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Forderungen der HUMANIS­TI­SCHEN UNION

28. Dezember 1980

HUMANISTISCHE UNION

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 46 – 50

Die HUMANISTISCHE UNION fordert, dass Bund und Länder 5 Jahre nach Vorlage der Ergebnisse der. Enquete zur Lage der Psychiatrie endlich grundlegende und umfassende Reformkonzeptionen entwickeln, die wissenschaftlichen und ethischen Standards gerecht werden, so wie sie in vielen anderen Ländern längst zur Selbstverständlichkeit geworden sind.

  • Der Prävention ist größtmögliche Beachtung zu schenken.
    Prävention bedeutet zunächst die Verhinderung krankmachender Lebensumstände und Umweltbedingungen. Durch Aufklärung und Gesundheitserziehung ist ein Bewusstsein für psychosoziale Gefährdungen zu schaffen. Hier kommt den Medien und der Pädagogik eine Aufgabe zu, die sie bisher vernachlässigt haben.
  • Im Vorfeld psychischer Erkrankung gilt es, umfassende Möglichkeiten der Beratung zu schaffen, bei denen auch das soziale Umfeld des Ratsuchenden mit einbezogen werden kann. Beratung muss der Konfliktlösung dienen, Entscheidungshilfen leisten oder bei der Verarbeitung schicksalhafter Ereignisse behilflich sein. Beratungsstellen müssen multiprofessionell besetzt sein. Die Mitarbeiter sollen die Möglichkeit haben, auch außerhalb der Beratungsstellen unmittelbar an den sozialen Brennpunkten zu arbeiten. In vielen Fällen ist es nicht angebracht zu warten, bis die Gefährdeten zu ihnen kommen. Der schulpsychologische Dienst ist dringend auszubauen. Erziehungsberatungsstellen sollten der Charakter von Familienberatungsstellen erhalten. Es ist darauf zu achten, dass weltanschaulich neutrale Beratungsstellen in ausreichender Zahl vorhanden sind. Eine entsprechende personelle Besetzung muss Wartezeiten überflüssig machen.
  • Ambulante Behandlung muss absoluten Vorrang vor stationärer Behandlung haben. Ambulanzen können nur sinnvolle Arbeit leisten, wenn sie ebenso wie die Beratungsstellen multiprofessionell besetzt sind und die Mitarbeiter außer Haus in Familien und anderen Gruppierungen tätig werden dürfen. Sie müssen über die übliche Einzelbehandlung hinaus Selbsthilfegruppen initiieren und betreuen, Kontaktstellen aufbauen und erhalten, Familientherapie betreiben und gruppentherapeutische Maßnahmen ermöglichen. Eine wichtige Aufgabe fällt den Ambulanzen zu, wenn es um die Regintegrierung vorübergehend stationär behandelter psychisch Kranker geht. Hilfen bei der Wohnungs- und Arbeitsbeschaffung gehen weit über das hinaus, was zur Zeit unter psychiatrischer Betreuung verstanden wird. Dies ist bei der derzeitigen Praxis der Abrechnung von Einzelleistungen undenkbar. Es muss eine Möglichkeit der Mischfinanzierung durch Krankenkassengelder, Mittel der öffentlichen Hand und der Rentenversicherungsträger, sowie eine Möglichkeit der Abrechnung in Pauschalbeträgen gefunden werden. Entsprechende Modelle sollten entwickelt und experimentell überprüft werden. Das derzeit geplante sogenannte Psychotherapeutengesetz und der Entwurf zum Ersatzkassenvertrag unterminieren solche Bestrebungen.
  • Die Auflösung der psychiatrischen Landeskrankenhäuser ist unabdingbar.Eine Gleichstellung des psychisch Kranken mit anderen Kranken kann nur erreicht werden, wenn psychiatrische Abteilungen allgemeinen Krankenhäusern abgegliedert werden. Alle Bestrebungen, die psychiatrischen Großkliniken zu verkleinern z.B. durch Aufnahmebeschränkungen sind zu begrüßen, das Schrumpfen eines psychiatrischen Landeskrankenhauses zu einer überschaubaren, gemeindenahen Einrichtung kann jedoch nicht das eigentliche Ziel sein, denn es enthebt den Patienten nicht der Diskriminierung und sozialen Deklassierung, die es bedeutet, ehemaliger „Irrenhausinsasse“ gewesen zu sein.
    Stationäre psychiatrische Behandlung muss immer als eine möglichst kurzfristige Maßnahme angesehen werden, die, wenn irgend möglich, vermieden werden sollte. Einweisungen, vor allem Zwangseinweisungen müssen erheblich erschwert werden. Dem steht die bisherige Finanzierung psychiatrischer Kliniken, die sich an der Bettenzahl orientiert und. eine möglichst hohe Belegung voraussetzt, entgegen. Die Finanzierung stationärer psychiatrischer Behandlung muss sich aufgrund eines allgemeinen Versorgungsauftrages für ein bestimmtes Standarteversorgungs-Gebiet über einen bestimmten Jahresetat vollziehen.
  • Die bisherige hierarchische Struktur psychiatrischer Großkliniken darf nicht auf die psychiatrischen Abteilungen an allgemeinen Krankenhäusern übertragen werden. Therapiepläne sind von einem Mitarbeiterteam zu erstellen und durch psychosoziale Ausschüsse zu kontrollieren. Es wird eine Abstufung der Entmündigung gefordert. Eine regelmäßige Überprüfung des Entmündigten Statussees ist notwendig. Vormundschaften dürfen nur von Einzelpersonen, nicht aber von Behörden übernommen werden. Der Patient bzw. sein gesetzlicher Vertreter haben ihre Einwilligung in die therapeutischen
    Maßnahmen zu geben, nachdem sie über Methode, Ziel, Nebenwirkungen und eventuelle Alternativen aufgeklärt wurden. Die Verantwortlichkeit der Behandelnden muss klar sein. die Mitarbeiter sind über die Rechte des Patienten ebenso aufzuklären, wie der Patient selbst. Kein Patient, insbesondere auch kein psychisch kranker Rechtsbrecher darf ohne Therapieangebot einfach nur „verwahrt“ werden. Unabhängige Patientenanwälte oder Ombudsmänner sollten über die Einhaltung der Patientenrechte wachen.
  • Die totale Priorität medikamentöser Behandlung ist zugunsten psychotherapeutischer und sozialtherapeutischer Methoden abzubauen. Bezugspersonen des Patienten können in die Therapie mit einbezogen werden. Zu verbieten sind alle inhumanen, der Disziplinierung dienenden Maßnahmen, gewaltsame Methoden wie Schocktherapien und stereotaktische Eingriffe in das menschliche Hirn, um Verhaltensänderungen herbeizuführen.
  • Eine Koordination der bisher getrennt voneinander operierenden Einrichtungen im Bereich psychosozialer Beratung und Versorgung ist erforderlich.. Psychosoziale Ausschüsse müssen zum Zweck der Planung und Kontrolle konstituiert werden. Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften sollten dem Gedankenaustausch, der kritischen Reflexion und der Kooperation an der Basis dienen. Es empfiehlt sich, die Ausschüsse aus den Arbeitsgemeinschaften heraus zu wählen.
  • Ziel aller psychiatrischen Bemühungen muss die Integration der psychisch Kranken und Behinderten in die Gesellschaft sein.
  • Der stationären Behandlung angeschlossen müssen abgestufte Möglichkeiten halbambulanter und ambulanter Versorgung folgen, Tages und Nachtkliniken, therapeutische Wohnheime und Wohngemeinschaften. Alle diese Einrichtungen sind gemeindenah zu organisieren, so dass der Patient seine gewohnten sozialen Bezüge beibehalten kann.
  • Ist die Familie bereit, die Pflege und Betreuung eines psychisch kranken oder behinderten Familienmitgliedes zu übernehmen, bedarf es einer Unterstützung finanzieller Art, aber auch einer Einweisung in die pflegerische Tätigkeit, sowie der Beratung bei auftretenden Schwierigkeiten. Anzuregen sind Gesprächskreise betroffener Familien.
  • Ist ein Patient nicht in der Lage oder nicht willens, in die Familie zurückzukehren, etwa weil die Ursachen seiner Erkrankung im Spannungsfeld dieser Familie zu suchen sind, ist ihm jegliche Unterstützung zu seiner Verselbständigung zu bieten, sei es, dass ihm ein Platz in einer therapeutischen Wohngemeinschaft geboten wird, sei es, dass ihm geholfen wird, eine eigene Wohnung und einen Arbeitsplatz zu finden.
  • Zu empfehlen ist die Einrichtung eines Bundesinstitutes, das die Entwicklungen im psychiatrisch/psychotherapeutischen Sektor dokumentarisch und wissenschaftlich begleitet und Hilfen für die Planungen bereitstellt.

In der Öffentlichkeit muss ein Bewusstsein für diese Integrationsbemühungen geschaffen werden, d.h. durch eine bessere Kenntnis dessen, was psychische Erkrankung bedeutet und wo die Ursachen liegen, verliert sich ihr Nimbus des Unheimlichen und Bedrohlichen. Eine größere Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten muss erreicht werden. Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit dürfen nicht zur einzig akzeptierten Verhaltensnorm werden. Menschliches Leiden und menschliche Schwäche müssen als zum Menschsein dazugehörig erkannt werden. Jede Art der Ausgliederung, Ausstoßung, jede Art des Einschließens und Zwangsverwahrens kranker Menschen ist zutiefst inhuman und eines freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaates unwürdig.

Ansätze für mögliche Aktivitäten der HUMANISTISCHEN UNION.

Die HUMANISTISCHE UNION kann in den Ortsverbänden durch öffentliche Veranstaltungen eine breitere Information der Bevölkerung über die Dringlichkeit der Psychiatrie Reform bewirken.
Wichtig ist dabei das Einbeziehen der Medien. Sie wird durch Publikationen zu diesem Thema die Öffentlichkeitsarbeit vertiefen.
Mitglieder, die aus beruflichen oder sonstigen Gründen Zugang zu psychiatrischen Einrichtungen haben, sollten wachsam sein in Bezug auf Missstände und Übergriffe. Diese sollten publik gemacht werden; gegebenenfalls ist Strafanzeige zu erstatten. Juristen der HUMANISTISCHEN UNION sollten den reformerischen Kräften innerhalb der Psychiatrie Unterstützung bieten in Fragen der Rechtsunsicherheit, sowohl bezogen auf die Patienten, als auch auf die Institution selber. Die HUMANISTISCHE UNION sollte auf die zuständigen Behörden in Bund und Ländern einwirken, damit die bereits bestehenden Rechte der Patienten nicht weiter unterlaufen, sondern endlich durchgesetzt werden. Notwendige Änderungen von Gesetzen und Erlassen sollten durch die HUMANISTISCHE UNION angeregt und über die Parlamentarier in den eigenen Reihen in die Parteien geleitet werden. Auf den Verband der Träger ist einzuwirken, damit er sich einem Forderungskatalog verpflichtet, der Humanisierung und Demokratisierung in der psychiatrischen Versorgung dient. Die Gewerkschaften müssen davon überzeugt werden, dass die berufsrechtliche Situation der in der psychosozialen Versorgung tätigen Berufsgruppen neu zu regeln ist.
Die HUMANISTISCHE UNION sucht Verbündete im Einsatz für eine umfassende und grundlegende Reform der Psychiatrie, sei es aus den Kreisen der Betroffenen und ihrer Angehörigen, sei es unter den fortschrittlich denkenden, in der Psychiatrie Arbeitenden, sei es bei anderen bürgerrechtlich orientierten Organisationen und Verbänden, die sich der Integration benachteiligter Randgruppen verpflichtet fühlen.

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