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Humanismus und Straf­vollzug - Drei Thesen und ein Resümee

30. März 2011

Aus: Jens Puschke (Hrsg.), Strafvollzug in Deutschland. Strukturelle Defizite, Reformbedarf und Alternativen, S. 85-96

I.     Einführung

Ich habe mir den Begriff „Humanismus“ für mein Thema ausbedungen, zum einen, weil er im Namen der Humanistischen Union steckt und ich mich freue, dass diese nach längerer Pause wieder zum Thema Strafvollzug zurückkehrt. Aber auch, weil ich finde, dass der Begriff weniger abgenutzt ist als die Begriffe „human“ und „humanitär“, die man allenthalben in den unpassendsten Zusammenhängen vorfindet. Man denke an die Forderung nach „humanen Methoden“ bei der Todesstrafe oder an die sogenannte humanitäre Kriegsführung. „Humanismus“ ist dagegen ein starker Begriff, geradezu ein „Donnerwort“ (im Sinne von Goethes Faust). Der Begriff teilt allerdings mit dem der Menschenwürde die Eigenschaft, sich einer präzisen formalen Definition zu entziehen. In unserem Zusammenhang bedeutet er aber mindestens, dass auch die Täter schwerer Straftaten als Menschen gesehen und behandelt werden müssen, als Menschen in Gefangenschaft, als gefangene Menschen. Aber das ist, wie ich zu zeigen versuchen werde, leichter gesagt als getan. Im Folgenden werde ich mich daher diesem Begriff induktiv, durch Beispiele, nähern. 

II.    Aboli­tio­nimus als Humanismus?

Meine erste These lautet, dass eine wahrhaft humanistische Haltung zum Strafvollzug in Gefängnissen ihren besten Ausdruck im Wunsch nach dessen Abschaffung findet.

Das Gefängnis ist meiner Überzeugung nach eine zutiefst inhumane Institution. Das Einsperren von Menschen nimmt ihnen ein Stück Menschenwürde. Es erklärt sie symbolisch zu zweitklassigen Menschen, zu Untermenschen. Und dies unabhängig von den konkret vorfindbaren Haftbedingungen[252]. Diese strukturelle Inhumanität teilt das Gefängnis mit einer Reihe anderer Institutionen: mit der Sklaverei, der Folter, der Todesstrafe, dem Angriffskrieg. Allerdings ist der Konsens über die Inhumanität dieser Institutionen unterschiedlich breit und der Grad ihrer tatsächlichen Abschaffung ist unterschiedlich weit fortgeschritten.

Aber: Ist eine Gesellschaft ohne Gefängnisse überhaupt denkbar? Brauchen wir diese Institution nicht, um Menschen davor abzuschrecken, schwere Straftaten zu begehen? Brauchen wir sie nicht, um potentiell „gefährliche“ Menschen aus dem Verkehr zu ziehen, um künftige Opfer zu vermeiden? Das sind gute, naheliegende Fragen. Das Gefängnis und speziell der Strafvollzug im Gefängnis erscheint gerade heute als eine völlig unverzichtbare Institution.

Was meine ich also, wenn ich dennoch die gegenteilige Haltung als eine wahrhaft humanistische darstelle? Ich meine damit, dass eine solche Haltung unabhängig von ihrer kurzfristigen Umsetzbarkeit richtig und verteidigenswert ist. Es hilft vielleicht, sich daran zu erinnern, dass auch andere Institutionen, deren Inhumanität heute weitgehend anerkannt ist, für unverzichtbar galten und ihre Abschaffung für unmöglich. Und dass sie dennoch das Ende ihrer Tage gesehen haben.

Das beste Beispiel ist die Sklaverei. Ihre Geschichte reicht bis in die Hochkulturen der Antike zurück. Dass Menschen im Eigentum anderer Menschen stehen konnten, war so selbstverständlich, dass selbst unsere bedeutendsten Philosophen daran keinen Anstoß nahmen. Die Sklaverei war bis ins 19. Jahrhundert weltweit verbreitet. Ihre Gegner waren lange Zeit eine kleine intellektuelle Minderheit. Sie wurden in den USA auch Abolitionisten genannt, seit der Gründung im Jahre 1787 der Society for the Abolition of Slavery. Der Name Abolitionismus wurde dort später auch von den Gegnern der Folter und der Todesstrafe übernommen. In Europa hat er sich erst in den letzten 50 Jahren eingebürgert und zwar mit seiner Ausdehnung auf das Gefängniswesen.

Die Sklaverei kann heute weltweit als abgeschafft gelten. Die Folter ist weltweit normativ geächtet, auch wenn sie, wie man weiß, nach wie vor (zumeist im Geheimen) praktiziert wird. Und auch die Todesstrafe hat ihre besten Zeiten hinter sich: In den Ländern des Europarates ist sie seit dem Jahre 2002 abgeschafft und in der UNO-Generalversammlung gibt es seit 2007 immer deutlichere Mehrheiten für ein Verbot der Todesstrafe. Leider haben diese Abstimmungen keinen verbindlichen Charakter, sodass Staaten wie China, die USA, der Iran, ebenso wie einige kleinere Staaten weiterhin die Todesstrafe als Mittel der Strafjustiz einsetzen können.

Vor ihrer Abschaffung ging es bei der Todesstrafe in vielen Ländern zunächst nur um „humanere“ Methoden der Tötung. Schon die Guillotine war ein Schritt in diese Richtung. Heute geht es in den USA vor allem um die Ablösung des elektrischen Stuhls durch ausgeklügelte Systeme von Giftspritzen; seit 2006 gibt es allerdings in Kalifornien ein de facto Moratorium für die Todesstrafe, da sich Mediziner aus ethischen Gründen weigern, an der Verabreichung von Giftspritzen mitzuwirken.

Der Strafvollzug in Gefängnissen befindet sich auf einem ähnlichen Weg. Die normativen Anforderungen an einen rechtsstaatlich legitimen Strafvollzug werden strenger und der Ruf nach einem „humanen“ Strafvollzug lauter. Dieser Ruf wird zunehmend auch von den Strafvollzugsverwaltungen aufgenommen. Meine These ist es nun, dass dies auf die Dauer nicht ausreichen wird und dass längerfristig nur eine Abschaffung der Institution selbst in Frage kommt. Wie lange dies noch dauern wird, kann niemand voraussagen. Es wird deshalb weiterhin wichtig bleiben, sich mit der Frage zu beschäftigen, was Humanismus im Strafvollzug bedeuten könnte.

III.   Humanismus im Straf­vollzug
1.   Humani­sie­rung des Straf­voll­zuges

Das Schlagwort von der Humanisierung des Strafvollzugs geht um. In einem Sammelband wurden kürzlich Konzepte und Praxismodelle[253] vorgestellt, die von den Justizministerien als vorbildlich vorgeschlagen worden waren. Wie aber steht es wirklich mit der Humanität im Strafvollzug? Bei der Beantwortung dieser Frage muss man zwischen Norm und Realität unterscheiden.

Zweifellos hat sich normativ im Strafvollzug einiges verbessert. Ziel des Strafvollzuges soll nicht mehr die bloße Verwahrung sein. Stattdessen heißt es bekanntlich in § 2 S. 1 StVollzG, die Gefangenen sollen „im Vollzug der Freiheitsstrafe fähig werden, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Das ist vielleicht etwas vollmundig formuliert, aber die Absicht ist durchaus zu begrüßen. Allerdings ist dieses Vollzugsziel der Resozialisierung oder Wiedereingliederung nie ganz unbestritten gewesen und die Föderalismusreform hat den Bundesländern die Möglichkeit gegeben, es durch Aufwertung der Sicherheitsaufgabe zu relativieren. So haben die meisten Bundesländer als Aufgabe des Vollzuges „gleichermaßen“ den „Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ gesetzt; das Land Bayern hat diesen Schutz der Allgemeinheit sogar populistisch-symbolisch vor die Resozialisierung gesetzt. Andererseits gilt immer noch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Resozialisierung (und nicht der Schutz der Allgemeinheit) Verfassungsrang hat.

Wie aber steht es mit der Praxis der Resozialisierung im Strafvollzug? Einige wichtige Voraussetzungen dafür sind nie geschaffen worden (ein angemessenes Arbeitsentgelt, Einbeziehung in die allgemeine Kranken- und Rentenversicherung). Die faktische Erfolglosigkeit des Systems ist schwer zu übergehen. Und die materiellen und personellen Ressourcen halten seit Jahren nicht Schritt mit den steigenden Anforderungen. In drastischer Weise heruntergefahren wurden insbesondere diejenigen Aspekte des Strafvollzuges, die noch am ehesten Erfolg versprechen: Vollzugslockerungen und offene Formen des Vollzuges. Auch setzt die Wiedereingliederung von Menschen, die ihre Strafe abgesessen haben voraus, dass ihnen echte Chancen der Eingliederung eröffnet werden. Dazu gehört eine aufgeschlossene Haltung von Arbeitgebern, Nachbarn, Medien etc. Dass wir davon weit entfernt sind, hat die Reaktion von Medien und Öffentlichkeit auf die Entlassung einiger weniger Menschen aus der Sicherungsverwahrung mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt.
Kurzum: Resozialisierung muss in der Praxis als die große Lebenslüge unseres Strafvollzugsystems bezeichnet werden.

Das führt mich zurück zu den erwähnten Humanisierungsprojekten. Auch hier wird man unterscheiden müssen: zwischen bürokratischen Verbesserungen mit zweifelhaftem Humanisierungsgehalt einerseits, bewundernswerten Nischenprojekten andererseits und schließlich echten Innovationen mit Veränderungspotential.

Zu den bürokratisch-technokratischen Innovationen gehören zum Beispiel Projekte, die unter dem wenig humanistisch anmutenden Namen „Entlassungsmanagement“ laufen und bei denen es darum geht, die Lücke zwischen Strafvollzug und Nachsorge zu schließen. Hier wird versucht, die vom Gesetz vorgeschriebene enge Kooperation des Vollzuges mit freien Trägern im Bereich der Entlassungsvorbereitung besser zu organisieren. Solche Verbesserungen sind konsequent und lange überfällig. Aber mit Humanisierung in einem starken Sinne hat dies wenig zu tun. Solche Projekte stabilisieren und legitimieren vielmehr das vorhandene inhumane System der Einsperrung von Menschen.

Als Nischenprojekte bezeichne ich solche Projekte, welche als mehr oder weniger originelle Inseln im Regelvollzug angelegt sind. Beispiele sind vor allem diverse Kunstprojekte (Bildhauerwerkstätten, Theatergruppen, Musik-Ensembles etc.), wo Gefangene, von Künstlern angeleitet, völlig neue Fähigkeiten an sich entdecken können. Ähnliches gilt auch für die „Just Community“ in der JVA Adelsheim, wo eine kleine Gruppe von Gefangenen ein bemerkenswertes Maß an Mitbestimmung, ja Selbstbestimmung praktizieren darf. Der Aufenthalt in solchen Nischen ist argumentierbar humaner, manchmal sogar die einzige Chance für schwierige und unangepasste Gefangene, einen längeren Freiheitsentzug zu überstehen. Der Nischenvollzug ist jedoch immer nur als Ausnahme gedacht und schon deshalb nicht generalisierbar.

Nur wenige der sogenannten Humanisierungsprojekte im Strafvollzug stellen wirkliches Veränderungspotential für die Institution als Ganzes dar. Zu nennen ist vor allem der schon erwähnte Freigang, welcher die Chance bietet, außerhalb der Anstalt einer normalen Ausbildung oder einem normalen Beruf nachzugehen. Es ist daran zu erinnern, dass Fritz Bauer das „Freigängertum“ für die wichtigste Perspektive eines künftigen Strafvollzugs gehalten hat. Bei entsprechender Ausweitung würde der Freigang die Institution Strafanstalt in ihrer Funktion verändern, sie zu einem Organisationszentrum ambulanter Maßnahmen machen. Allerdings ist eine solche Tendenz gegenwärtig nirgends erkennbar; vielmehr spielt sich der Freigang nach wie vor im 10-Prozent-Bereich ab und dies mit rückläufiger Tendenz.

Zu nennen ist ferner die Sozialtherapie, jedenfalls in ihrer ursprünglichen radikalen Form der „integrativen Sozialtherapie“. In diesem Begriff wurde, in den Worten von Gerhard Rehn, „das Bemühen um die optimale Gestaltung eines menschenfreundlichen Vollzuges und das Sprechen und Theoretisieren darüber“[254] zusammengefasst. Außerhalb des Strafvollzuges entwickelt, könnte diese Therapieform dazu beitragen, den Alltag innerhalb der Sozialtherapeutischen Anstalt zu normalisieren und die im Strafvollzug übliche nivellierende Gleichbehandlung zurückzudrängen, zugunsten einer Orientierung an den konkreten Problemen des einzelnen Gefangenen. Konsequenterweise hat das StVollzG dafür in der Regel eigene, „von den übrigen Vollzugsanstalten getrennte sozialtherapeutische Anstalten vorzusehen“ (§ 123 I StVollzG). Leider werden diese Vorgaben weniger und weniger eingehalten: Sozialtherapie findet mehr und mehr innerhalb von Strafanstalten statt und teilt damit notwendigerweise die dort vorhandenen Beschränkungen. Dies ist weit entfernt von der ursprünglichen Vorstellung der Reformer Anna-Eva Brauneck, Stephan Quensel und anderer, die den ganzen Strafvollzug auf einige wenige Sozialtherapeutische Anstalten reduzieren wollten.

Selbst ernsthafte Reformprojekte finden jedoch ihre Grenze zum einen an den Strukturen der totalen Institution zum anderen an heute wieder zunehmend engstirnigen politischen Vorgaben. In der totalen Institution kann alles zum Mittel der Disziplinierung werden, insbesondere, wenn das Gesetz der Anstalt ein Ermessen einräumt: von der Besuchsüberwachung bis zur Verlegung innerhalb und außerhalb der Anstalt, vom Telefonieren bis zum Paketempfang. Dieses Ermessen bildet die Grundlage informeller Disziplinierung. Rückstufung, Rückverlegung in den Regelvollzug und Entzug von Lockerungen stellen informelle Sanktionen dar, welche von den Gefangenen mehr gefürchtet werden als die vom Gesetz vorgesehenen formellen Disziplinarmaßnahmen.

Fazit: Nicht alles was unter der Flagge Humanisierung angeboten wird, verdient diesen Namen. Abolitionisten werden nur systemsprengende Projekte als humanistisch gelten lassen. Aber auch wenn man dem nicht folgen möchte, wird man sich fragen müssen, ob es sich bei der angeblichen Humanisierung im Strafvollzug nicht zumeist um Beispiele durchsichtiger und kurzfristiger Öffentlichkeitsarbeit der Vollzugsverwaltungen handelt.

2.   Humanisten im Straf­vollzug

Weniger üblich als von einer Humanisierung des Strafvollzuges zu sprechen ist es, Humanisten im Strafvollzug zu vermuten. Eine solche Vermutung scheint sich erst recht zu verbieten, wenn man davon ausgeht, dass eine wahrhaft humanistische Haltung zum Strafvollzug den Wunsch nach dessen Abschaffung einschließt. Und dennoch gibt es solche ungewöhnlichen Gestalten vielleicht nicht häufiger, aber dafür deutlich sichtbarer als anderswo.

Viele haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter im Strafvollzug versuchen, die Leiden der Gefangenschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu lindern. Dafür werden, seit dem Jahre 2000, einige von ihnen mit der „Theodor und Friederike Fliedner-Medaille“ für besonderes humanitäres Engagement ausgezeichnet. Da geht es in der Regel um unkonventionelle Einzelfallhilfe oder um besonders originelle Gruppenarbeit oder um „besonderes menschliches Engagement“ von Vollzugsbediensteten. Sowohl das karitative Engagement wie seine Belohnung und seine Ermutigung sind erfreulich, aber nicht identisch mit dem, was hier mit „Humanisten“ im Strafvollzug gemeint ist. Auch in diesem Zusammenhang verzichte ich auf eine formelle Definition zugunsten einer Aufzählung und Diskussion von Beispielen.

Beispiele für eine aufklärerisch-humanistische Haltung finden sich schon in der Frühzeit des modernen Strafvollzuges. Ein erster wichtiger Name ist Alexander Maconchie. Sein theoretischer Ansatz wird in folgendem Statement deutlich, welches er 1857 vor einem Untersuchungsausschuss des House of Lords abgegeben hat[255]:

„Meine Erfahrung führt mich dazu zu sagen, dass niemand völlig unverbesserlich (utterly incorrigible) ist. Man muss ihn wie einen Menschen behandeln, nicht wie einen Hund. Man kann einen Menschen nur dann zurückholen (recover), wenn man an seine menschlichen Qualitäten anknüpft und wenn man ihn dafür interessiert, diese Qualitäten zu entwickeln“.

Diesen Ansatz hatte Maconochie einige Jahre vorher auf der Insel Norfolk Island in die Praxis umzusetzen versucht, wohin die britische Justiz ihre schwersten Verbrecher verbannte. Diese wurden dort in einem fürchterlichen Regiment von Zwangsarbeit, Isolation und Prügelstrafen gehalten, was vielfach zum Tod der Sträflinge führte. Als Maconochie im Jahre 1840 mit der Leitung des dortigen Vollzuges betraut wurde, fand er eine Situation vor, die er völlig unerträglich fand. In knapp drei Jahren vollbrachte er wahre Wunderdinge an Empowerment und Wiedereingliederung, zum Teil in offener Missachtung der ihm vorgegebenen normativen Rahmenbedingungen. Die gefürchtete Auspeitschung auch bei kleinen Verstößen schaffte er sofort ab. Bald nach seinem Eintreffen ließ er den Geburtstag der Königin dadurch feiern, dass die Gefangenen sich von Tagesanbruch bis zum Einbruch der Dunkelheit frei auf der Insel bewegen konnten. Sein wichtigster Grundsatz war es, die Selbstachtung der Gefangenen zu stärken. Dazu gehörte es auch, dass er ausgewählte Gefangene zu Aufsehern machte. Er genoss, nach allen Berichten, hohes Ansehen bei den Gefangenen und konnte sich unbewacht mit seiner Frau und Familie, unter ihnen bewegen, was seinen Vorgängern und Nachfolgern völlig unverständlich blieb. Er gilt als Erfinder des Prämiensystems und des Stufenstrafvollzugs, die als technisch-bürokratische Einrichtungen fortleben. Der humanistische Ausgangspunkt seines Handelns ist demgegenüber in Vergessenheit geraten.

Ich will diese kurze Schilderung ergänzen durch die noch kürzere chronologische Nennung einiger weiterer Personen, welche in dieser Tradition stehen:

in Deutschland ist vor allem Albert Krebs zu nennen, der nach dem Ersten Weltkrieg in Untermaßfeld (Thüringen) zehn Jahre lang einen Vollzug mithilfe „dörflicher Einrichtungen“ (Kantine, Bücherei, Frisierstube etc.) dem normalen Leben anzunähern versuchte. Wie Maconochie führte auch er eine Selbstverwaltung der Gefangenen ein, einschließlich ihrer Beteiligung an Disziplinar­ver­fahren[256].

In den USA ist die Erfahrung von Tom Murton[257] beispielhaft, der 1968 vom Gouverneur von Arkansas zum Direktor der Tucker State Prison Farm und der Cummins State Prison Farm ernannt wurde. Um sich ein eigenes Bild von den Verhältnissen in diesen Anstalten machen zu können, ließ er sich selbst als Gefangener einsperren. Aufgrund der dabei gemachten Erfahrungen von Vergewaltigung, Folter und Korruption begann er als Anstaltsleiter, mithilfe der Gefangenen, einen kompromisslosen Kampf zur Revolutionierung des Strafvollzugs in Arizona. Er hat sich ausdrücklich auf Maconochie berufen. Seine Geschichte ist in dem Spielfilm „Brubaker“ festgehalten.

In neuerer Zeit kann in Deutschland der Fritz Bauer-Preis der Humanistischen Union als Indikator für Humanismus im Strafvollzug gelten. Unter den dreißig Preisträgern seit 1969 finden sich (neben Birgitta Wolf und dem Ehepaar Vack, die sich von außen her intensiv um das Schicksal der Gefangenen und um eine Abschaffung des Strafvollzuges bemühten) auch zwei Anstaltsleiter: Helga Einsele und Heinz-Dietrich Stark. Ihre Namen stehen für die Einführung von „Mutter-Kind-Stationen“ (Frankfurt) einerseits und für eine Politik der offenen Zellentüren (Hamburg) andererseits. Beiden ging es auch um eine Öffnung der Institution Gefängnis gegenüber der Zivilgesellschaft. Es fällt auf, dass die HU seit längerem keinen Preisträger mehr aus dem Bereich des Strafvollzuges erkoren hat. Es ist aber nicht so, dass es keine geeigneten Kandidaten gäbe.

Ich fasse zusammen: Humanisten im Strafvollzug sind Veränderer und Vorbilder. Sie sehen es als ihre berufliche Aufgabe an, die Unmenschlichkeit der Institution zu überwinden. Sie versuchen, das Gefängnis im Kern zu verändern, die Gefangenen als echte Subjekte zu begreifen und mit ihnen zusammen das Leben im Gefängnis sinnvoll zu gestalten. Sie haben oft erstaunliche Veränderungen bewirkt und sind dafür nicht selten selbst gemaßregelt worden. Maconochie konnte sein „Experiment“, wie er es nannte, nur deshalb so lange durchhalten, weil die britische Regierung und ihre Inspekteure weit weg waren und weil die Schiffe von Australien nach London wochenlang unterwegs waren. Albrecht Krebs wurde (schon) im Januar 1933 von heute auf morgen aus seinem Amt entlassen und musste sich einem Dienststrafverfahren unterziehen. Tom Murton wurde vom gleichen Gouverneur, der ihn als Reformer eingesetzt hatte, nach nur einem Jahr wieder entlassen und hat nie wieder eine Stellung im Strafvollzug gefunden. Aber auch die anderen Genannten sind von Anfeindungen, Maßregelungen bis hin zu Disziplinar- und Strafverfahren nicht verschont geblieben.  

3.   Humanismus und Menschen­rechte

Was sollte besser geeignet sein, eine humanistische Haltung zum Strafvollzug zu definieren als die Menschenrechte. Denn diese sollen, nach aufgeklärter juristischer Meinung, auch im Strafvollzug gelten. Meine letzte These ist jedoch, dass dies in der totalen Institution letztlich nicht durchsetzbar ist, was an anderer Stelle[258] ausführlich empirisch belegt worden ist. Ich möchte mich daher hier darauf beschränken, Ihnen eine Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, welche belegen soll, wie schwierig es ist, elementare Menschenrechte im Strafvollzug durchzusetzen.

Es war einmal ein Strafgefangener, der verbüßte eine längere Freiheitsstrafe. Eines Tages wurde er zum Zwecke einer Zeugenaussage von einer Anstalt in eine andere verlegt. Da solche Transporte in Deutschland auch innerhalb eines Bundeslandes sehr lange dauern, musste er unterwegs im sog. Transporthaus einer dritten Anstalt untergebracht werden. Dort wurde er in einer Zelle untergebracht, die total verschmutzt war und an deren Wänden sich unzählige Hakenkreuze und menschenverachtende Texte befanden. Darunter etwa dieser:

„Dreckiges Ausländerschwein. Deutsche Stiefel werden Dich töten. Die animalische Grotte Deiner Mutter muss mit einem Lötkolben Bekanntschaft machen. Du abartiges Stück Dreck. Man muss Euch auf bestialische Art und Weise zeigen, dass man Euch in Deutschland nicht will. Raus mit Euch und Eurer Sippenhaft. Sonst werden einige von Euch die Nachricht als lebende Fackel zu verkünden haben. Gleiches gilt für Sinti und Romaabfall. Ihr dreckiges Volk von Bettlern und Hausierern. Eure dreckige Brut muss ausgerottet werden. Ihr habt kein Land. Ihr gehört nicht auf diese Welt. Ihr Tiere. Tod den Sintis.“

Unser Gefangener fand dies schockierend und schwer erträglich, umso mehr, als Angehörige von ihm Erfahrung mit deutschen Konzentrationslagern gemacht hatten. Als er ein halbes Jahr später erneut auf dem gleichen Wege transportiert werden sollte, wehrte er sich dagegen und beantragte eine gerichtliche Entscheidung. Das zuständige Landgericht beschied jedoch: Hakenkreuzschmierereien an den Wänden stellen an sich keine menschenunwürdige Unterbringung dar. Allerdings unterblieb der Transport schließlich aus anderen Gründen.

Ein weiteres halbes Jahr später wurde der Gefangene erneut, und gegen seine heftigen Proteste, auf dem gleichen Wege verlegt. Er fand in dem Transporthaus an den Wänden wiederum Hakenkreuze und extrem menschenverachtende Texte vor, die sich auf Juden, aber auch auf Sinti und Roma bezogen. Nach Rückkehr von diesem Transport beantragte er bei Gericht die Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Unterbringung. Ich erspare mir hier die technisch-juristischen Details. Im Ergebnis wurde sein Antrag vom Landgericht abgelehnt und auch das OLG verwarf seine dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde. Erst beim Bundesverfassungsgericht war er erfolgreich.[259] Noch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht hatte das zuständige Ministerium vorgetragen, Schmierereien kämen zwar vor, würden aber „in der Regel umgehend beseitigt“. Aufgrund der hohen Fluktuation in der Transportabteilung und des fehlenden Verantwortungsbewusstsein der dort kurzzeitig untergebrachten Gefangenen sei eine vollständige Vermeidung zukünftiger Verunstaltungen nicht zu realisieren.

Das Bundesverfassungsgericht fand in seiner Entscheidung schöne und beherzigenswerte Worte:

„Die von Art. 1 I GG geforderte Achtung der Würde, die jedem Menschen unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, seinen Verdiensten oder der Schuld, die er auf sich geladen hat, allein aufgrund seines Personseins zukommt (…) verbietet es grundsätzlich, Gefangene grob unhygienischen und widerlichen Haftraumbedingungen auszusetzen (…) Dies gilt auch insoweit, als die Unerträglichkeit der Verhältnisse im Haftraum durch Verhaltensweisen anderer Gefangener bedingt ist, und betrifft auch mit physischem oder verbalem Kot beschmierte Haftraumwände“.[260]

Dennoch wirft diese Geschichte Fragen auf, die unbeantwortet geblieben sind:

Warum haben die beteiligten Anstalten nicht früher reagiert (und sich beispielweise bei dem Gefangenen entschuldigt)?

Warum hat das Ministerium nicht darauf gedrungen, dass dies geschieht?

Warum haben die zuständigen Fachgerichte die Sache nicht besser aufgeklärt, beispielsweise durch einen Lokalaugenschein?

Kurzum, warum muss sich das höchste deutsche Gericht mit peinlichen Unzulänglichkeiten der Anstaltsorganisation beschäftigen, deren Aufklärung und Beseitigung zur Aufgabe der Vollzugsbeamten gehören müsste, notfalls eines Besseren belehrt durch Anstaltsleitung, Aufsichtsbehörde und Fachgerichte?

Der Fall ist übrigens beileibe kein Einzelfall. Er ist nur der letzte in einer langen Reihe von Fällen, die zeigen, wie schwer es ist, den Menschenrechten im Strafvollzug Geltung zu verschaffen. Er zeigt exemplarisch, dass von einer echten Humanisierung des Strafvollzuges mit juristischen Mitteln, etwa durch Berufung auf Menschenrechte, nicht ernsthaft die Rede sein kann.

IV.  Zusam­men­fas­sende Thesen

Schon vor einiger Zeit habe ich versucht, eine humanistische Position zum Strafvollzug und zum Gefängniswesen in Form von sechs Thesen zusammenzufassen. Der Anlass war ein Vortrag auf dem Anstaltsgelände der JVA Bremen. Leider wurde es den Redakteuren der Gefangenenzeitschrift Diskus 70 nicht gestattet, daran teilzunehmen. Im Anschluss an meinen Vortrag habe ich dieser Zeitschrift, deren Herausgeber die Anstaltsleitung ist, die Thesen übersandt. Sie sind jedoch nicht abgedruckt worden, weshalb dies jetzt hier nachgeholt werden soll:

1. Am wenigsten umstritten ist die Forderung nach menschenrechtlichen Mindeststandards. Dazu gehört insbesondere das absolute Verbot der Folter und unmenschlicher Strafe oder Behandlung (Art. 3 EMRK). Aber: Die bloße Abwesenheit von Folter kann doch wohl nicht alles gewesen sein, wenn von humanem Strafvollzug, von Humanisierung im Gefängnis die Rede ist.

2. Das Vollzugsziel, wonach der Gefangene im Vollzug fähig werden sollen, „in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“ (§ 2 S. 1 StVollzG) stellt dagegen ein maximales Programm dar. Aber: Mit seiner Umsetzung ist es nicht weit her, wie man leicht aus den unverändert hohen Rückfallquoten erkennen kann.

3. Zwischen diesen Minimal- und Maximalstandards gibt es eine Vielzahl von Modellprojekten, die mindestens zu einer Zivilisierung des Strafvollzuges beitragen könnten. Aber: In der totalen Institution Gefängnis können auch die schönsten Projekte zu Mitteln der Disziplinierung werden (wie man am Beispiel der Vollzugslockerungen gut studieren kann).

4. Zivilisatorische Impulse gehen am ehesten von echte Humanisten im Strafvollzug aus (von Anstaltsleitern wie von anderen im Strafvollzug Tätigen). Sie haben versucht die Institution in positiver Richtung zu ändern, und sie sind dafür nicht selten selbst diszipliniert worden. Aber: Die traurige Wahrheit ist, dass die totale Institution Gefängnis diese Reformer relativ unbeschädigt überlebt hat.

5. Die schrittweise Abschaffung der Gefängnisinstitution selbst wäre daher ein konsequenter Schritt zur Humanisierung unseres Strafwesens. Aber: Der Wind weht momentan aus der anderen Richtung; und die Privatisierung bzw. Kommerzialisierung trägt eher zum Ausbau des Strafvollzuges als zu seinem Abbau bei.

6. Humanismus im Hinblick auf den Strafvollzug bedeutet daher heute sowohl weitere Anstrengungen zur Verrechtlichung und Zivilisierung des Gefängnisses als auch Anstrengungen, diese Institution letztlich überflüssig zu machen.

*       Johannes Feest war Professor für Strafverfolgung, Strafvollzug und Strafrecht an der Universität Bremen und ist Leiter des Strafvollzugsarchivs an derselben Hochschule.

[252]     Auf diese geht Harald Preusker genauer ein. Er schreibt aber auch, man könne „zunächst einmal behaupten, der Strafvollzug verstoße per se gegen die Menschenwürde, weil das Freiheitsrecht extrem verletzt werde. Angesichts der allgemeinen Kulturentwicklung … müssten wir eigentlich etwas Besseres als Strafvollzug gefunden haben. Aber der Strafvollzug ist uns lieb und teuer“, Preusker Forum Strafvollzug 2003, 229-231).

[253]     Dünkel/Drenkhahn/Morgenstern (Hrsg.), Humanisierung des Strafvollzugs – Konzepte und Praxismodelle, 2008.

[254]     Rehn KrimJ 2008, 42-53. Gerhard Rehn hatte in Hamburg-Altengamme, eine vorbildliche Institution dieses Typs aufgebaut und geleitet. Die Anstalt wurde unter Justizsenator Kusch aufgelöst und auch der schwarz-grüne Senat in Hamburg hat als Wiedergutmachung nur eine Notlösung innerhalb der dicken Mauern von Santa Fu gefunden.

[255]     Zitiert nach Clay, Maconochie’s Experiment, 2001, S. 265 f. S. auch: Morris, Maconochie’s Gentlemen. The Story of Norfolk Island and the Roots of Modern Prison Reform, 2002.

[256]     Krebs, Freiheitsentzug. Entwicklung von Praxis und Theorie seit der Aufklärung, 1978, S. 273–286; Sagaster, Die thüringische Landesstrafanstalt Untermaßfeld in den Jahren 1923–1933, 1980.

[257]     Murton, The dilemma of prison reform, 1976.

[258]     Feest/Lesting/Selling, Totale Institution und Rechtsschutz. Eine Untersuchung zum Rechtsschutz im Strafvollzug, 1997. Vgl. ferner den Beitrag von Harald Preusker in diesem Band, S. 97 ff.

[259]     BVerfG 15.7.2010 – 2 BvR 1023/08.

[260]     BVerfG 15.7.2010 – 2 BvR 1023/08 Rn. 34.

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