Für ein Forum zur juristischen Zeitgeschichte
Mitteilung Nr. 165, S. 04
Hier in Kurzform ein Plädoyer für ein Forum zur juristischen Zeitgeschichte von Helmut Kramer, Mitglied der Humanistischen Union und Richter am Oberlandesgericht.
Justizgeschichte – ein unverzichtbarer Gegenstand der Forschung und des Lernens
Der Rechtsstaat – ein mühselig geschaffenes institutionelles Kunstwerk – ist keine selbstverständliche politische Errungenschaft. Welchen Gefährdungen er ausgesetzt ist, wie sehr es auf seine Unterstützung durch Bürger mit entwickeltem Rechtsbewußtsein ankommt, ist uns ausgerechnet im 20. Jahrhundert vor Augen geführt worden, in einem Land mit einer als vorbildlich geltenden Rechtsordnung. Den Aufbau einer annähernd zufriedenstellenden Rechtskultur in den Jahren nach 1945 haben wir vor allem dem schockartigen Erschrecken über das Versagen der Justiz von 1933 bis 1945 zu verdanken. Auch die SED-Justiz ist ein lehrreicher Gegenstand dafür, wie das Recht in den Dienst des Unrechts gestellt werden kann.
Was aber, wenn die Erinnerung an den Unrechtsstaat verblaßt? Eine demokratatische Justiz steht und fällt mit dem Wissen aller um die Kostbarkeit einer gelebten Rechtskultur und ihrer ständigen Bedrohung. Wie wird dieses Wissen bei uns wachgehalten?
Juristische Zeitgeschichte – einzigartiger Gegenstand des Lernens
Beginnen wir mit dem Informationsangebot für die Juristen. Nach fast jahrzehntelangem Schweigen hat die Rechtswissenschaft seit einigen Jahren begonnen, die NS-Justiz und die Justiz in der DDR aufzuarbeiten (1). Damit ist es aber nicht getan. Notwendig ist auch eine Vermittlung der Forschungsergebnisse.
Große Verdienste erworben hat sich hierzu die Deutsche Richterakademie mit ihren alljährlich durchgeführten Tagungen zur NS-Justiz, zur DDR-Justiz, seit 1998 auch zur Justizgeschichte der Bundesrepublik. Bei dem begrenzten Platzkontingent der Richterakademie kommt allerdings nur ein Bruchteil der Bewerber zum Zuge. Entsprechendes gilt für die (wenigen) Tagungen auf Landesebene (2).
Beklagenswert ist der Zustand im Bereich der Juristenausbildung. Im Zeichen einer immer mehr technokratisch ausgerichteten Ausbildung ist dort die juristische Zeitgeschichte – ungefähr identisch mit der Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts – weitgehend ausgeklammert (die Fakultät in Frankfurt gehört zu den wenigen Ausnahmen). Auch im Vorbereitungsdienst (3) erfahren die meisten angehenden Juristen weder etwas über das Versagen ihrer Vorgänger noch erörtert man mit ihnen die Ursachen, die Juristen mit einer dem heutigen Rechtsunterricht vergleichbaren Ausbildung gleichsam zu Mördern in der Robe haben werden lassen. Die Richter des Dritten Reiches kamen nicht trotz ihrer gediegenen Ausbildung, sondern mit Hilfe der zu demokratischen Zeiten erlernten Rechtstechniken zu ihren mörderischen Ergebnissen. In ihrer oft achtbaren Lebensgeschichte und bürgerlichen Rechtschaffenheit können wir uns gelegentlich vielleicht sogar selbst und unsere eigenen Gefährdungen wiedererkennen. In Festreden wird gern hervorgehoben, daß die Heranbildung zu einem verantwortungsvollen Juristen sich nicht in der Beherrschung des formalen rechtlichen Instrumentariums erschöpft, sondern daß eine mit zu großer Selbstgewißheit angewandte Rechtsdogmatik unsere technischen Berufsqualitäten auch ins Gegenteil umschlagen lassen kann. In der Ausbildungs- und Prüfungspraxis werden daraus aber keine Konsequenzen gezogen. Hierzu bedürfte es wohl einer Fortbildung der Ausbilder.
Das Recht – kein Gegenstand der Kulturgeschichte?
Aufklärung über die juristische Zeitgeschichte dürfen überhaupt alle Bürger erwarten. Sie müssen wissen, welchen Gefährdungen der Rechtsstaat ausgesetzt war und vielleicht wieder sein kann. Gerade am Beispiel der Rechtskatastrophen dieses Jahrhunderts können wir der verbreiteten Vorstellung entgegentreten, mit dem Recht und der Rechtspolitik brauche der Bürger sich näher erst dann zu befassen, wenn es ihn im konkreten Fall betrifft. Vielmehr läßt sich mit der Anschauung des NS-Unrechtsstaats, aber auch der SED-Justiz und durchaus mit Gegenwartsbezug, zeigen, welch existentielle Bedeutung das Recht für das Wohlergehen aller Bürger hat und wie sehr es darauf ankommt, daß – mit einem entwickelten Wissen und Rechtsgefühl – alle für den Rechtsstaat eintreten.
Hinter dem daraus folgenden Informationsbedürfnis bleibt das öffentliche Angebot weit zurück. Im Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht der Schulen erfahren die Schüler kaum etwas über die Rechtsgeschichte oder auch nur über das Recht und den Rechtsstaat von heute. Dasselbe gilt für einen anderen wichtigen pädagogischen Bereich: Beim Wort „Kulturgeschichte“ wird zuerst an Bildende Kunst gedacht, auch an Theater, Musik, Film, Literatur, Architektur. Alle diese und viele andere kulturgeschichtliche Gegenstände (4) verfügen über eigene Foren der Aufklärung über ihr Wirken in Gegenwart und Geschichte. Doch für sein ureigenstes Anliegen – das Recht und die Justiz – hat der Rechtsstaat im Bereich der Aufklärung und Erinnerung bislang nichts übrig (5). Als seien wir eher ein Autofahrerstaat als ein Rechtsstaat unterhalten wir stattdessen beispielsweise 58 Automobilmuseen. Auch gibt es neben vielen Technik- und Industriemuseen zahlreiche Armee- und Marinemuseen. Deutlicher kann man den geringen Stellenwert des Rechts in unserem allgemeinen Bildungssystem nicht markieren.
Daß die (vermeintliche) Abstraktheit des Rechts einer Veranschaulichung in der Form eines Aufklärungs- und Dokumentationszentrums nicht entgegensteht, hat übrigens das Bundesministerium der Justiz in seinen Wanderausstellungen zur NS- und DDR-Justiz in vorbildlicher Weise gezeigt. Allerdings müßte endlich eine ständige und erweiterte Ausstellung, begleitet durch die notwendige Vermittlungsarbeit, zum
Ausgangsort der Bemühungen gemacht werden, das allgemeine Interesse an der Beschäftigung mit dem Recht zu wecken. Gerade eine solche Arbeit könnte anschaulich und eindrucksvoll die geschichtliche Entwicklung zum heutigen Rechtsstaat zeigen, mit allen Errungenschaften, historischen Brüchen, Pervertierungen und latent fortbestehenden Gefahren.
Es wird höchste Zeit für eine Institution mit der Aufgabe, die Bestrebungen im rechtsgeschichtlichen Forschungsbereich zu bündeln und als Impulsgeber für die Juristenausbildung und Allgemeinbildung im Bereich der Forschung und Vermittlung der juristischen Zeitgeschichte zu wirken.
Helmut Kramer
Helmut Kramer hat seinen Vorschlag ausführlich begründet in der Veröffentlichung „Plädoyer für ein Forum zur juristischen Zeitgeschichte“. Bremen 1998. WMIT-Druck u. Verlags-GmbH. ISBN 3-929542-12-9. 42 S., DM 9,80. Die Broschüre kann beim Verfasser zum Preis von DM 5,– bezogen werden:
Dr. H. Kramer, Herrenbreite 18 A, 38302 Wolfenbüttel.
Um das Interesse an einer Beschäftigung mit der juristischen Zeitgeschichte zu fördern, ist kürzlich ein neuer Verein gegründet worden: Forum Justizgeschichte. Vereinigung zur Erforschung und Darstellung der deutschen Rechts- und Justizgeschichte des 20. Jahrhunderts. Nähere Informationen dazu erteilen Helmut Kramer und Klaus Bästlein (Cosima-Platz 2, 12159 Berlin).
1) Zur Justizgeschichte der Weimarer Republik liegen nur wenige Untersuchungen vor. Die Erforschung selbst der Frühgeschichte der bundesdeutschen Justiz steht noch völlig in ihren Anfängen.
2) Regelmäßig werden solche Regionaltagungen nur von Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen veranstaltet.
3) Niedersachsen und Hessen veranstalten ein- bzw. zweitägige Seminare für Referendarinnen und Referendare mit dem Thema der juristischen Zeitgeschichte
4) U.a. ein Sportmuseum sowie ein Museum für Post und Kommunikation, ferner jeweils Museen für Fahnen und Orden, Briefmarken und Münzen sowie für Uhren, Schuhe, Strümpfe, Nußknacker, Pfeifen, Brot, Schokolade, Likör und Hanf. In München gibt es ein Nachttopf-Museum, Bad Mergentheim wirbt mit dem Deutschen Gartenzwergmuseum.
5) Das Reichskammergerichtsmuseum in Wetzlar beschränkt sich auf die Zeit vor 1806. Das Rechtshistorische Museum in Karlsruhe behandelt auf wenigen Quadratmetern viertausend Jahre Rechtsgeschichte und beansprucht ersichtlich nicht, der Justizgeschichte des 20. Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit zu widmen.