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Ein besserer Straf­vollzug - oder etwas, das besser ist als Straf­voll­zug?

01. April 2019

aus: vorgänge Nr. 6/1969, S. 201-205

Fritz Bauer, der verstorbene Hessische Generalstaatsanwalt, hat einmal geschildert, wieviel die Rechtsvorstellungen von Gustav Radbruch und insbesondere seine „Einführung in die Rechtswissenschaft“ für seine Berufswahl und sein Rechtsdenken bedeutet haben, wie er, erfüllt von Begeisterung, als junger Student mit jenem schmalen Buch über den Heidelberger Philosophenweg gelaufen sei.

Sein Strafrechtsprogramm formulierte Gustav Radbruch am eindeutigsten in dem Satz: „Nicht Verbesserung des Strafrechts, sondern Ersatz des Strafrechts durch Besseres.“ Das ist ein revolutionäres Programm, das Fritz Bauers heftiges, auf großzügige und radikale Gedankengänge ärasprechendes Temperament in hohem Maße anziehen mußte. Denn es bedeutet nicht kompromißreiche Reform an der Oberfläche, sondern Radikalität von der Wurzel her, Umdenken in bezug auf die Grundlagen des Strafrechts, weg von Schuld und Tatvergeltung – nach einem anderen Wort Radbruchs: „nicht die Tat, sondern der Täter, nicht der Täter, sondern der Mensch“ hin zu Sichern, Helfen und Heilen des Menschen.

Die praktische Konsequenz solchen Umdenkens umfaßt zweierlei: Humanisierung von Strafe und Strafvollzug und Effektivität durch eine Gestaltung des Strafvollzuges, die durch Sozialisation des Täters auf wissenschaftlicher (nicht moralisch wertender) Grundlage die Sicherung der Gesellschaft zu verwirklichen trachtet. Schon der Weg zur Humanisierung der Strafe war lang und ist noch nicht zurückgelegt. Er fordert Respekt vor dem Menschen, Berücksichtigung von Würde und Eigenart des Rechtsbrechers und das solidarische Gespräch mit ihm. Von der Länge dieses Weges sagte Goethe vor etwa zweihundert Jahren: „Welchen Weg mußte nicht die Menschheit machen, bis sie dahin gelangte, auch gegen Schuldige gelind, gegen Verbrecher schonend, gegen Unmenschliche menschlich zu sein?“ Und wer möchte behaupten, daß dieses Ziel heute erreicht ist? Der Weg begann mit brutalen Leibes-und Lebensstrafen, in 48 verschiedenen Abstufungen, damit nur ja recht vergolten werde. Er führte über das Nebeneinander von Lebens- und Freiheitsstrafen, die ihrerseits, wenngleich sie wenigstens zunächst auch unter humanen, auf Erziehung (,‚Zucht“) gerichteten Gesichtspunkten eingeführt worden waren, durch Vergeltungs- und psychologiefremde Abschreckungsgedanken geprägt und entsprechend abgestuft wurden. Auch hatten recht handfeste ökonomische Rentabilitätserwägungen zu einer in bezug auf die inneren und äußeren Bedingungen unmenschlichen Vollzugspraxis geführt.

Eine solche langdauernde und trotz der schon zu Ende des 18. Jahrhunderts von John Howard begonnenen Reformbestrebungen noch nicht wirklich überwundene unmenschliche Praxis war und ist umso mehr möglich, als es sich bei den passiv Betroffenen immer um „die anderen“ handelt. Sie stehen ohnehin im Dunkeln und sind von denen, die das alles aktiv gestalten, kaum zu sehen und in ihrem „Betteln und Schlafen unter den Brücken“ nur schwer zu begreifen. Von vorneherein fehlt ihnen fast alles, was sie zu Partnern der Gesetzgebung machen könnte, und sie sind zumeist nicht einmal in der Lage, ihren egoistisch angestrebten Vorteil in der Weise wahrzunehmen, daß er ihnen nicht langfristig und im Endergebnis doch nur zum Nachteil wird. Mit anderen, in einer günstigeren Klassenlage gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten wären sie nicht so weit ins Dunkel geraten und wären sie wohl auch trotz ihres Fehlverhaltens bürgerlich akzeptabler geblieben. Da niemand sie zur rechten Zeit lehrte, Selbstachtung und lebensnotwendige Kontrolltechniken auszubilden, verfallen sie ihren ungebändigten Bedürfnissen zu kompensierender Triebbefriedigung. Und wenn dann die Folgen eingetreten sind, so werden sie nicht, wie es bei denen mit den besseren Ausgangschancen üblich war und auch heute durchaus oft noch ist, durch die schützenden Wände einer bürgerlichen Solidarität vor ihnen – dumpfen ökonomischen und seelischen Frustrationen oft woyzeckschen Ausmaßes – gerettet. Humanität im Bereich der staatlichen Strafe bedeutet vor allen Dingen, daß nicht eine aus starken und schwachen Gliedern bestehende Gesellschaft den Armen schuldig werden läßt, um ihn dann in seiner Pein zu verlassen, daß sie nicht „straft“, sondern hilft, die zur rechten Zeit nicht ermöglichte gute Entwicklung nachzuholen.

Aus einer solcherart humanen Grundhaltung ergibt sich unmittelbar die zweite Konsequenz strafrechtlichen Umdenkens, auf der heute der reformerische Schwerpunkt liegen muß: die nüchterne Effektivität eines Kriminalrechts, von dem Fritz Bauer sagt, es stehe „der Bekämpfung der Seuchen oder der Regelung des Gas- und Wasserwesens näher als dem, was gemeinhin als Ethik und Moral bezeichnet wird“. Effektivität bedeutet rückfallverhütende Behandlung des Rechtsbrechers auf wissenschaftlicher Grundlage und mit wissenschaftlichen Behandlungsmitteln. Immer mehr breitet sich die Erkenntnis aus, daß vor allem hier angesetzt werden muß, wenn Verbrechen wirksam bekämpft werden soll.

Das soeben reformierte Strafrecht hat die Strafe nicht durch Neues ersetzt. Es knüpft nach wie vor bei der moralischen Schuld an und fordert also auch die moralisierende Reaktion. Immerhin enthält es Ansätze, neben die oder anstelle von Strafe Sicherung und Heilung zu setzen, wie z.B. den Strafverzicht, sobald Resozialisierung mithilfe der Strafaussetzung gelungen ist, oder den Schuldspruch mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe bei schweren Folgen. In den Bemühungen vollends, den Strafvollzug zu reformieren, wird immer ausschließlicher die Sozialisation als Zweck des Vollzuges der Freiheitsstrafe anerkannt. Dazu gehört aber auch, daß Sozialisation nicht als bloße Anpassung an die bestehende Gesellschaft, wie immer diese sei, verstanden wird, sondern als aktive und ggf. auch kritische Beteiligung an einer akzeptablen Rechtsgemeinschaft. Denn diese kann den Rechtsbrecher ihrerseits nur dann vor Rückfall bewahren, wenn sie human, demokratisch, gerecht und sozial ist. So verstanden bedeutet Kriminalitätsbekämpfung nicht nur Resozialisierung des Rechtsbrechers, sondern auch Resozialisierung der Gesellschaft selbst.

Doch auch in seinem unmittelbaren Anliegen der Reaktion auf den einzelnen Rechtsbruch muß der Strafvollzug von seiner Stelle aus am Gesamtanliegen einer demokratischen und sozialen Gesellschaft teilnehmen, ihre einzelnen Glieder in ein verantwortliches Verhältnis zur Gesamtheit und zu einem sozialen und demokratischen Verhalten zu führen. Auch der Rechtsbrecher ist berechtigter und verpflichteter Bürger. Artikel 1 des Grundgesetzes, daß die Würde des Menschen unantastbar ist, gilt auch im Rahmen des Freiheitsentzuges. Darüber hinaus stehen dem Verurteilten grundsätzlich alle Grundrechte der Verfassung zu, auch ihm gegenüber dürfen sie nur insoweit und nur aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, wie es für die Durchführung der Behandlung bei Freiheitsentzug unumgänglich ist. Es bedarf also einer gesetzlichen Grundlage, in der die Rechtsstellung des Verurteilten klar umrissen und für jeden erkennbar ist und aus der sich die Möglichkeit der Abwehr gegen Rechtsverletzungen auf einem geordneten Rechtswege ergibt.

Dem sozialstaatlichen Anliegen des Grundgesetzes entspricht die Verpflichtung zur sozialen und innerpersönlichen Hilfe. Ihm kann nur durch eine zweckgerichtete Behandlung entsprochen werden, mit dem Ziel, den Rechtsbrecher und die Gesellschaft, deren Teil er ist, von seinen kriminellen Belastungen zu befreien. Sein Versagen liegt ja nicht allein in der Verantwortung des „Verbrechers“, sondern in der gemeinsamen Schuld aller, die mit ihrer Hilfe für die schwachen Glieder der Gesellschaft hinter ihrer demokratischen Solidaritätspflicht zurück-geblieben sind. Allerdings besteht mit gleicher Eindeutigkeit der Anspruch gegen den Rechtsbrecher, daß er aufhört, sich narzißtisch und rücksichtslos Vorteile zu Lasten anderer zu verschaffen und daß er sich notfalls einer Behandlung zur Herstellung seiner Gesellschaftsfähigkeit, ggfs. bis zur Wiedergutmachung des von ihm angerichteten Schadens, gefallen lassen muß. In diesem Zusammenhang setzen jedoch Humanität und Rechtsstaatlichkeit die Grenze für den, wenn auch hilfreich gemeinten, Eingriff in den internen Lebensbereich, damit pädagogischer Perfektionismus vermieden und ein der menschlichen Würde entsprechender Freiheitsbereich gewahrt wird.

Ein solches Behandlungsprogramm wird sich sicherlich nicht rascher durchsetzen als die Humanität gegenüber der Brutalität von Leibes- und Freiheitsstrafen. Einen Anfang machten einige hilfreiche Vorentscheidungen des neuen Strafensystems, wie die Beseitigung der resozialisierungsfeindlichen Zuchthausstrafe und die Einschränkung, auch wenn leider nicht Beseitigung der kurzfristigen Freiheitsstrafe. Daß die kurzen Strafen ganz beseitigt werden müssen, ist für alle an einem Behandlungsvollzug Interessierten selbstverständlich, weil in weniger als 6 Monaten Behandlung nicht einmal in Gang gesetzt werden kann. Hinzu kommen muß aber auch bei der Auslese der Bestraften eine Beschränkung der Freiheitsstrafe auf die, die einer stationären Behandlung bedürftig sind. Das schließt die nicht aus, die zwar behandlungsbedürftig sind, denen aber mit den heutigen Methoden sehr oft noch nicht geholfen werden kann und die deshalb nicht selten als „nicht behandlungsfähig“ bezeichnet werden, die schweren Rückfalltäter. Ihnen gegenüber geht es darum, bessere, intensivere Methoden der Einwirkung auf ihre schweren psychischen Störungen zu entwickeln.

Die lebenslange Freiheitsstrafe hingegen, die nur in seltenen Fällen einem Bedürfnis nach andauernder Behandlung entspricht, ist immer dann, wenn sie nicht durch die höherwertigen Interessen des Schutzes einer unaufhörlich gefährdeten Gesellschaft gedeckt wird, ein Relikt reinen Vergeltungsdenkens. Sie zu beseitigen muß das Ziel weiterer Reformbestrebungen sein. Wer je persönlich miterlebt hat, was lebenslanger Freiheitsentzug für Körper und Seele eines Menschen bedeutet, der muß zu der Überzeugung kommen, daß diese Maßnahme nicht nur sinnlos ist, sondern auch dem Art. 1 GG widerspricht. Nach 5 Jahren Freiheitsstrafe ist im allgemeinen, selbst bei einem relativ humanen, auf Behandlung ausgerichteten Vollzug, das Optimum der Behandlungsmöglichkeit erreicht. Nach 10 Jahren spätestens beginnt jede nur denkbare positive Entwicklung in negative Richtung umzuschlagen, und nach 15 Jahren tritt langsam der seelische Tod ein. Was bleibt, ist leere Hoffnungslosigkeit auf seiten der die Strafe Erleidenden und qualvolles Erbarmen auf seiten derer, die eine solche unsinnige Aufgabe fortzuführen verpflichtet sind.

Auch die Einschränkung der Freiheitsstrafe auf die Gruppe der Behandlungsbedürftigen hat – neben der Beseitigung der kurzen Freiheitsstrafen – in den Strafrechtsänderungsgesetzen dieses Jahres eine zwar noch nicht ausreichende, aber doch begrüßenswerte Förderung erfahren, z.B. durch Ausweitung der rechtlichen Möglichkeiten, Strafen im Urteil oder nach Verbüßung ihrer Hälfte auszusetzen. Die unverhältnismäßig harte Maßnahme der fast immer erfolglosen Verwahrung Soziallästiger im Arbeitshaus wurde aufgegeben und die Einführung einer sozialtherapeutischen Anstalt für besonders intensive Behandlungsmethoden gegenüber häufig Rückfälligen und schwer gestörten Tätern beschlossen.

Die entscheidenden Aufgaben der Verwirklichung eines Behandlungs- anstelle eines „Straf“vollzuges liegen jedoch in der inneren Organisation des Vollzuges selbst. Strafanstalten brauchen keine „Baumschulen des Verbrechens“ zu sein, wie Sebastian Haffner annimmt (Stern 1969/21). Sie können Stätten einer sinnvollen und sogar erfolgversprechenden Behandlung kriminellen Fehlverhaltens werden, wenn die Gesellschaft bereit ist, dafür wirklich etwas zu investieren. Das erfordert allerdings den Einsatz beträchtlicher finanzieller und personeller Mittel. Zunächst einmal müssen statt der „Zwingburgen für praesumptive Ausbrecher“ (Radbruch) in den Anstalten räumliche Verhältnisse geschaffen werden, unter denen Menschen nicht nur leben, sondern sich auch in kleinen Gruppen unter zielgerichteter Einwirkung zu tüchtigeren, glücklicheren und harmonischeren Persönlichkeiten entwickeln können. Also: Mauern und Gitter nur soweit wie unumgänglich, räumliche Gliederung der Gebäude in kleine Wohneinheiten, dadurch Ausschaltung negativer Einflüsse und Übung sozialen Verhaltens im täglichen Miteinander und in gruppendynamischer Behandlung, brauchbare Arbeits- und Ausbildungsstätten, angemessene Freizeiträume zu Fortbildung, Entwicklung von Hobbies für die arbeitsleere Zeit nach der Entlassung und zu musischer Beschäftigung im Hinblick auf Charakter- und Gemütsbildung, angegliederte Heime für die Kleinstkinder gefangener Frauen, damit Mütter und Kinder zusammenleben und sidi zum Nutzen beider aneinander binden können. Die äußere Gestaltung dieser Heime muß jedoch alle dunklen, unheimlichen, bedrückenden Einflüsse auf die freie und gesunde Entwicklung der Kinder verhindern.

In so beschaffenen Räumen müssen Menschen mit den Verurteilten sich verbinden, die ihnen sachlich und menschlich helfen können, ihre inneren und äußeren Schwierigkeiten zu überwinden. Das stellt Anforderungen an Zahl, Auslese und Ausbildung. Alle, sowohl die Mitarbeiter des täglichen und stündlichen Umgangs in den Wohn- und Arbeitsbereichen wie die Spezialisten, die besondere therapeutische Methoden anwenden, müssen für ihre spezifischen kriminalpädagogischen Aufgaben vorbereitet sein.

Eines der brennendsten Probleme der Strafvollzugsreform liegt in der Unsicherheit über die anzuwendenden Behandlungsmethoden im einzelnen. Sowenig bisher exakt über die konkreten Ursachen des kriminellen Verhaltens und insbesondere der Rückfallneigung bekannt ist, so wenig weiß man auch über effektive Methoden der Rückfallbekämpfung. Viele Straffällige leiden wirklich und möchten sich von der Kriminalität befreien, sie haben alle Bereitschaft für ein neues, tüchtiges, ungetriebenes Leben, aber immer wieder bricht buchstäblich das Elend einer neuen Straftat über sie herein. Der folgende Satz berührt vielleicht auch einen Fernstehenden: „Aller gute Wille hat nichts geholfen, alles Arbeiten an mir war umsonst, das Böse und Dunkle ist stärker als ich, es erstickt das Gute. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es für mich und die anderen Menschen besser ist, wenn ich in einer geschlossenen Anstalt lebe. Sicher werde ich dieses Mal SV bekommen, ich finde es ganz richtig. Die Wahrheit ist bitter, aber ich werde mich daran gewöhnen müssen, mit ihr zu leben.“ Dieser Satz verurteilt die Möglichkeiten des heutigen Strafvollzuges. Nach dem Stand des heutigen Wissens war relativ viel für die Schreiberin getan worden: Berufsausbildung, Gruppenpädagogik und psychotherapeutische Behandlung. Auch Vertrauen und Zusammenarbeit schienen perfekt. Doch die wirkliche Hilfe – nach einem fast zwanzigjährigen Versagen – konnte ihr auch in mehrmaligen Strafperioden nicht mehr gegeben werden.

Es ist daher die dringendste Aufgabe einer Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis zu erkennen, wie Menschen, in deren Jugend fast alles versäumt wurde, nachträglich zur Einsicht, vor allem aber zur Fähigkeit reflektierter Selbstkontrolle gegenüber Triebüberflutung, überwältigenden Schuldgefühlen, neurotischen Wiederholungszwängen und Resignation verholfen, wie also ein erfolgreicher Heilungsprozeß eingesetzt werden kann.

Was wir jetzt schon tun können? Wir kennen einige Methoden der Arbeitstherapie, die die Arbeitshaltung beeinflussen, berufliche Aus- und Fortbildung, schulische Förderung, notfalls mit Sonderschulmethodik; wir besitzen Kenntnis über allgemeine Behandlungsmethoden in der modernen Sozialarbeit (Einzelfallhilfe, Gruppenpädagogik, Mitbestimmung), man weiß etwas von den aus der Psychoanalyse abgeleiteten Methoden der Heilpädagogik, Psychagogik, des „schöpferischen Trainings“ und der psychoanalytischen Einzel- und Gruppentherapie. Sie alle sind für andere Sozialbereiche entwickelt und noch wenig bei der Behandlung der Kriminalität erprobt worden. Wir ahnen, daß das Heil in einer auf den Einzelfall zugeschnittenen Kombination der verschiedenen Methoden liegen muß. Es wäre dringend erforderlich, durch wissenschaftliche Untersuchungen und praktische Erprobung, mit Hilfe sachlicher Einrichtungen und personellen Könnens, zu einer intensiven Überprüfung jeder einzelnen Methode und ihrer Kombination innerhalb des Vollzuges zu kommen.
Etwas ist heute schon absolut sicher: allen Bemühungen muß eine einheitliche Haltung zugrunde liegen, und das ist vor allem der Ansatz dessen, was „besser ist als Strafvollzug“; die Zielsetzung, zu heilen statt zu strafen, die partnerschaftliche Zusammenarbeit bei der Ersetzung von Befehlsempfang und bloßer Gewöhnung durch gemeinsame Bemühung um Erkenntnis in Einzel- und Gruppengesprächen und durch Übung des Zusammenlebens unter gruppenpädagogischen Gesichtspunkten und in gemeinsamer Verantwortung auch für das Ganze. Demokratisches Zusammenleben, Toleranz, Respekt vor dem Gesprächspartner und Solidarität müssen die Vokabeln dessen sein, was im Strafvollzug, in dem es um Behandlung und nicht um Strafe geht, an die Stelle von „Ordnung, Sicherheit, Gewöhnung“ treten muß. Und solche Bemühungen müssen auch dorthin reichen, wo die Aufgabe der Sicherung in erhöhtem Maße gegeben ist. Wahrscheinlich wird sich zeigen, daß in einem therapeutischen Klima mit dem Primat der Behandlung die Sicherungsnotwendigkeit geringer wird; ausländische Beispiele deuten eindringlich darauf hin.

Es ist zu wünschen, daß das künftige Strafvollzugsgesetz auch der BRD die Möglichkeit zu einem zugleich humaneren wie effektiveren Vollzug der Freiheitsstrafe gibt, in dem moralisierendes Schulddenken durch wissenschaftliche Behandlungsgesichtspunkte abgelöst wird. Es wäre schön gewesen, wenn ein so leidenschaftlicher Verfechter dieser Haltung wie Fritz Bauer das noch miterlebt hätte. Nicht nur durch gedankliche Vorbereitung, sondern auch in der praktischen Realität hat er jedoch seinen Beitrag zu einer solchen Entwicklung bereits geleistet, indem er durch die Macht seiner kompromißlosen Persönlichkeit und ihre Ausstrahlungskraft im Sinne der Rationalisierung des Kriminalrechts auf das öffentliche Bewußtsein eingewirkt hat. Und damit wäre hier zum Schluß noch die Rede von der dritten notwendigen Konsequenz strafrechtlichen Umdenkens: Alle Bemühung um eine bessere, zweckentsprechende Behandlung des Rechtsbrechers bleibt erfolglos, wenn das zum Teil tiefenpsychologisch bedingte pharisäerhafte Unwerturteil der Öffentlichkeit gegenüber dem Rechtsbrecher nicht abgebaut werden kann. Solidarität gegenüber dem Schwachen entspricht dem demokratischen Gesellschaftsideal und muß zur grundsätzlich vorbehaltlosen Wiederaufnahme dessen führen, der die kriminalpädagogische Behandlung bestanden hat. Grundlage einer solchen Bereitschaft könnte in einem durch Aufklärung vermittelten Wissen liegen, daß beim chronischen Rechtsbrecher fast immer in der Jugend Versäumtes nachzuholen ist, oder wie Radbruch es ausdrückt: „daß es des Strafrechts fragwürdige Aufgabe ist, gegen den Verbrecher nachzuholen, was die Sozialpolitik für ihn zu tun versäumt hat.“

Darüber hinaus jedoch müßte jeder, der sich einer ernsthaften Selbsterforschung unterzieht, zu der Klarheit finden, daß kein „Unbescholtener“ schuldlos und daß daher niemand berechtigt ist, sich pharisäerhaft über andere zu erheben. Wenn Männer vom Format Gustav Radbruchs und Fritz Bauers ihr Wissen von der allgemeinen Unzulänglichkeit der Gesellschaft und ihrer Gerechtigkeit und ihr Wissen von der eigenen Unzulänglichkeit zur Grundlage ihrer solidarischen Bereitschaft mit solchen, die strafbare Handlungen begehen, machen konnten, sollten wir anderen uns dann weniger unzulänglich fühlen?

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