 20 000 Tote handeln, um Zehntausende von Invaliden und Hunderttausende von Kranken. Ein solches Gesetz ist eine Blamage für den Gesetzgeber, ein Hohn auf die Gerechtigkeit und ein Attentat auf die Gesundheit der Frauen.

Konsequenzen

Wir stehen von der Wahl zwischen drei Alternativen:

– alles ungefähr beim alten zu lassen,
– einer Fristenlösung zuzustimmen,
– den Schwangerschaftsabbruch ganz aus dem Strafrecht herauszunehmen.

Ich kann der ersten Lösung unmöglich zustimmen, weil sie eine legalisierte Erniedrigung der Frau, vor allem der sozial benachteiligten Frau, ist. Ich könnte einer Fristenlösung zustimmen, wenn sie auf bedingende Indikationen verzichtet, über deren Gegebenheit praktisch nicht ohne Willkür entschieden werden kann: wenn sie also einen genügend großen Zeitraum offen läßt für die Bildung des freien Entscheides der Mutter.
Ich kann der dritten Lösung zustimmen, unter dem Vorbehalt, daß sie durch eine strenge Ahndung der Kurpfuscherei und durch einen genügenden medizinischen Schutz der schwangeren Frau ergänzt wird, was wohl in der medizinischen Praxis wieder auf eine Fristenlösung herauskäme. Daß aber auch diese „Lösungen“ unbefriedigend sind, weiß ich; denn sie räumen den Geborenen eine absolute Verfügungsgewalt ein über die Ungeborenen, und das ist wieder problematisch. Rational geht die Rechnung nicht auf. Eben deshalb müssen wir einen Weg suchen, der nicht andere mit unserer Selbstgerechtigkeit behaftet, und das ist ein Weg, der die Unfixierbarkeit des Problems redlich eingesteht, der deshalb auch offen bleibt für die menschliche Not und für die Freiheit.
Im Grunde ist das Problem der Schwangerschaftsunterbrechung erst gelöst, wenn es sich nicht mehr stellt. Es stellt sich dann zumindest seltener, wenn wir die Anstrengung einer breiten Aufklärung und der sozialen Sicherung für die Mutter und das geborene Kind auf uns nehmen. Erst dann haben wir nicht nur ein besseres Gesetz, sondern in diesem Lebensbereich eine vernünftigere und gerechtere Welt.

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