Themen / Rechtspolitik

Ein erneuter Verstoß gegen europäische Menschen­rechts­normen

20. Dezember 2010

Auszüge aus der Stellungnahme der HU zur Reform der Sicherungsverwahrung. Mitteilungen Nr. 211 (4/2010), S. 8/9

(Red.) Der Deutsche Bundestag hat – nach Verurteilung Deutschlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) – am 2. Dezember 2010 eine Reform der Sicherungsverwahrung beschlossen, mit der die gerügten Verstöße gegen europäische Menschenrechtsnormen behoben werden sollten. Zu dem Gesetzentwurf (s. BT-Drs. 17/3403) hat Jens Puschke für die HU eine Stellungnahme abgegeben, die wir hier zusammengefasst wiedergeben, sofern sie nicht durch die im Rechtsausschuss vorgenommenen Änderungen am Entwurf (s. BT-Drs. 17/4062) hinfällig wurden.

Anlasstaten der primären Siche­rungs­ver­wah­rung

Die Sicherungsverwahrung kann, wenn man sie überhaupt für erforderlich und zulässig hält, nur unter engsten Voraussetzungen für bestimmte Ausnahmenfälle als Rechtsfolge verhängt werden. Dementsprechend wurde angekündigt, die Taten, derentwegen Sicherungsverwahrung angeordnet werden darf, auf schwere Sexual- und Gewaltverbrechen zu begrenzen. Diese Ankündigung wird in dem Entwurf jedoch nicht umgesetzt. Gemäß § 66 I Nr. 1a/b der beschlossenen Reform des Strafgesetzbuchs (StGB) können alle Straftaten, die sich gegen die Rechtsgüter Leben, persönliche Freiheit, körperliche Unversehrtheit oder sexuelle Selbstbestimmung richten oder Straftaten aus speziellen Abschnitten des Strafgesetzbuch, dem Völkerstrafgesetzbuch und dem Betäubungsmittelgesetz, die im Höchstmaß jeweils mit mindestens zehn Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, dafür herangezogen werden. Das trifft beispielsweise auf die Nötigung (§ 240 StGB), auf den Raub (§ 249 StGB), die Brandstiftung (§ 306 StGB) oder den Handel mit Betäubungsmitteln (§ 29a BtMG) zu. Zwar werden durch die weitere Voraussetzung einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren (§ 66 I Nr. 1 StGB) Fälle leichterer Kriminalität ausgeschlossen. Jedoch kann die gerichtliche Praxis der sog. Sanktioneneskalation durchaus dazu führen, dass mittelschwere Delikte zu einer entsprechenden Verurteilung führen. In Fällen weniger schwerwiegender Delikte ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung (neben der Freiheitsstrafe) jedoch nicht angemessen. Die erstrebte Sicherheit der Allgemeinheit kann einen auf unbestimmte Zeit angelegten Freiheitsentzug in diesen Fällen nicht rechtfertigen.

Ausbau der vorbe­hal­tenen Siche­rungs­ver­wah­rung

Die Neufassung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB stellt eine massive Erweiterung ihres Anwendungsbereichs dar, die alle Bemühungen um eine Restriktion dieser Form der Freiheitsentziehung im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips konterkariert. Die Anlasstaten für die vorbehaltene Sicherungsverwahrung werden wieder nicht abschließend auf schwere Sexual- und Gewaltdelikte begrenzt, sondern entsprechen der Art nach denen des § 66 StGB. Einschränkend wird verlangt, dass – außer bei bestimmten Sexual- und Körperverletzungsstraftaten – ein Verbrechen vorliegen muss. Dennoch bleiben Straftaten wie etwa Raub (§ 249 StGB) im Anwendungsbereich erhalten, die im konkreten Fall einen geringen Schweregrad aufweisen können.

Des Weiteren soll die Sicherungsverwahrung gemäß § 66a I StGB bei entsprechenden Vorverurteilungen bereits dann vorbehalten werden, wenn nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar, aber wahrscheinlich ist, dass der Täter infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist. Nach der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung musste demgegenüber das Bestehen eines Hanges positiv festgestellt werden (Urteil vom 8. Juli 2005, BGHSt 50, 188, 194 f.). Für derartige Gefährlichkeitsprognosen gilt grundsätzlich, dass es nicht möglich ist, zuverlässig zukünftige Straftatenbegehungen auszuschließen oder vorherzusagen. Studien haben gezeigt, dass eine Mehrzahl Entlassener, die von Gutachtern als gefährlich beurteilt wurden, keine schwerwiegenden neuen Straftaten begangen haben. Eine eingriffsintensive Maßnahme wie die Sicherungsverwahrung auf ein derart unsicheres Mittel zu stützen, ist höchst bedenklich. Durch die Reduzierung der Anforderungen an die der Prognose zugrunde liegenden Feststellungen, werden die Anordnungsvoraussetzungen für die vorbehaltene Sicherungsverwahrung vage und es besteht die Gefahr, dass diese immer dann vorbehalten wird, wenn die formalen Voraussetzungen erfüllt sind. Dies gilt umso mehr bei erstmalig Straffälligen, gegen die unter den Voraussetzungen des § 66a II StGB nun ebenfalls die Sicherungsverwahrung vorbehalten werden kann. Eine Prognose zukünftiger Legalbewährung auf der Grundlage einer einzigen qualifizierenden Anlasstat ist kaum abzugeben.

Die Ausweitung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ist erklärtes Ziel der jetzt beschlossenen Reform; eine „effektive“ primäre und vorbehaltene Sicherungsverwahrung soll den „Verzicht“ auf die nachträgliche Sicherungsverwahrung ausgleichen, so die Gesetzesbegründung. In der Praxis wird dies aber zu einer Verschlechterung der Resozialisierungsbemühungen und damit letztlich der Sicherheit der Allgemeinheit führen. Das Damoklesschwert der unbefristeten Inhaftierung nach Verbüßung der Freiheitsstrafe, das über Verurteilten mit vorbehaltener Sicherungsverwahrung schwebt, erschwert deren Wiedereingliederung erheblich, da während der Verbüßung der Freiheitsstrafe nicht sicher feststeht, ob sie entlassen werden oder eine Sicherungsverwahrung antreten müssen. Die Ausweitung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung wird Scheinanpassungen von Gefangenen während des Strafvollzuges befördern (um die spätere Sicherungsverwahrung zu vermeiden), was einer erfolgreichen Therapie natürlich entgegensteht.

Durch die Ausweitung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vergrößern sich auch die Bedenken bzgl. der Vereinbarkeit der Regelung mit der Rechtsprechung des EGMR. Der EGMR sieht in der Sicherungsverwahrung eine Unterbringung durch Verurteilung (EGMR vom 17.12.2009, NJW 2010, 2495), die sich an den Grundsätzen des Art. 5 I a EMRK messen lassen muss: Die Freiheitsentziehung in Form der Sicherungsverwahrung muss die Konsequenz der „Verurteilung“ und ihre Folge sein, auf ihr beruhen oder durch die „Verurteilung“ geschehen sein. Wird die Sicherungsverwahrung lediglich bei der Verurteilung vorbehalten, weil sowohl Hang als auch Gefährlichkeit nicht feststehen, sondern nur wahrscheinlich sind, dann stützt sich eine spätere Entscheidung über die Anordnung regelmäßig auf Tatsachen, die zeitlich nach der Verurteilung liegen. Dies sind Tatsachen, die sich vor allem aus dem Verhalten des Betroffenen während des Strafvollzugs ergeben (und deshalb wenig geeignet sind, Rückschlüsse auf ein zukünftiges Verhalten in Freiheit zu ziehen). Zum anderen ist der Kausalzusammenhang zwischen ursprünglicher Verurteilung und Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung fraglich.

Beibe­hal­tung der nachträg­li­chen Siche­rungs­ver­wah­rung

Entgegen den Ankündigungen und auch im Widerspruch zu Teilen der Gesetzesbegründung soll die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht abgeschafft werden. Gemäß § 66b StGB wird das Instrument weiterhin für solche Personen angewandt, die aufgrund gerichtlicher Entscheidung zunächst in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht wurden. Wird diese Unterbringung für erledigt erklärt, weil der die Schuldfähigkeit ausschließende oder vermindernde Zustand nicht mehr besteht, kann dennoch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden. Dies widerspricht den Vorgaben des EGMR. Eine ausreichende Kausalverknüpfung zwischen dem Urteil, in dem die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wurde, und einer späteren Freiheitsentziehung in Form der Sicherungsverwahrung ist nicht gegeben. Während ersteres Urteil darauf beruht, dass ein Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten Schuldfähigkeit besteht, knüpft die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gerade an den Wegfall dieses Zustandes an.

Zu kritisieren ist zudem, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung für sog. Altfälle fortbestehen soll (vgl. BT-Drs. 17/3403, S. 52). Personen, die einschlägige Straftaten vor dem Inkrafttreten der Neuregelung begangen haben, sollen auch in Zukunft der zurzeit bestehenden Gesetzeslage unterfallen. Dies betrifft vor allem jene, die sich derzeit im Strafvollzug befinden. Der Zeitraum für die Anwendung der alten Gesetzeslage kann auf diese Weise noch viele Jahre betragen. Diese widerspricht ebenfalls Art. 5 I a EMRK. Es ist daher mit einer erneuten Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland durch den EGMR zu rechnen.

Noch größere Bedenken bestehen gegen die vollständige Beibehaltung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende. Diese Regelung ist mit den Grundsätzen des Jugendstrafrechts und einem rechtsstaatlichen Umgang mit jungen Straftätern nicht vereinbar. Die Sicherungsverwahrung, die während der Zeit des Strafvollzuges angeordnet werden kann, verstärkt die negativen Auswirkungen einer Inhaftierung erheblich und kann zu einer weiteren Steigerung der gerade bei Jugendstrafe ohnehin sehr hohen sog. Rückfallquoten führen. Zudem sind aussagekräftige Prognosen über zukünftiges Verhalten in Freiheit bei jungen Menschen, die sich in der Entwicklung befinden und die einen Großteil ihres Lebens in Haft verbracht haben, nahezu unmöglich.

Ausbau der Führungs­auf­sicht

Die Führungsaufsicht (§§ 68 ff. StGB) dient dazu, nach Verbüßung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel Lebenshilfe zur Wiedereingliederung zu geben und die verurteilte Person dabei zu kontrollieren. Mit ihr soll die erneute Begehung von Straftaten verhindert werden. Ein Resozialisierungseffekt ist bei der elektronischen Aufenthaltsüberwachung („Fußfessel“), wie sie jetzt beschlossen wurde, jedoch nicht zu erwarten, der durch Strafandrohungen (bei Zuwiderhandlungen) zu erzielende Abschreckungseffekt ist mehr als fraglich. In der Wissenschaft bestehen ohnehin Zweifel bezüglich einer negativ-spezialpräventiven Wirkung von Strafandrohungen. Dies gilt umso mehr für die Personengruppe, der jetzt die „elektronische Fußfessel“ angelegt wird: ihre Gefährlichkeit bestehe ja gerade in einer Neigung zur Begehung von Straftaten, die einer rationalen Abwägung von Vor- und Nachteilen einer Tatbegehung entzogen ist. Wie eine „elektronische Fußfessel“ den attestierten Kontrollverlust  kompensieren soll, ist nicht verständlich. Statt elektronischer Aufenthaltsüberwachung wären im Rahmen der Führungsaufsicht Betreuungsangebote auszubauen und den Verurteilten qualifizierte Ansprechpartner zur Seite zu stellen.

Therapieunterbringungsgesetz

In dem Gesetzentwurf ist zudem die zwangsweise Unterbringung in therapeutischen Anstalten für jene Personen vorgesehen, die aufgrund des Urteils des EGMR teilweise bereits aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden bzw. noch zu entlassen sind (BT-Drs. 17/3403, S. 31 f.). Für eine solche Zwangstherapieunterbringung hat der Bund schlicht keine Gesetzgebungskompetenz, da es sich um eine gefahrabwehrende Maßnahme handelt, jedoch nicht um Strafverfolgung.

Informationen:

Jens Puschke: Zeit für das Ende der Sicherungsverwahrung. Mitteilungen Nr. 208, S. 1-3

HU-Pressemitteilungen vom 28.10./30.11.2010, siehe  https://www.humanistische-union.de/themen/rechtspolitik/.

[Bei dem Text handelt es sich um eine gegenüber der Druckausgabe der HU-Mitteilungen leicht korrigierte Fassung.]

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