Die Strafprozeßreform - Sicherung oder Abbau des Rechtsstaats?
aus: vorgänge Nr. 18 (Heft 6/1975), S. 36-48
Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist durch das Verlangen
nach verfahrensrechtlicher „Waffengleichheit” von Ankläger
und Beschuldigten gekennzeichnet.
(Bundesverfassungsgericht, 1)
Seit dem 1. Januar dieses Jahres gilt ein neues Strafprozeßrecht. Die beiden Gesetze, die an diesem Tage in Kraft traten – das 1. Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG)(2) und das diesem in letzter Minute angehängte Ergänzungsgesetz(3) – haben zwar nur eine beschränkte Zahl von Paragraphen der Strafprozeßordnung abgeändert, aber diese Änderungen berühren die Grundstrukturen des Verfahrens.
Das 1. StVRG, das die Befugnisse der Staatsanwaltschaft erheblich erweitert hat, hat in der Öffentlichkeit. weit weniger Beachtung gefunden als die Beschränkungen der Verteidigung durch das Ergänzungsgesetz. Das ist verständlich, da das Ergänzungsgesetz durch das Baader-Meinhof – Verfahren – auf das es zugeschnitten ist und in dem die Neuerungen sogleich angewendet wurden – besondere Aktualität hat. Aber die Stärkung der Staatsanwaltschaft hat ebenso wie die Beschränkung der Verteidigung das ausgewogene System der prozessualen Positionen beider Seiten zerstört, das das bisherige Verfahren beherrschte und das mit dem Schlagwort „Waffengleichheit” nur unvollkommen gekennzeichnet wird. Faktisch ist die Staatsanwaltschaft, die über den staatlichen Ermittlungsapparat verfügt, dem beschuldigten Bürger von vornherein überlegen. Daß dieses faktische Übergewicht durch eine starke Rechtsposition der Verteidigung soweit möglich ausgeglichen werde, ist eines der Elemente der „Waffengleichheit”. Das andere: Der Staatsanwaltschaft kommt, obwohl sie Teil der Staatsgewalt ist, im Verfahren nicht die Rolle eines dem Beschuldigten Übergeordneten zu vielmehr hat sie formell dem Beschuldigten gleichstehend ihre Sache dem Gericht zur Entscheidung zu unterbreiten.
Von einer prinzipiellen Gleichrangigkeit kann heute keine Rede mehr sein, nachdem der Staatsanwaltschaft durch das 1. StVRG Zwangsbefugnisse übertragen worden sind, die bisher dem Richter vorbehalten waren: Bisher gab es eine Verpflichtung, als Zeuge auszusagen, nur gegenüber dem Richter. Wenn die Staatsanwaltschaft im Laufe der Ermittlungen die Aussage eines Zeugen benötigte und dieser ihr gegenüber zur Aussage nicht bereit war, so war sie darauf angewiesen, die Vernehmung durch den Richter zu beantragen. Heute ist jedermann verpflichtet, vor dem Staatsanwalt zu erscheinen und wahrheitsgemäß auszusagen (sofern er nicht ausnahmsweise – wie etwa der Angehörige des Beschuldigten – ein Recht hat, das Zeugnis zu verweigern). Die Staatsanwaltschaft kann die Erfüllung dieser Verpflichtung erzwingen; sie kann ein Ordnungsgeld verhängen und den Zeugen vorführen lassen. Der Zeuge kann schließlich durch Beugehaft zur Aussage gezwungen werden. Die Haft muß dann zwar vom Richter angeordnet werden, erzwungen wird damit aber die Aussage vor dem Staatsanwalt. (4)
Eine noch weitergehende Änderung gegenüber dem bisherigen Recht liegt in der Einführung der Verpflichtung gegenüber der Staatsanwaltschaft – nicht nur, wie bisher, gegenüber dem Gericht – Sachverständigengutachten zu erstatten. Denn bei der Heranziehung der Sachverständigen geht es um eine für das Verfahren wesentliche Entscheidung, nämlich um die Auswahl der Sachverständigen unter der ja größeren Zahl von Experten. Und es geht weiter um die Leitung – wie das Gesetz sagt – des Sachverständigen, das heißt die Bestimmung der Fragen., die ihm vorgelegt werden, und die Auswahl der Informationen, die ihm für die Erstattung seines Gutachten an die Hand gegeben werden(5). Durch die Auswahl des Gutachters, durch die Festlegung der Fragen und durch seine Information wird in beträchtlichem Maße bereits das Ergebnis des Gutachtens beeinflußt.
Daß der Beschuldigte der Staatsanwaltschaft nicht mehr wie bisher als Kontrahent, sondern als Gewaltunterworfener gegenübersteht, ist am deutlichsten sichtbar wohl in der neuen Vorschrift, die ihn verpflichtet, auf Ladung vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, wobei diese das Erscheinen durch Vorführung erzwingen kann(6). Auszusagen ist er freilich nicht verpflichtet – so wie ja eine Aussagepflicht des Beschuldigten auch gegenüber dem Richter nicht besteht. Aber wir wissen aus Erfahrung, daß derjenige, der erst einmal zu einer Vernehmung herbeigeschafft worden ist, sich gedrängt fühlt auszusagen, weil er befürchtet, durch Schweigen den Eindruck zu erwecken, daß er etwas zu verbergen habe. Mit der Einführung des Rechts der Staatsanwaltschaft, das Erscheinen des Beschuldigten zu erzwingen, wird dieser darum eine erhebliche Machtbefugnis eingeräumt.
Im Bereich der minderen Kriminalität ist der Staatsanwaltschaft sogar die Kompetenz für die abschließende Ahndung von Straftaten eingeräumt worden: Bei Vermögensdelikten geringerer Schwere kann die Staatsanwaltschaft statt anzuklagen dem Beschuldigten eine Bußleistung, etwa die Zahlung eines Geldbetrags an die Staatskasse, auferlegen. Unterwirft sich der Beschuldigte und erbringt er die Leistung, so ist die Sache erledigt, ohne daß je ein Gericht über seine Schuld entschieden hätte(7). Diese Regelung bedeutet nicht nur eine Zuständigkeitsverlagerung auf die Staatsanwaltschaft; sie begründet auch die Gefahr, daß der unsichere oder juristisch nicht versierte Beschuldigte trotz seiner Unschuld aus Angst vor dem ungewissen Ausgang eines Strafverfahrens die Bußleistung auf sich nimmt.
Die Durchsicht von Papieren bei Durchsuchungen und Postbeschlagnahmen war bisher dem Richter vorbehalten. Er sortierte bisher alle Schriftstücke, die nicht mit der Straftat in Beziehung stehen oder die nach dem Gesetz von der Beschlagnahme ausgenommen sind – wie Verteidigungsunterlagen oder Krankenblätter – aus und übergab der Staatsanwaltschaft nur die für das Verfahren zu verwertenden. Jetzt liegt die Durchsicht in der Hand der Staatsanwaltschaft(8), und das heißt, daß sie auch von den Schriftstücken Kenntnis erlangt, deren Verwertung das Gesetz untersagt. Was das praktisch bedeutet, wurde alsbald durch die Durchsuchungen bei Verteidigern im Baader-Meinho-Verfahren demonstriert, bei denen die Bundesanwaltschaft die Verteidigungsunterlagen auf Schriftstücke durchsah, die den Verdacht der Beteiligung der Verteidiger an den Straftaten begründen könnten. Nur diese unterliegen der Beschlagnahme, die übrigen muß sie zurückgeben – aber ihren Inhalt und damit die Verteidigungsstrategie kennt sie damit.
Alle diese Neuerungen werden damit begründet, daß sie der Verfahrensbeschleunigung und vereinfachung dienen(9). Das ist nicht zu bestreiten. Aber: Es war schon immer etwas aufwendiger und zeitraubender, rechtsstaatlich zu verfahren. Nun wird freilich von den Befürwortern der Neuregelung bestritten, daß die Übertragung richterlicher Kompetenzen auf die Staatsanwaltschaft eine Einbuße an Rechtsstaatlichkeit bedeute, und es wird darauf verwiesen, daß die Staatsanwaltschaft ebenso wie die Gerichte an Recht und Gesetz gebunden sei und daß sie sich als vertrauenswürdig erwiesen habe(9). Dazu ist zweierlei zu sagen.
Erstens: Die Bedenken gegen die neue Struktur des Verfahrens ergeben sich nicht in erster Linie aus der Gefahr einer bewußten Einseitigkeit von Staatsanwälten – obwohl auch sie ernst genommen werden muß; zwar ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, sine ira et studio zu handeln und den entlastenden Umständen die gleiche Aufmerksamkeit zu widmen wie den belastenden, doch unterliegt sie zumindest bei der Verfolgung solcher Straftaten, die als Herausforderung des Staates erscheinen, der Versuchung, die Rolle eben eines Anwalts des Staates zu übernehmen. Schwerer noch wiegt die Gefahr, daß der Staatsanwalt, der seine Ermittlungen ja von bestimmten Hypothesen über den Tathergang und den Täter ausführt, in diesen seinen Vorstellungen befangen bleibt, so daß er selbst bei größtem Bemühen um Objektivität bei Vernehmungen die Fragen so stellt und die Antworten so deutet, daß sie sich in seine Hypothesen einfügen. Die Einschaltung eines unbefangenen Richters war deshalb ein nützliches Korrektiv.
Zweitens ist auf das Argument der Vertrauenswürdigkeit der Staatsanwaltschaft zu erwidern: Man hat den Rechtsstaat nicht verstanden, wenn man meint, Kontrollen unter Hinweis auf die Vertrauenswürdigkeit einer staatlichen Institution aufgeben zu können. Rechtsstaatlich unbedenklich wäre eine Übertragung richterlicher Befugnisse auf die Staatsänwaltschaft nur dann, wenn die Sicherungen gegen fehlerhaftes Prozedieren bei den Staatsanwälten die gleichen wären wie bei den Richtern. Das aber ist eindeutig nicht der Fall. Dem Staatsanwalt fehlt die Unabhängigkeit, die für die Stellung des Richters wesentlich ist. Er untersteht dem Weisungsrecht seiner Vorgesetzten bis hinauf zum Justizminister. Seine Vorgesetzten innerhalb der Staatsanwaltschaft können ihm jederzeit eine Strafsache wegnehmen und sie einem anderen übertragen oder sie auch selbst an sich ziehen(10). Daneben besteht in wichtigen, vor allem in politischen, Strafsachen die Verpflichtung des Staatsanwalts, über seine einzelnen Schritte jeweils „nach oben” Berichte vorzulegen(11). Und schließlich gibt es nach Auffassung der Praxis keinen durchsetzbaren Anspruch des Beschuldigten, daß ein befangener Staatsanwalt von der Bearbeitung der Sache ausgeschlossen werde(12). Zu behaupten, die Übertragung richterlicher Befugnisse auf die Staatsanwaltschaft habe nur den Vorteil der Verfahrensbeschleunigung, doch keine Nachteile gebracht, bedeutet nichts anderes, als den Wert der richterlichen Unabhängigkeit als quantite negligeable zu betrachten.
Der Machtzuwachs der Staatsanwaltschaft wurde – wie erwähnt – durch die im Ergänzungsgesetz vorgesehenen Beschränkungen der Verteidigung „ergänzt”, nämlich insbesondere durch
– den Ausschluß des Verteidigers beim Vorliegen bestimmter Verdachtsmomente(13),
– die Möglichkeit, Angeklagte bei bewußt herbeigeführter Verhandlungsunfähigkeit in Abwesenheit abzuurteilen(14),
ferner durch
– die Beschränkung des bisherigen Rechts des Verteidigers, in der Hauptverhandlung jederzeit Erklärungen abzugeben(15), und
– die Beschränkung der Zahl der Wahlverteidiger auf drei(16).
Über das Zustandekommen dieser Vorschriften heißt es in der Erklärung von 31 Strafrechtslehrern zu den Beschränkungen der Verteidigung(17), daß „sie aus einer von Emotionen beladenen Atmosphäre geboren, auf schwebende Verfahren zugeschnitten und in einem Schnellverfahren verabschiedet worden (sind), das eine politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung über das Für und Wider von vornherein ausschloß”. Das ungewöhnliche Eiltempo der Verabschiedung wird auch von den Initiatoren des Gesetzes nicht in Abrede gestellt(18); den Vorwurf, daß es auf das Baader-Meinhof-Verfahren und die übrigen RAFVerfahren zugeschnitten sei, weisen sie allerdings zurück. Sie berufen sich darauf, daß eine Regelung des Verteidigerausschlusses durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts(19) – in der die Ausschließung des Rechtsanwalts Schily aufgehoben wurde, weil eine gesetzliche Grundlage dafür fehlte – veranlaßt und in einem Gesetzentwurf enthalten war, der dem Bundestag schon einige Zeit vorlag. Daran ist richtig, daß es den Entwurf eines 2. StVRG gab(20), der Änderungen der StPO im Abschnitt „Verteidigung” vorsah. Er enthielt einen der jetzt in § 138a eingeführten Ausschlußgründe, nämlich den Verdacht (eines bestimmten Grades), daß der Verteidiger an der Tat des Angeklagten beteiligt sei oder Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei begangen habe.
Zugleich sah der Entwurf aber eine Verbesserung der Regelung der Pflichtverteidigung vor: Die Auswahl des Pflichtverteidigers sollte grundsätzlich der Beschuldigte selbst treffen.
Es ist bezeichnend für die Tendenz des Ergänzungsgesetzes, daß es aus diesem Entwurf nur die im Strafverfolgungsinteresse liegende Vorschrift – den Verteidigerausschluß – aufgriff, nicht aber die dem Beschuldigten dienende – die Pflichtverteidigerauswahl – und daß es zusätzlich mit den weiteren die Verteidigung beschränkenden Vorschriften angereichert wurde.
Die zusätzlich eingeführten Ausschließungsgründe für den Verteidiger, nämlich
– der dringende Verdacht, daß er den Verkehr mit dem verhafteten Beschuldigten zur Begehung von Straftaten mit einer Höchststrafe von einem Jahr oder mehr mißbrauche, und
– der Mißbrauch des Verkehrs zur erheblichen Gefährdung der Sicherheit der Anstalt(21),
sind genau auf die Verhaltensweisen gemünzt, deren man einzelne Verteidiger in RAF-Verfahren verdächtigte. Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß sie abstrakt formuliert sind und deshalb theoretisch eine unbestimmte Zahl von Fällen treffen.
Und wie es mit ad-hoc-Gesetzen nicht selten geht: Der Gesetzgeber hat, weil er sein Augenmerk auf die konkreten Einzelfälle richtete, gar nicht bemerkt, daß die getroffene Regelung mit den in den sonstigen Rechtsvorschriften enthaltenen Wertungen in Widerspruch steht: Wenn ein Verteidiger und sein auf freiem Fuß befindlicher Mandant bei der Begehung einer Straftat zusammenwirken, so treten keine Konsequenzen ein, außer der selbstverständlichen, daß sie betraft werden. Ist der Mandant aber verhaftet, so führt dasselbe Verhalten (genauer: schon der dringende Verdacht eines solchen Verhaltens) zum Ausschluß des Verteidigers. Die unterschiedliche Behandlung beider Fälle wäre allerdings dann verständlich, wenn es Zweck der Untersuchungshaft wäre, die Begehung weiterer Straftaten durch den Verhafteten zu unterbinden. Diese Funktion aber hat die Untersuchungshaft grundsätzlich nicht; nur für wenige, im Gesetz einzeln aufgeführte Straftaten gibt es die Vorbeugehaft(22).
Aber nicht nur den sonstigen Inhalt der StPO hat der Gesetzgeber bei der Festlegung der Ausschließungsgründe vergessen, sondern auch das Grundgesetz: Die Ausschließung eines Verteidigers ist ein Eingriff in das Grundrecht der freien Berufsausübung des Rechtsanwalts; ein solcher Eingriff ist nur dann verfassungsgemäß, wenn er zur Abwendung einer Gefahr für die Rechtspflege erforderlich ist und wenn die Verhältnismäßigkeit zwischen Gefahr und Eingriff gewahrt wird. Der Verteidigerausschluß aber ist, wenn die genannten Voraussetzungen vorliegen, zwingend vorgeschrieben, ohne daß im konkreten Falle Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu prüfen wären. Freilich muß sich der Verdacht des Mißbrauchs des Verkehrs zur Begehung einer Straftat auf die Verletzung einer Strafbestimmung beziehen, die mit einer Höchststrafe von einem Jahr oder mehr bedroht ist. Dazu aber gehören mit wenigen Ausnahmen alle Tatbestände des Strafgesetzbuchs, selbst die einfache Beleidigung. Daß damit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht genügt ist, hätte der Gesetzgeber einer der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entnehmen können: Das Bundesverfassungsgericht hat einen Beschluß des Bundesgerichtshofs wegen Verletzung des Übermaßverbots aufgehoben, in dem ein Verteidiger ausgeschlossen worden war, der dem Gericht ein drohendes Schreiben überreicht hatte – eine Handlung, die als Beamtennötigung und „verfassungsverräterische Zersetzung” gewertet worden war, beides Tatbestände mit weit höheren Strafdrohungen als ein Jahr(23).
Zur Rigorosität der Ausschließungsregelung gehört eine Nebenbestimmung, für die es im bisherigen Recht kein Vorbild und keine Parallele gibt: Führt der Ausschluß des Verteidigers dazu, daß die Hauptverhandlung wiederholt werden muß, so können dem Verteidiger die dadurch verursachten Kosten auferlegt werden(24). Damit wird die Übernahme einer Verteidigung in Großverfahren mit dem Risiko des finanziellen Ruins belastet.
Es wäre ein Irrtum zu meinen, der Verteidiger brauche sich ja nur korrekt zu verhalten, dann könne ihm nichts geschehen. Denn der Ausschluß ist ja nicht an die Feststellung eines Mißbrauchs der Verteidigerstellung gebunden, sondern nur an das Vorliegen eines bestimmten Verdachtsgrades. Und in den Verdacht, auch in einen dringenden, kann auch der durchaus pflichtgemäß handelnde Verteidiger geraten. Dies muß man auch bei der Bewertung der Regelung betrachten, die auf den ersten Blick am wenigsten anstößig erscheint: der Ausschließung wegen Verdachts der Beteiligung an der zur Aburteilung anstehenden Tat, der Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei(25). Hinsichtlich des Verdachtsgrades nennt das Gesetz dabei zwei Alternativen. Entweder er muß „dringend” sein oder er muß einen „die Eröffnung des Hauptverfahrens rechtfertigenden Grad” erreichen. Mit der zweiten Alternative ist gemeint, daß über den Vorwurf der Beteiligung oder Strafvereitelung durch den Verteidiger bereits Ermittlungen angestellt worden sind, die soweit erschöpfend sind, daß Anklage gegen ihn erhoben werden könnte und daß das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens beschließen könnte. Nicht vorausgesetzt ist jedoch – und darin liegt die besondere Fragwürdigkeit dieser scheinbar engen Bestimmung -, daß auch tatsächlich Anklage erhoben und das Hauptverfahren eröffnet worden ist. Somit kann ein Verteidiger aufgrund der hypothetischen Aussage, es könnte gegen ihn verhandelt werden, ausgeschlossen werden, ohne daß die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in einem ordentlichen Strafverfahren zum Beweise gestellt zu werden brauchten.
Aber das Gesetz geht noch weiter, indem es daneben den dringenden Verdacht ausreichen läßt. Zwar ist unter einem dringenden Verdacht ein solcher von hohem Grade zu verstehen, aber er braucht nicht erhärtet zu sein. Das bedeutet: Nach dieser Alternative ist ein Verteidiger dann, wenn prima facie starke Verdachtsmomente vorliegen, im raschen Zugriff auszuschließen, ohne daß umfassende Ermittlungen angestellt zu werden brauchen, die den Verdacht bestärken oder aber auch zerstreuen könnten.
Eine besondere Problematik enthält der Ausschließungsgrund des Verdachts der Strafvereitelung. Er erfaßt nämlich nicht nur Begünstigungshandlungen, die vor dem Strafverfahren oder außerhalb des Strafverfahrens begangen sind, sondern auch Akte der Verteidigung, sofern sie die Grenzen zulässiger Verteidigung überschreiten. Diese Grenzen aber sind zugleich haarscharf und stellenweise umstritten. (Streit besteht zum Beispiel über die Frage, ob der Verteidiger einem Beschuldigten von einem Geständnis, das er abzulegen bereit wäre, abraten darf.) Damit, daß beim Verdacht der Strafvereitelung der Ausschluß des Verteidigers zwingend vorgeschrieben ist, ist künftig dem Gericht die Verpflichtung auferlegt, ständig das Handeln des Verteidigers darauf zu überprüfen, ob er etwa jene Grenze überschritten hat.
Die Erstreckung des Ausschließungsgrundes des Verdachts der Strafvereitelung auf Verteidigungsakte ist vom Gesetz gewollt. Im Baader-Meinhof-Verfahren hat die Bundesanwaltschaft darüber hinaus eine Konstruktion ersonnen – und das Gericht ist ihr gefolgt -, die in Verfahren wegen der Bildung krimineller Vereinigungen Handlungen des Verteidigers als Beteiligung an der angeklagten Tat erscheinen läßt, und zwar auch solche Handlungen, die in jedem anderen Verfahren pflichtgemäß, erlaubt oder doch jedenfalls nicht strafrechtlich verboten wären: Der Austausch von Informationen, auch über verfahrensrelevante Umstände, die Unterstützung eines Hungerstreiks und die öffentliche Kritik am Vorgehen der Justizbehörden wurden als Unterstützung einer kriminellen Vereinigung gewertet(26). Der Vorwurf, daß damit die Verteidigung in Verfahren wegen der Bildung krimineller Vereinigungen gegenüber „normalen” Strafverfahren unerträglich eingeengt ist, trifft allerdings nicht den Gesetzgeber; denn das Gesetz deckt bei richtiger Auslegung diese Konstruktion nicht.
Man mag darüber streiten, ob überhaupt ein Bedürfnis bestand, den Ausschluß von Verteidigern vorzusehen. Zu bedenken ist dabei, daß die Interessen der Strafverfolgung auch ohne eine solche Regelung nicht schutzlos waren; freilich waren sie nicht in so perfekter Weise geschützt. Der Verteidiger, der wirklich eine Strafvereitelung begeht, wird bestraft – freilich erst am Ende eines gegen ihn eingeleiteten ordnungsgemäßen Strafverfahrens. Zudem drohen ihm ehrengerichtliche Sanktionen bis hin zum Ausschluß aus der Anwaltschaft(27). Auch eine vorläufige und damit alsbald zu vollziehende Maßnahme ist für besonders gravierende Fälle im Ehrengerichtsverfahren vorgesehen, nämlich die Verhängung eines vorläufigen Berufs oder Vertretungsverbots(28). Aber auch wenn man meint, daß es daneben den Verteidigerausschluß als Möglichkeit geben müsse, bleibt festzustellen, daß der Gesetzgeber über das Erforderliche und Verhältnismäßige hinausgegangen ist. Den Anspruch eines jeden Beschuldigten auf den Beistand eines Verteidigers seines Vertrauens – der nicht nur ein formales Recht, sondern notwendige Voraussetzung für eine sachgemäße Verteidigung, und das heißt auch: für die Vermeidung von Fehlurteilen ist – hat der Gesetzgeber nicht ernst genug genommen.
Am Rande ist anzumerken, daß sich die Erwartung, mit Hilfe von Verteidigerausschlüssen das Baader-Meinhof-Verfahren zügiger und reibungsloser ablaufen zu lassen, nicht erfüllt hat, sondern daß gerade das Gegenteil eingetreten ist. Diese Erfahrung könnte der Anlaß zum Nachdenken über die Fragwürdigkeit von ad-hoc-Regelungen sein. Bundesrat und Bundesregierung scheinen allerdings die entgegengesetzte Konsequenz ziehen zu wollen, indem sie noch weitere Beschränkungen der Verteidigung vorschlagen. Darauf wird noch einzugehen sein.
Doch zunächst zu der bereits geltenden Neuerung, daß gegen einen Angeklagten, der sich vorsätzlich und schuldhaft in den Zustand der Verhandlungsunfähigkeit versetzt hat, in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann(29). Auch diese Bestimmung ist durch die RAF-Verfahren inspiriert und sollte auf deren Eventualitäten maßgeschneidert sein. Sie hatte dann allerdings doch nicht die gewünschte Paßf orm. Nur mit Hilfe einer gänzlich unvertretbaren Analogie hat das Oberlandesgericht Stuttgart(30) sie für anwendbar erklärt, indem es die beschränkte Verhandlungsfähigkeit der Verhandlungsunfähigkeit gleichsetzte. Zusätzlich bedurfte es dann auch noch einer eigenwilligen Bewertung der Verantwortlichkeit für die soziale Isolation der Inhaftierten deren Existenz zu konstatieren Jahre hindurch als Verleumdung der Justiz, wenn nicht gar als Unterstützung einer kriminellen Vereinigung galt – und darüber hinaus des Mutes, die eigenen laienhaften Vorstellungen zu den medizinischen Fragen über die Befunde der Sachverständigen zu stellen.
Begründet wurde die Einführung der Bestimmung damit, daß damit Manipulationen unterbunden werden sollten, die die geordnete Durchführung des Verfahrens hindern(31). Und es scheint, als ließe sich die Vorschrift – wenn man auf ihren Inhalt und nicht auf die verfehlte Anwendung in Stammheim abstellt – damit legitimieren, daß der Angeklagte es sich eben selbst zuzuschreiben habe, wenn er sich der Verteidigungsmöglichkeiten begibt, und daß es nicht hingenommen werden könne, daß sich jemand dem Strafverfahren entzieht.
Ehe man sich durch eine solche Argumentation überzeugen läßt, sollte man sich jedoch einige Zusammenhänge vor Augen führen. Zunächst, daß es um eine Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse auf der einen Seite, dem Schutz vor der Gefahr von Fehlurteilen, die bei einer Verhandlung in Abwesenheit besonders groß ist, auf der anderen Seite geht. Weiter, daß das Ergebnis der Abwägung somit davon abhängt, einen wie hohen Wert man dem Strafverfolgungsinteresse beimißt und wie negativ man eine mögliche Fehlverurteilung bewertet. Und schließlich, daß die Interessenlage im Falle der verschuldeten Verhandlungsunfähigkeit genau die gleiche ist wie dann, wenn der Angeklagte flüchtig ist oder sich verborgen hält. Daß sich jemand vorsätzlich und schuldhaft dem Strafverfahren entzieht, ist alles andere als eine singuläre oder neuartige Erscheinung.
Der Gesetzgeber der Strafprozeßordnung von 1877 hat die Einführung des Abwesenheitsverfahrens abgelehnt (außer in Bagatellfällen) aufgrund der Wertentscheidung, daß es leichter erträglich ist, daß ein Strafverfahren nicht oder eine Zeitlang nicht durchgeführt werden kann, als daß die Gefahr der Verurteilung eines Unschuldigen heraufbeschworen wird. Die Tradition der StPO ist in diesem Punkte nur einmal unterbrochen worden. 1935 wurde das Abwesenheitsverfahren gegen Flüchtige eingeführt(32); nach dem Ende des Dritten Reiches wurde es alsbald wieder beseitigt.
In dem Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission des nationalsozialistischen Staates finden sich zur Begründung der damaligen Entscheidung Ausführungen, die es verdienen, zitiert zu werden:
„Die widerstreitenden Interessen kann der Gesetzgeber nur im Einklang mit der jeweils herrschenden Auffassung über das Verhältnis des Einzelnen zum Staat lösen. Sieht er seine Aufgabe darin, den Einzelnen vor der Staatsgewalt durch starre Schranken möglichst zu schützen, so wird er eine Entscheidung in Abwesenheit des Angeklagten verbieten, Betont die Rechtsordnung mehr das staatliche Anliegen an der Strafverfolgung und soll sie an Stelle starrer und formaler Bestimmungen zum Schutz des Einzelnen beweglichere Vorschriften enthalten, die eine volkstümliche Strafjustiz zulassen und den Mißbrauch von Verfahrensvorschriften durch den Angeklagten unterbinden, so wird sie die Verhandlung gegen einen abwesenden Angeklagten nicht unter allen Umständen ausschließen können”(33).
Daß der nationalsozialistische Gesetzgeber aus dieser zutreffenden Analyse die Einführung des Abwesenheitsverfahrens ableitete, war für ihn konsequent. Daß der Gesetzgeber von 1974 eine gleichartige Entscheidung getroffen hat, ist bestürzend.
In der Einzelausgestaltung ist das neue Abwesenheitsverfahren allerdings ohne Beispiel, insofern nämlich, als mögliche Vorkehrungen, die ein Abwesenheitsurteil nachträglich korrigieren könnten, nicht getroffen worden sind. So gilt etwa im französischen Recht, das ein Abwesenheitsverfahren kennt, die Regel, daß nach Ergreifung des Abwesenden eine neue Hauptverhandlung stattfinden muß(34); die Parallele wäre hier: Erneuerung der Hauptverhandlung nach Wiederherstellung der Verhandlungsfähigkeit. Selbst das nationalsozialistische Gesetz gegen Flüchtige sah eine erleichterte Wiederaufnahme des Verfahrens vor(35). Im jetzt eingeführten Abwesenheitsverfahren hingegen sind die Möglichkeiten der Anfechtung gegenüber dem normalen Verfahren sogar beschnitten: Normalerweise kann jedes Urteil mit Rechtsmitteln zu Fall gebracht werden, wenn es auf einem Rechtsfehler beruht. Für das Abwesenheitsverfahren aber gilt eine Ausnahmeregelung. Sie besagt, daß der Beschluß, ohne den Angeklagten zu verhandeln, mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar ist (36). Wird diese nicht eingelegt – und die Frist für die Einlegung läuft ja ab, während der Angeklagte noch verhandlungsunfähig ist – oder wird sie verworfen, so kann das Urteil nachher nicht mehr mit der Begründung angefochten werden, daß die Voraussetzungen für die Verhandlung in Abwesenheit zu Unrecht angenommen worden sind(37).
Alsbald nach dem Inkrafttreten des 1.StVRG und des Ergänzungsgesetzes hat der Bundesrat einen Gesetzentwurf zur weiteren Änderung der StPO vorgelegt, als dessen Ziel angegeben ist „zu verhindern, daß mit Hilfe der Befugnisse des Strafverteidigers die Sicherheit und Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege gefährdet werden(38). Darin ist die Überwachung des mündlichen und schriftlichen Verkehrs zwischen Verteidiger und Verhaftetem beim Verdacht des Mißbrauchs zu bestimmten Straftaten oder zur Gefährdung der Anstaltssicherheit vorgeschlagen, ferner die Erweiterung der Gründe für den Verteidigerausschluß. Einer der neuen Ausschließungsgründe soll die „Prozeßsabotage” sein. Sie soll vorliegen, wenn der Verteidiger „mit rechtswidrigen Mitteln die geordnete Durchführung der Hauptverhandlung absichtlich und gröblich gefährdet”. Die Unbestimmtheit und Konturlosigkeit dieser Voraussetzungen wird hinreichend deutlich; wenn man sich die Beispiele ansieht, die in der Begründung genannt: sind. Da stehen Prozeßordnungswidrigkeiten (Einschüchterung von Zeugen) neben Straftaten (gröbliche Beleidigungen) und neben unverbotenen Verhaltensweisen – nämlich dem Fall, daß „der Verteidiger bereits abgelehnte Anträge immer wieder erneut stellt(39). Etwas später zog die Bundesregierung mit einem eigenen Entwurf nach(40), der einen neuen Weg einschlägt. Während die bisherigen Beschränkungen der Verteidigung allgemein gefaßt sind, werden jetzt (zusätzlich) Sonderbestimmungen für die Verfahren vorgeschlagen, in denen es um den Vorwurf des Terrorismus geht. Für sie soll das Haftrecht verschärft, die Verteidigerüberwachung eingeführt und die Figur des Kronzeugen erschaffen werden.
Anknüpfungspunkt für diese Neuerungen soll eine neue Strafvorschrift sein: Aus dem Tatbestand der Bildung krimineller Vereinigungen (§ 129 StGB) soll ein engerer Tabestand der Bildung terroristischer Vereinigungen (§129a) herausgehoben werden, der solche Vereinigungen erfaßt, deren Tätigkeit auf die Begehung von Tötungsverbrechen, bestimmten gemeingefährlichen Straftaten und solchen gegen die Freiheit gerichtet ist. Tathandlungen sollen neben der Gründung solcher Vereinigungen auch die Beteiligung an ihnen, das Werben für sie oder ihre Unterstützung sein. Für Verfahren wegen solcher Anklagen sollen sodann die genannten Regelungen angewendet werden.
Im Haftrecht gilt der allgemeine Grundsatz, daß jemand nicht allein deshalb verhaftet werden darf, weil er einer Tat dringend verdächtigt ist, daß die Verhaftung vielmehr einen „Haftgrund” voraussetzt, nämlich Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr oder (bei einzelnen bestimmten Straftaten) Wiederholungsgefahr. In Verfahren wegen der Bildung terroristischer Vereinigungen jedoch soll nach dem Regierungsentwurf die Verhaftung auch zulässig sein, wenn kein solcher Haftgrund besteht.
Eine solche Ausnahmeregelung gibt es allerdings schon seit 1964 für Verfahren wegen Mordes, Totschlags und Völkermordes. Sie ist schon bei diesen Straftaten fragwürdig genug. Der Gesetzgeber hatte ihr die Funktion zugedacht, Verhaftungen zur Beruhigung einer erregten Öffentlichkeit zu ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht(41) hat die Verfassungswidrigkeit einer solchen Zielsetzung festgestellt, die Bestimmung aber nicht für nichtig erklärt, sondern sie umgedeutet. Auch sie diene der Abwendung von Flucht, Verdunkelungs oder Wiederholungsgefahr, nur brauchten bei diesen Taten anders als sonst diese Gefahren nicht durch bestimmte Tatsachen belegt zu werden. Das Bundesverfassungsgericht hat zugleich erklärt, daß sich eine derartige Regelung aus der besonderen Schwere jener Straftaten rechtfertigen lasse. Damit aber ist die Ausdehnung auf den Tatbestand der Bildung terroristischer Vereinigungen nicht zu vereinbaren, von dem es in der Begründung des Regierungsentwurfs ausdrücklich heißt, daß er „auch Fälle geringeren Unrechts erfaßt(42) und der für den Regelfall einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vorsieht.
Einen freien Verkehr zwischen dem des Terrorismus bezichtigten Verhafteten und seinem Verteidiger würde es nach dem Regierungsentwurf nicht mehr geben. Der schriftliche Verkehr soll in jedem Falle überwacht werden, auch der mündliche dann, wenn der Verdacht besteht, daß der Beschuldigte den Verkehr zur Begehung von Straftaten nach §129a mißbrauchen kann. Wohlgemerkt, es wird nicht vorausgesetzt, daß sich irgendein Mißbrauchsverdacht gegen den Verteidiger richtet. Mit einer solchen Überwachung würde eine wirksame Verteidigung, auf die ein jeder Angeklagte ein Recht hat, unmöglich gemacht. Zwar soll der überwachende Richter (grundsätzlich) zur Verschwiegenheit verpflichtet sein. Aber es ist abwegig zu glauben, daß es in Anwesenheit eines Überwachers zum offenen Gespräch über den Tatvorwurf und über die Verteidigungsmöglichkeiten kommen würde.
Von den Befürwortern des Vorschlags wird erklärt, daß es die Möglichkeit der Überwachung schon früher, nämlich bis zur Reform von 1964, gegeben habe. Selbst wenn das stimmte, wäre es bedenklich genug, eine in langer Auseinandersetzung erstrittene Reform unter dem Eindruck von Einzelfällen wieder rückgängig zu machen. In Wirklichkeit aber ist jene Behauptung irreführend. Tatsächlich konnte der Verkehr seinerzeit während des Vorverfahrens – das heißt, so lange die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft andauern – kontrolliert werden; von der Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Gericht an aber war er frei. Der Entwurf der Bundesregierung (ebenso wie der des Bundesrats) hingegen kennt keine zeitliche Begrenzung.
Dem Angehörigen einer terroristischen Vereinigung allerdings, der auf die Seite der Strafverfolgungsbehörden übertritt und zu der Überführung oder Ergreifung anderer beiträgt, soll ein besonderes Privileg eingeräumt werden. Er soll für seine Hilfe Straffreiheit einhandeln können, und zwar soll er nicht nur der Bestrafung wegen dieser Zugehörigkeit entgehen können, sondern zugleich auch der wegen aller damit in Zusammenhang stehenden anderen Verbrechen, bis hin zum Raub, zur Geiselnahme, zum Totschlag oder zum Mordversuch (nur für vollendeten Mord ist „lediglich” eine Strafmilderung bis auf 3 Jahre vorgesehen). Die Bedenken gegen eine solche Regelung ergeben sich nicht nur aus dem Verzicht auf eine verwirkte schwere Strafe. Gravierender noch ist die Gefahr, daß der „Kronzeuge” andere zu Unrecht bezichtigt, um seine Haut zu retten. Mit eben dieser Begründung ist übrigens der Bundesrat im vorigen Jahr der Absicht der Bundesregierung, die Straffreiheit des Kronzeugen bei Rauschmitteldelikten einzuführen, entgegengetreten(43).
Die Beschränkungen der Verteidigung durch das Ergänzungsgesetz haben das Parlament ohne Gegenstimmen passiert. Dies erklärt sich gewiß nicht daraus, daß sämtliche Abgeordneten überzeugt gewesen wären, daß es ein gutes Gesetz sei. Offenbar wollte niemand durch seinen Widerspruch sich und seiner Partei den Vorwurf zuziehen, nicht entschieden genug gegen die Feinde des Staates vorzugehen – ein Vorwurf, mit dem die Opposition gegenüber den Regierungsparteien immer wieder operiert und den diese dadurch auffangen zu müssen und zu können glauben, daß sie sich ihrerseits besonders entschieden gebärden. Die Beratungen über die neuen Gesetzentwürfe werden zeigen, ob dieser Mechanismus weiter funktioniert, ob sich SPD und FDP weiter in die von der Opposition gewünschte Richtung drängen lassen — oder ob sie dem Abbau des Rechtsstaats, der unter der Parole seiner Verteidigung geführt wird, ein Ende setzen.
BVerfGE 38, 105 (111)
Bundesgesetzblatt 1974, I S 3393.
Bundesgesetzblatt 1974, I S 3686.
Siehe § 161a i V mit §§51, 70 StPO.
Siehe § 161a i V mit §§77, 78 StPO.
Siehe § 163a III I V mit §§133, 134 StPO.
Siehe § 153a (I V mit § 153I S 2) StPO, eingefügt durch das Einführungsgesetz zum StGB (Bundesgesetzblatt 1974, I S 469), das ebenfalls am 1.1.75 in Kraft trat.
Siehe §§ 110 und 100 III S 2 StPO.
Entwurf eines 1. StVRG, Bundestags-Drucksache 7/551, S 37 f.
Siehe §§ 145 ff Gerichtsverfassungsgesetz.
Die Berichtspflicht der Staatsanwälte ist in den einzelnen Bundesländern durch interne Dienstanweisungen geregelt.
Vgl Kleinknecht, Strafprozeßordnung, 32.Auflage 1975, Vorbemerkung 1.B. Vor §22.
Siehe §§ 138a und b StPO.
Siehe § 231a StPO.
Siehe § 257 II, III StPO.
Siehe § 137 I S 2 StPO.
Abgedruckt in Vorgänge Nr 16 (4/1975),S 110.
Vgl die Berichte von Ministerialrecht Rieß in Neue Juristische Wochenschrift 1975, S 81 (93 f) und Juristenzeitung 1975, S 265
BVerfGE 34, 293.
Bundestags-Drucksache 7/2526.
Siehe § 138a II StPO.
Siehe § 112a StPO.
BVerfGE 15,226. – Die aus dem Baader-Meinhof-Verfahren ausgeschlossenen Verteidiger haben Verfassungsbeschwerden eingelegt; diese wurden jedoch nicht zur Entscheidung angenommen. Der für die Vorprüfung zuständige “Dreierausschuß” hat die Frage, ob das Gesetz den grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, kurzerhand verneint, ohne die Entscheidung BverfG 15,226 auch nur zu erwähnen. Vgl Europäische Grundrechte-Zeitschriftt 1975, S 463f.
Siehe § 138c V StPO.
Siehe § 138a I StPO.
Ausschließungsbeschlüßße des OLG Stuttgart gegen die Anwälte Dr. Croisssant Groenewold und Ströbele vom 22.4, und 13 und 13.5.75.
Siehe §§ 113, 114 Bundesrechtsanwaltordnung.
Siehe §150 Bundesrechtsanwaltordnung.
Siehe § 231a StPO.
Beschluss vom 30.9.75 über die Verhadlung in Abwesenheit der Angeklagten; bestätigt durch Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 23.10.75
Bundestags-Drucksache 7/2989, S 5.
Das kommende deutsche Strafverfahren, Bericht der amtlichen. Strafprozeßkommission, herausgegeben von F. Gürtner, 1938, S 460.
Art 627-641 Code de procedure penale.
§ 28b StPO in der Fassung des Gesetzes vom 28.6.35.
Siehe § 231a III S 3 StPO.
Vgl Bundestags-Drucksache 7/2989, S 6.
Bundestags-Drucksache 7/3649.
A a O, S6.
Bundesrats-Drucksache 381/75.
BVerfGE 19, 342.
Wie Fußnote 40, S 9.
Bundestags-Drucksache 7/551, S 142.