Themen / Innere Sicherheit

Ein Urteil und seine Folgen

31. August 2005

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Unzulässigkeit der präventiven Telekommunikationsüberwachung im Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz;

Mitteilungen Nr. 190, S.1-2

In seinem Urteil vom 27. Juli 2005 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die präventive Telekommunikationsüberwachung im Niedersächsischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Das Gericht sah in dem Gesetz, welches im Dezember 2003 in Kraft getreten war, formelle und materielle Verfassungsverstöße.

In einer ersten Stellungnahme erklärte der stellvertretende Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, Dr. Fredrik Roggan, zu der Entscheidung: „Das Bundesverfassungsgericht hat die Landesgesetzgeber nicht nur beim Übertreten ihrer Gesetzgebungszuständigkeit erwischt. Das Urteil versieht weite Teile der ‚vorbeugenden Verbrechensbekämpfung‘, mit der die Polizei ohne Anfangsverdacht im Vorfeld von strafbaren Handlungen ermittelt, mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit … Nun müssen alle Polizeigesetzgeber ihre Gesetze auf verfassungswidrige Befugnisse hin untersuchen.“ Die im Urteil getroffene Feststellung, dass der Bereich der höchstpersönlichen Lebensgesaltung auch bei der Telekommunikationsüberwachung besonders schützenswert sei, begrüßte die Humanistische Union als Versuch, das in den letzten Jahren arg lädierte Telekommunikationsgeheimnis wiederzubeleben.

Gemäß dem Urteil hat der niedersächsische Landtag gegen seine gesetzlichen Kompetenzen verstoßen, indem er polizeiliche Maßnahmen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung regeln wollte, welche bereits durch entsprechende Bundesgesetze abschließend normiert sind. Nach Ansicht der Karlsruher Richter ist die Strafverfolgungsvorsorge Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Grundgesetz. In einem solchen Fall ist dem Landesgesetzgeber die Regelungskompetenz entzogen, wenn der entsprechende Maßnahmenbereich bereits im Bundesgesetz geregelt wurde.

Darüber hinaus wurde dem niedersächsischen Gesetz eine mangelnde Bestimmtheit der Eingriffsnormen vorgeworfen. Im Urteil heißt es dazu: „Die Telefonüberwachung nach § 33a Abs. 1 Nr. 2 Nds. SOG setzt voraus, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass jemand in der Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Das Gesetz setzt nicht einen konkreten, in der Entwicklung begriffenen Vorgang, dessen Planung oder eine Vorbereitungshandlung voraus. Es genügt die auf Tatsachen gegründete Annahme, dass jemand Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Das Gesetz enthält keine einschränkenden Tatbestandsmerkmale, die die … Abgrenzung eines harmlosen von dem in eine Straftatenbegehung mündenden Verhaltens ermöglichen.“ Zudem monierte das BVerfG, dass bei der Anwendung der Telefonüberwachung keine dem Großen Lauschangriff vergleichbaren Vorkehrungen zum Schutz des absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung vorgesehen waren. Der Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die daraus resultierenden Grundrechtsverletzungen führten letztlich zur Entscheidung, das Gesetz für nichtig zu erklären.

Was bedeutet dieses Urteil für die Polizeigesetzgebung der Länder? Sowohl die formellen als auch die materiellen Kriterien der Verfassungskonformität lassen sich auf die anderen Landespolizeigesetze anwenden. In der Bundesgeschäftsstelle der Humanistischen Union wird derzeit eine Übersicht über die Regelungen der einzelnen Landespolizeigesetze erarbeitet, die nach dem Urteil vom 27. Juli reformbedürftig sind. Bereits jetzt ist deutlich, dass der niedersächsische Verfassungsverstoß kein Einzelfall ist.

In verschiedenen Landesgesetzen, etwa dem Berliner ASOG, finden sich Kompetenzüberschreitungen. Bei einzelnen Maßnahmen wird dort ausdrücklich oder über den Verweis auf die allgemeinen Aufgaben (in § 1 Abs. 3 ASOG) die Polizei zur „Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten“ ermächtigt, obwohl dies bereits in der Strafprozessordnung geregelt ist. Das Land Berlin ermächtigt damit in verfassungswidriger Weise seine Polizei zu präventiven Maßnahmen, die bereits bundeseinheitlich und abschließend geregelt sind.

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts muss auch die Verhältnismäßigkeit zahlreicher polizeilicher Maßnahmen neu überdacht werden. Zudem sind die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts auch bei aktuell in der Diskussion befindlichen Gesetzesvorhaben zu berücksichtigen. Wie Klaus Hahnzog in seinem Kommentar (s. S. 3) beschreibt, verstößt etwa die von Bayerischer Staatsregierung und CSU geplante Novellierung des Polizeiaufgabengesetzes in zahlreichen Punkten gegen die Karlsruher Entscheidung. Der im letzten Jahr in den Bayerischen Landtag eingebrachte Gesetzentwurf (Drs. 15/2096) sieht neben Ermächtigungen zur verdeckten Datenerhebung durch automatisierte Kfz-Kennzeichenerkennungssysteme und erweiterten Einsatzmöglichkeiten technischer Überwachungsmittel in Wohnungen auch die Auskunftspflicht von Telekommunikationsdienste-Anbietern vor. Diese Maßnahmen werden mit einer zunehmenden grenzüberschreitenden Kriminalität, der fortschreitenden europäischen Integration und dem internationalen Terrorismus begründet. Bayern habe dabei eine besondere sicherheitspolitische Verantwortung als wichtigstes Tor Deutschlands und Westeuropas nach Ost- und Südosteuropa.

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