Diskussion macht uns ratlos
Offener Brief an Bundesinnenminister Otto Schily
Mitteilung Nr. 169, S. 8
Eine Härtefallregelung im Ausländergesetz fordern der Nobelpreisträger Günter Grass und Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis. In einem Brief, den die Frankfurter Rundschau Ende 1999 im Wortlaut veröffentlichte, baten sie Bundesinnenminister Otto Schily, die politische Initiative zu ergreifen. Sehr geehrter Herr Minister, lieber Otto Schily, die von Ihnen angestoßene Debatte um das Ausländer- und Asylrecht macht uns ratlos. Wir haben keine Erklärung dafür, warum ein sozialdemokratischer Innenminister mit mißverständlichen, teilweise aber auch widerlegbaren Behauptungen, in einem sensiblen Politikfeld, eine Diskussion anstößt und weiterhin betreibt, die nach unserem Verständnis Kernanliegen sozialdemokratischer Politik schadet. Mehr noch: Wir haben kein Verständnis dafür, daß Sie die notwendige politische Sensibilität im Hinblick auf bekannte Vorbehalte in weiten Teilen der Bevölkerung vermissen lassen – wir haben es im Landtagswahlkampf in Schleswig–Holstein bereits zu spüren bekommen. Wir halten es für eine unverzichtbare Position sozialdemokratischer Politik, für die Schwachen einzustehen und für eine gerechte Gesellschaftsordnung zu streiten. Dazu gehört auch eine humane Ausländer- und Asylpolitik, die sich den Menschen öffnet, ihnen eine helfende Hand reicht und neue Perspektiven bietet. Auch im zusammenwachsenden Europa hat die Bundesrepublik Deutschland nicht nur das Recht, sondern nach unserer Auffassung auch die Pflicht für einen hohen Standard bei der Verwirklichung des Asylrechts zu sorgen und zusätzliche Möglichkeiten der Zuwanderung integrationswilliger Ausländerinnen und Ausländer zu schaffen. Es bestand und besteht keine Veranlassung, bereits vor Beginn einer Diskussion, um ein europäisches Ausländer- und Asylrecht, das Grundrecht auf Asyl zur Disposition zu stellen. Der Bundesparteitag der SPD hat hierzu unter der treffenden Überschrift „Mehr Menschlichkeit“ wichtige Fingerzeige in eine andere Richtung gegeben. Wir erwarten, daß sich das von Ihnen geführte Bundesinnenministerium mit seiner weiteren Politikgestaltung an diesem Beschluß orientiert. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen für eine bessere Ausländerpolitik steht die Forderung nach Einführung einer Härtefallregelung im Ausländergesetz. Schleswig–Holstein setzt sich dafür schon seit Jahren ein, bisher leider vergebens. Wir halten es für an der Zeit, daß die rotgrüne Bundesregierung auf diesem Feld endlich politisch aktiv wird. Aus den Koalitionsfraktionen liegen zahlreiche Äußerungen vor, die eine politische Unterstützung erwarten lassen. Wir sind auch davon überzeugt, daß es in unserer Bevölkerung breite Zustimmung dafür gibt, der Verwaltung ein rechtliches Instrument an die Hand zu geben, um Menschen in wahrhaft tragischen Situationen auch helfen zu können. Die Tätigkeit der Schleswig-Holsteinischen Härtefallkommission, die versucht, mit dem Sachverstand in der Flüchtlingsarbeit engagierter Menschen und den Kirchen Spielräume für Lösungen in Fällen zu finden, die vielfach an Dramatik und menschlicher Tragik kaum noch auszuhalten sind, bietet reichliches Anschauungsmaterial. Das Ausländer- und Asylrecht ist in den vergangenen Jahren in einer Weise verschärft worden, daß Spielräume für Einzelfallösungen so gut wie nicht mehr vorhanden sind. Dafür ein Beispiel: Bereits seit über acht Jahren befassen sich die Behörden, die Gerichte, der Landtag, sein Eingabenausschuß, die Kirche und das Innenministerium mit dem Fall der mazedonischen Familie Dzaferoski, die dem Volk der Roma angehört. Die Familie ist über vier Jahre im Kirchenasyl gewesen, bis die Kirchengemeinde der Familie nahegelegt hat, die Aussichtslosigkeit eines weiteren Verfahrens einzusehen. Zwischenzeitlich sind die Eltern Dzaferoski ausgereist, wegen fehlender Papiere werden die vier inzwischen erwachsen gewordenen Kinder hier geduldet. Auch deren Papiere sind nunmehr vollständig und die Ausreise steht bevor. Uns ist bewußt, daß dieser Fall rechtlich keine anderen Handlungsmöglichkeiten bietet und die Ausländerbehörde vor Ort auch korrekt handelt. Dennoch bleibt ein Gefühl der Ohnmacht zurück, wenn in diesen (und anderen) Einzelfällen nicht mit einer Härtefallregelung geholfen werden kann. Durch die lange Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik ist eine Situation eingetreten, die es einer solchen Familie nahezu unmöglich macht, in ihrem Heimatland zu leben. Die Kinder sind hier aufgewachsen, haben Freunde hier gefunden, beherrschen die deutsche Sprache besser als die der Eltern. Hinzu kommt, daß auch in Mazedonien den Angehörigen des Volkes der Roma bekanntermaßen mit Vorbehalten und Diskriminierung begegnet wird. Für die Durchsetzung eines Asylanspruchs reicht dies alles nicht aus. Diese Entscheidung unabhängiger Richter müssen wir akzeptieren. Doch zeigt dieser Fall exemplarisch, daß unser Ausländer- und Asylrecht „gnadenlos“ geworden ist. Es gibt eine Möglichkeit aus diesem Dilemma herauszukommen: Wir brauchen eine Härtefallregelung im Ausländergesetz und wir bitten Sie nachdrücklich, dazu die politische Initiative zu ergreifen.
Mit freundlichen Grüßen
Günter Grass, Heide Simonis