Themen / Innere Sicherheit

Der Große Lausch­an­griff verfas­sungs­ge­mäß?

01. Juni 1999

Ulrich Vultejus zum Lauschangriff:

Mitteilungen Nr. 166, S. 47

Anfang 1998 ist der Große Lauschangriff, d.h. das heimliche Belauschen der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Wohnung mit technischen Mitteln, als strafprozessuale Ermittlungsmethode in unser Rechtssystem eingeführt worden. Die Änderung des Artikel 13 des Grundgesetzes ist durch Gesetz vom 26.3.1998 und die Änderung der § § 100, 101 der Strafprozeßordnung durch Gesetz vom 4.5.1998 erfolgt.

Eine Verfassungsbeschwerde (1) gegen beide Gesetze liegt jetzt dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zur Entscheidung vor. Sie scheint mir – begrenzt – erfolgversprechend zu sein.

Der Angriff der Verfassungsbeschwerde auf Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) ist deshalb problematisch, weil er, sollte er Erfolg haben, zur Feststellung verfassungswidrigen Verfassungsrechts führen müßte. Indessen sind nicht alle Artikel der Verfassung von gleicher Wertigkeit. Über allen steht das Gebot der Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. I GG). Man kann mit guten Gründen die Auffassung vertreten, der Mensch habe als Teil seiner Menschenwürde Anspruch auf einen Raum, in dem er ungeschützt Gespräche mit sich selbst und seinen Angehörigen sowie Freunden – die Freundinnen nicht zu vergessen – führen könne, ohne daß ihn der Staat belausche (2). Dagegen kann gewiß nicht eingewandt werden, das Gesetz richte sich nur gegen Straftäter, denn auch Straftäter haben einen Anspruch auf Achtung ihrer Menschenwürde. Zum anderen stimmt es gar nicht, daß das Gesetz sich gegen Straftäter richtet. Es richtet sich gegen Verdächtige, da niemand als Straftäter eingestuft werden darf, bevor er rechtskräftig verurteilt worden ist.

Hier knüpft der zweite Einwand an. Gerügt wird die Verletzung des aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. In der Tat: Der Lauschangriff ist schon bei einem einfachen Verdacht zulässig, wenn er sich nur auf bestimmte Tatsachen stützt. Ein dringender Verdacht, wie er etwa zum Erlaß eines Haftbefehls erforderlich ist, wird als Voraussetzung des Großen Lauschangriffs nicht gefordert. Jeder Verdacht aber, der nicht nur ein Gerücht ist, stützt sich auf Tatsachen, etwa darauf, daß sich der Verdächtige in einem bestimmten Stadtviertel aufgehalten oder Umgang mit Menschen gehabt hat, die ihrerseits verdächtig sind. Darf der Große Lauschangriff auf Grund eines derartigen einfachen Verdachts ausgelöst werden, ohne daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt wird?

Der dritte Einwand richtet sich ausschließlich gegen § 101 der Strafprozeßordnung in der Neufassung. Danach sind die Beteiligten von dem Lauschangriff zu benachrichtigen, „sobald dies ohne des Untersuchungszwecks, der öffentlichen Sicherheit, von Leib oder Leben einer Person sowie der Möglichkeit der weiteren Verwendung eines eingesetzten nicht offen ermittelnden Beamten geschehen kann.“ So kann die Bekanntgabe über Jahre verzögert werden und dies wird gerade in den Fällen geschehen, in denen sich der Verdacht durch den Lauschangriff nicht erhärtet hat, deshalb noch ermittelt werden soll und die Polizei den verdeckten Ermittler weiterhin einsetzen möchte. Es gibt nur eine Bremse: Soll die Verzögerung der Bekanntgabe länger als sechs Monate dauern, so bedarf es der richterlichen Zustimmung. Doch wie soll der um die Genehmigung angerufene Richter entscheiden, wenn ihm vorgetragen wird, der verdeckte Ermittler werde noch gebraucht? Nach dem Gesetzeswortlaut muß er zustimmen. Vielleicht aber wird man bei verfassungskonformer Auslegung in das Gesetz den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, d.h. eine Abwägung der Interessen des Belauschten auf Bekanntgabe und denen der Polizei auf weitere Verwendung des Beamten, hineinlesen müssen.
Die Verschiebung der Bekanntgabe auf einen ungewissen Zeitpunkt ist deshalb bedenklich, weil den Bürgerinnen und Bürgern nach Art. 19 Abs. IV des Grundgesetzes gegen jeden Eingriff der öffentlichen Gewalt der ordentliche Rechtsweg offen steht. Diese Möglichkeit der Gegenwehr wird man gewiß nicht auf einen unabsehbar späten Zeitpunkt verschieben können, ohne daß diese Schutzvorschrift leer läuft.

Zum Glück gibt es den Großen Lauschangriff in der Praxis (fast) gar nicht. Nur spricht diese Tatsache nicht gerade für die seiner Zeit behauptete Dringlichkeit, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger hier einzuschränken.

Bei der Abstimmung über die Änderung des Grundgesetzes am 16. Januar 1998 im Deutschen Bundestag haben seiner Zeit 452 für und 184 Abgeordnete gegen das Gesetz gestimmt. Unter denen, die sich der Grundgesetzänderung verweigert haben, waren auch die heutigen Bundesminister Andrea Fischer (Berlin), Josef Fischer (Frankfurt), Heidemarie Wieczorek-Zeul sowie der heutige Fraktionsvorsitzende der Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo Schlauch. Ob sie heute noch, wenn es nochmals zum Schwur kommen sollte, auf der Seite der Bürgerrechte stehen, wie weiland die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die wegen des Gesetzes zurückgetreten war?

Ulrich Vultejus

(1) Beschwerdeführer sind der Vors. Richter a.D. Dr. Jürgen Nußbruch und Wilhelm Seeger-Kelbe, beide in Heidelberg.**

Anm. d. Red.: Eine weitere Verfassungsbeschwerde wurde nach Fertigstellung dieses Artikels eingereicht, diese wurde federführend erstellt vom früheren Bundestagsvizepräsidenten, nordrhein-westfälischen Innenminister a.D. und HU-Beiratsmitglied Burkhard Hirsch. Diese Verfassungsbeschwerde wird auch mitgetragen von der Bundesjustizministerin a.D. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (ebenfalls Mitglied des HU-Beirats) und Bundesinnenminister a.D. Gerhart Baum nebst zwei weiteren Personen. (T.B.)

(2) Eine andere Frage ist, ob der Begriff der „Wohnung“ so weit gefaßt werden muß, wie es gegenwärtig geschieht und auch Geschäftsräume und ähnliche Räume umfassen muß. Ich halte eine Lösung für denkbar, nach der nur die eigentliche Wohnung als Ort der Privatheit voll geschützt wird.

** Wir wurden mittlerweile darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Behauptung, bei Herrn Seeger-Kelble handle es sich um einen wissenschaftlichen Mitarbeiter des BVerfGs, falsch war. Wir danken für den Hinweis. (12/2009 – SL)

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