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Deutschland am 23. Mai 2002 – Polizei­ge­walt am Verfas­sungs­tag. Warum 98 Prozent der Verfahren gegen prügelnde Polizisten eingestellt werden

19. März 2003

Grundrechte-Report 2003, S. 70-73

Am 23. Mai des Jahres 2002 steht Berlin vor dem Staatsbesuch des amerikanischen Präsidenten George W. Bush. In der Hoffnung, die Kolonne des Präsidenten werde auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt an ihm vorbeifahren, steht der 34-jährige Khaled M. mit einer palästinensischen Fahne auf einer Straße in Reinickendorf. Tatsächlich nimmt der Konvoi diese Strecke. Doch davon bekommt Khaled M. schon nichts mehr mit. Abrupt stoppt ein Mannschaftswagen der Polizei, mehrere Beamte stürmen heraus und gehen sofort auf ihn los. Die Besatzung eines zweiten Fahrzeuges folgt. Obwohl sie von Zeugen aufgefordert werden, mit den Schlägen aufzuhören, endet die Prügelei erst, als Beamte eines dritten Wagens einschreiten und ihre Kollegen wegschicken, «bevor irgendjemand eure Nummern aufschreibt». Insgesamt elf Polizisten sind an diesem Einsatz beteiligt. Er habe gesehen, wie die Beamten M. «auf den Arm getreten haben, nicht nur einmal. Er wollte hoch, sie haben wieder zugetreten und zugeschlagen », sagt ein Zeuge. «Rettungssanitäter wurden zunächst nicht durchgelassen und in ihrer Arbeit behindert», erklärt ein anderer. Schließlich bringen die Beamten Khaled M. selbst ins Krankenhaus, wo Prellungen und ein komplizierter Armbruch behandelt werden müssen. Khaled M. erstattet Anzeige wegen Körperverletzung – die Polizisten reagieren mit einer Gegenanzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Ihre Version lautet: Khaled M. habe heftigen Widerstand geleistet und sei einem Beamten von hinten ins Kreuz gesprungen.

An jenem 23. Mai, als in Berlin Khaled M. misshandelt wird, stirbt in Köln der 31-jährige Stephan N. Zwei Wochen zuvor war abends bei einem Polizeirevier ein Notruf eingegangen. Eine Nachbarin will «lautstarke Auseinandersetzungen» in der Wohnung von Ns Mutter gehört haben. Am Ende des Polizeieinsatzes liegt Stephan N. an Armen und Beinen gefesselt auf dem Wohnzimmerboden. Er habe mit einem Hockeyschläger um sich geschlagen, heißt es. Seine Mutter weiß davon nichts. Nachdem N. überwältigt ist, rufen die Beamten einen Transporter und bringen ihn zu einer Wache. Was unterwegs passiert, ist unklar. Die Beamten sagen, N. habe sich trotz der Fesselung weiter heftig gewehrt. Per Funk wird ein «Empfangskommando» bestellt. Also geht es auf der Wache weiter. Fünf bis sechs Polizisten schlagen auf Stephan N. ein. Dann wird er an den Füßen in eine Zelle geschleift. Dort soll er weiter getreten und geschlagen worden sein, bevor er zur Blutentnahme in eine Klinik gefahren wird. Diese Aussagen machen am nächsten Tag eine junge Polizistin und ihr Kollege, die den Vorfall beobachtet haben. Im Krankenhaus wird Stephan N. zu dieser Zeit schon künstlich am Leben erhalten. Zwei Wochen später ist er tot.

Rund 20 Polizeibeamte verschiedener Wachen waren an dem Einsatz beteiligt. Gegen sechs werden Ermittlungen eingeleitet. Wie sich herausstellt, wurde gegen den Hauptbeschuldigten zuvor bereits in 12 Fällen ermittelt, zumeist wegen Körperverletzungsdelikten. Fast alle Verfahren wurden eingestellt. Gegen Beamte der betroffenen Polizeiwache war seit 1999 bereits in 37 Fällen Anzeige erstattet worden – nahezu alle wurden ergebnislos eingestellt.

Ende Juni 2002 wird im Fall des Stephan N. das rechtsmedizinische Gutachten veröffentlicht. In einem Vorgutachten, das bei der Einlieferung ins Krankenhaus erstellt wurde, hieß es noch, das Koma sei durch ein Hirnödem verursacht worden. Nun erklären die Mediziner den Tod als Folge eines hypotoxischen Hirnschadens, also einer Unterversorgung mit Sauerstoff. «Der psychisch vorerkrankte Herr N. war bereits vor dem Einsatz der Polizei auffallend erregt und augenscheinlich psychotisch (. . .)», heißt es jetzt. Daraufhin mildert die Staatsanwaltschaft ihre Vorwürfe in gefährliche Körperverletzung ab.

In beiden Fällen versprachen die Polizeipräsidenten eine schnelle und schonungslose Aufklärung. Doch Ende 2002 waren die polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen die beschuldigten Polizeibeamten noch nicht abgeschlossen. Wie kommt es, dass sich die Aufklärung solcher Vorfälle so lange hinschleppt, obwohl es genug unbeteiligte Zeugen gibt? Die Antwort ist so einfach wie bedrückend. Beschwerden und Strafanzeigen gegen Polizeibeamte und -beamtinnen kranken daran, dass sie in der Regel bei jener Behörde vorgebracht werden (müssen), deren Angehörige davon betroffen sind: der Polizei. Demgegenüber weisen Polizeiverantwortliche immer darauf hin, dass eine privilegierte Behandlung beschuldigter Polizisten gar nicht möglich sei, weil die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen führe und unabhängige Richter das Urteil sprächen. Doch die Argumentation hat Schönheitsfehler. Zwar ist es die Staatsanwaltschaft, die entsprechend der Gewaltenteilung die Untersuchung als «Herrin des Verfahrens» leitet. Aber es sind Polizisten, die in ihrem Auftrag die ersten Ermittlungen durchführen. Hinzu kommt ein psychologisches Moment: Staatsanwaltschaft und Polizei sind wesensverwandt und ihre Beamten kennen sich aus der täglichen Zusammenarbeit. Im Ergebnis führt dies zu der Neigung, Verfahren gegen Polizisten einzustellen. Durchschnittlich liegt die Quote hier bei 98 Prozent.

Doch auch für Beamte, die ernsthaft und objektiv gegen Kolle gen ermitteln wollen, ist dies häufig kaum möglich. Regelmäßig stoßen sie auf eine «Mauer des Schweigens». Im tradierten Verständnis von Kameradschaft sind grundsätzlich alle Polizisten «Kumpels», auf die man sich verlassen kann und «die man nicht anscheißt». Diesem «Corpsgeist» fühlen sich auch Polizeibeamte verpflichtet, die sich persönlich nicht kennen, im psychologischen Sinne also nicht einer Gruppe angehören: Beschuldigte Kollegen werden zumeist erst einmal gedeckt. Dann aber kommt der Beamte aus einer eventuellen Falschaussage nicht mehr heraus, ohne sich selbst strafbar zu machen. Das gleiche Problem haben jene Beamtinnen und Beamten, die sich an Misshandlungen selbst nicht aktiv beteiligen, sie aber auch nicht unverzüglich unterbinden. Auch sie haben sich – wie die Polizistin und der Polizist im Kölner Fall – bei ihrer späteren Aussage bereits strafbar gemacht. So etwas verschließt Münder. Der Appell, «das Schweigen zu brechen », ist also so lange unwirksam, wie couragierte Polizistinnen und Polizisten dann nicht auch die notwendige Unterstützung erfahren – und genau daran fehlt es.

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