Themen / Rechtspolitik / Sexualstrafrecht

Pädose­xu­a­lität und Sexual­po­litik der Parteien

01. Dezember 2013

Monika Frommel

Eine Debatte, bei der fast alle im Glashaus sitzen, sich aber dennoch gerne mit Steinen bewerfen

aus: vorgänge Nr. 203 (3-2013), S. 111-120

In den vergangenen Monaten wurde lebhaft über frühere pädophile Forderungen aus den Reihen der Grünen (und mit etwas Abstand auch der FDP) debattiert. In der Kritik stand vor allem die teilweise geforderte Freigabe sexueller Kontakte von Erwachsenen mit Kindern. Derartige Forderungen tauchten in den 1970er/1980er Jahren in zahlreichen Bewegungen und Organisationen auf – nicht zuletzt auch in der Humanistischen Union, die sich seit längerem und immer wieder mit entsprechenden Vorwürfen auseinandersetzen musste, sie habe einst Pädophilie verharmlost.

Die Grünen beauftragten im Frühsommer das Göttinger Institut für Demokratieforschung um Prof. Dr. Franz Walter mit der Untersuchung ihrer eigenen sowie der Geschichte ihres Umfelds. Obwohl die Untersuchung über „Umfang, Kontext und die Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegung / Grünen“ erst im Dezember einen Zwischenbericht vorlegte, prägten die Vorabveröffentlichungen der Forscher nachhaltig den Bundestagswahlkampf und das Wahlergebnis.

In diese Debatte schaltet sich die Strafrechtlerin Monika Frommel mit dem folgenden Beitrag ein. Sie kritisiert seit Jahren den falsch verstandenen Liberalismus, der allein auf eine Enttabuisierung sexueller Beziehungen gerichtet ist und in dessen Schlepptau pädophile Forderungen salonfähig wurden. Ihre Kritik zielt jedoch auch darauf, dass der Gesetzgeber selbst zur unheilvollen Verquickung von Homosexuellen- und Pädophilenbefreiung beitrug, indem er Schwulen eine latente Pädophilie unterstellte. Zugleich warnt die Kriminologin davor, die Pädophilie-Befürworter_innen zum Popanz aufzubauen. Nicht nur, dass derlei Argumentationen inzwischen in Gesellschaft und Wissenschaft verpönt sind; für einen aktiven Schutz der Opfer bzw. eine wirksame Prävention sei die Fokussierung auf Pädophile ungeeignet, da der sexuelle Missbrauch an Kindern mehrheitlich von anderen Täter_innen begangen wird.

„Freie Sexualität“ – ein Traum um 1900

Vor über 100 Jahren träumte eine Avantgarde von Exzentrikern und Individualisten den Traum von der freien Liebe. Homosexualität wurde fraglos akzeptiert und in gewissen Grenzen auch die „Knabenliebe“ toleriert, da sie in diesen Kreisen als harmlos galt. Begriffe wie „Unzucht“ waren abgeschafft. Zwischen Homosexualität, Pädophilie und Ephebophilie (Fixierung von Männern auf sehr junge, gerade geschlechtsreife männliche Sexualpartner) wurde nicht unterschieden; eine Unschärfe, die zwar für die damalige Zeit typisch war und auch dem damaligen Erkenntnisstand entsprach, welche aber folgenreich sein sollte. Sie wird das kollektive Gedächtnis für fast ein Jahrhundert prägen. Selbst der Kinsey-Report unterschied 1948 – immerhin ein halbes Jahrhundert später – nicht zwischen diesen grundverschiedenen sexuellen Orientierungen und stufte jede Form der „Homosexualität“ als „Krankheit“ ein. Erst 1973 gab die Amerikanische Psychiatervereinigung (American Psychiatric Association) jahrelangem Druck nach und strich Homosexualität aus der Diagnoseliste psychischer Störungen. Aber es gab nach wie vor sog. Reorientierungstherapien. Zudem fürchtete man die „Ansteckungsgefahr“ beim Sex erwachsener Männer mit Jungen. Das sah auch der deutsche Gesetzgeber so, er stellte diesen Austausch nach 1973 und bis 1993 gesondert im reformierten § 175 StGB unter Strafe. Damit wurde Homosexuellen unterstellt, auch pädosexuell zu sein.

Wer sich wundert, wieso Psychiater damals noch so beschränkt sein konnten, sollte bedenken, dass Homophobie eben nicht auf Laien beschränkt war, sondern alle Professionen erfasst hatte und geradezu ein Merkmal der hinter uns liegenden patriarchalen Kultur war. Ohne die Borniertheit konservativer Kräfte hätte es keiner „Befreiungsrituale“ bedurft. Homosexuelle hätten nicht ein Jahrhundert um Anerkennung kämpfen müssen, und Pädophile hätten sich nicht geschickt hinter der Homosexuellenbewegung verstecken können. Ihr Slogan lautete bis in die 1990er Jahre „Weg mit dem § 175 StGB“. Aktivisten aus der Pädophilenszene ergänzten einfach: „Weg mit den Schutzaltersgrenzen“ – und schon waren sie mit im Boot.

Pädophi­len­pro­pa­ganda 1960 – 1985

Eigentlich hätten die Sexualwissenschaften früh wissen können, dass die Pädophilenpropaganda vom angeblich „gewaltlosen“ und freiwilligen Sex mit Kindern falsch war. Aber sie befassten sich erst sehr spät mit diesem Thema und dann auch nur vereinzelt. Sophinette Becker, die ehemalige Leiterin der Frankfurter sexualwissenschaftlichen Ambulanz, schilderte 1989 die Atmosphäre der Reformdebatte der 1960er und 1970er Jahre:

„Der Sonderausschuß zur Reform des Sexualstrafrechts (1970), der zu allen Fragen viele Sachverständige einlud, bemühte sich um einen nicht von Affekten geleiteten Umgang – auch mit dem Thema Sexualität mit Kindern – und bat die Experten deshalb, sich nicht nach allgemeiner Anschauung sondern empirisch begründet unter anderem zu folgenden Fragen zu äußern: Welche Wirkungen sind bei einem Kind bis zu 14 Jahren von sexuellen Handlungen eines anderen an dem Kind oder vor dem Kind zu erwarten, und welche Wirkungen sind bei einem Kind von dem Strafverfahren wegen eines solchen Vorganges zu erwarten? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines dauerhaften Schadens? Die Mehrheit der befragten Experten (Sexualwissenschaftler, Psychiater, Kinderpsychiater, Psychoanalytiker u.a.) verneinte (soweit empirisch feststellbar) psychische Dauerschäden als isolierte, linear-kausale Folge nicht gewaltsamer sexueller Handlungen. (Das mag Sie heute wundern.) Sie betonten den Kontext, das Beziehungsgefüge, in dem solche Handlungen geschehen, und die Reaktion der Umgebung, was für viele der damals angezeigten Fälle auch wichtig war. Auch heute, obwohl wir manches anders bewerten, ist es immer gefährlich, wenn man die sexuelle Handlung oder den sexuellen Akt loslöst von dem Beziehungsgeschehen und dem sozialen Kontext. Offensichtlich äußerten sich die damals befragten Experten nicht zu längeren Beziehungen. Es ging also weder um chronischen, langen inzestuösen Mißbrauch in der Familie noch um längere pädophile Beziehungen.“(1)

Sophinette Becker berichtet auch, dass in dieser Anhörung der Sexualwissenschaftler und Forensiker Eberhard Schorsch u.a. folgenden Satz prägte: „Ein gesundes Kind in einer gesunden Umgebung verarbeitet nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse ohne negative Dauerfolgen.“(2)

Dieser Ansatz kann als klassisch gelten für zwei Jahrzehnte. Zwar distanzierte sich Schorsch später von solch unkritischen Äußerungen. Aber auch seine Wandlung ist typisch für fast alle, die an diesen Debatten teilgenommen haben. Michael Baurmann etwa, ein vom Bundeskriminalamt beauftragter und später dort tätiger Psychologe, äußerte sich 1977 noch in diesem Sinn und fragte: „Welche Schäden treten bei minderjährigen Sexualopfern auf?“ Da diese im klinischen Sinne nicht nachweisbar seien, warnte er vor der Aufbauschung einzelner Missbrauchsfällen durch die Medien: „Das ist gefährlich, denn sie können zu übertriebenen Reaktionen bei Eltern, Kindern und Gesetzgebern führen.“ Ein Großteil der als anstößig empfundenen Beziehungen sei vielmehr „einvernehmlicher Natur“, erst das soziale Umfeld mache die Beziehung zum „Missbrauch“ und lasse Sekundärschäden entstehen. Daher plädierte er 1977 für die Abschaffung des Schutzalters im damals geltenden § 175 StGB (18 Jahre).

Ein Jahrzehnt später  klingt bereits ein anderer Ton an. In Band 15 der BKA-Forschungsreihe („Sexualität, Gewalt und die Folgen für das Opfer – zusammengefasste Ergebnisse aus einer Längsschnittuntersuchung bei Opfern von angezeigten Sexualkontakten“) geht es um die Verbesserung der opferorientierten Prävention. Das Paradigma hatte gewechselt. Nicht „Reform des Strafrechts“, sondern „Opferschutz“ prägt seitdem die Sexualpolitik aller Parteien.

Auch Homophobie ist kein Thema mehr für kontroverse Debatten. 1993 wurde mit § 182 StGB eine geschlechtsunspezifische Jugendschutznorm (mit abgestuften Schutzaltersgrenzen) geschaffen. Im Vordergrund steht nicht mehr die Sorge vor einer „Ansteckungsgefahr“ beim zu frühen homosexuellen Kontakt, sondern die Sorge vor sexuellem Missbrauch. Pädophile gelten nun als äußerst „gefährliche“ Wiederholungstäter. Zwar wissen Sachverständige, dass die meisten Pädophilen sexuell passiv sind, aber sie betonen das Risiko. Verdrängt wird allerdings in den aktuellen rechtspolitischen Debatten, dass die meisten Kinder nicht von Pädophilen missbraucht werden, sondern von problematischen Tätern, die in ihrem Begehren gerade nicht auf Kinder fixiert sind. Diese Täter haben lediglich gelernt, die Kinder als Ersatz’objekte’ zu missbrauchen. Sie haben Routinen entwickelt, Kinder einzuschüchtern und ihre Umwelt zu täuschen. Oft führen sie ein äußerlich unauffälliges Leben, sind also nicht pädophil, sondern – wenn man so will – normale Kriminelle in allen Schattierungen, welche die Kriminologie kennt.

Leider haben die Psychowissenschaften in der Vergangenheit keine überzeugende Rolle gespielt bei der Klärung der komplexen Zusammenhänge von Missbrauch und Pädophilie. Zwar verfügten sie bereits in den 1960er Jahren über das nötige Wissen. Ihre Erkenntnisse zum Thema Pädosexualität wurden jedoch nicht so publiziert, dass Rechtspolitiker in der Reformphase der 1960er/1970er Jahre angemessen darauf reagieren konnten. So unterstellten die befragten Sachverständigen immer wieder, die rechtspolitische Frage nach empirisch nachweisbaren psychischen Dauerschäden sei relevant – anstatt sie zu relativieren. Denn entscheidendes Kriterium ist nicht der psychische Dauerschaden, sondern die Freiheit vor sexueller Fremdbestimmung. Es geht nicht um die Abwehr von sozialen Schäden, sondern um die Garantie der Rechte aller Kinder und Jugendlicher. Falsche Fragen provozieren falsche Antworten.

Bereits 1932 hatte Sandor Ferenczi an die „Sprachverwirrung“ zwischen Erwachsenen und Kindern erinnert. Kinder wollen „Zärtlichkeit“ – Pädophile missverstehen dies bewusst. Sie assoziieren „Leidenschaft“ und antworten auf eine Weise, die für das Kind destruktiv ist. Erst ein halbes Jahrhundert später, im Jahre 1987, erklärte Martin Dannecker im Disput mit Rüdiger Lautmann(3) (1980 und dann wieder 1994) einem interessierten Publikum, dass das Schicksal eines Pädophilen tragisch sei, weil seine „Therapie“ nur ein Verzicht auf seine Sexualität sein könne. Entweder mache er sich schuldig (und zwar auch ohne ein entsprechendes Strafgesetz) oder er lebe sexuell enthaltsam. Pädophilie sei ein bitteres Schicksal.

Pädophi­len­pro­pa­ganda bei den Grünen

Dannecker nahm damit einen Ball auf, den kurz zuvor schon Günther Amendt geworfen hatte, und zwar angesichts der unerträglichen Pädophilenpropaganda, die insbesondere auf dem Grünen Parteitag 1980 in Karlsruhe schrill und unüberhörbar geworden war. Für eine sehr kurze Zeit (1980) kooperierte Günther Amendt daher mit Alice Schwarzer und den beginnenden feministischen Kampagnen, um zumindest diese absurde Propaganda abzuwehren. Aber er sah schnell, dass auch Alice Schwarzer das Thema instrumentalisieren wollte.(4) Alice Schwarzer hatte nicht primär das Wohl der Kinder im Blick, sondern die Bestätigung der eigenen Position am besonders guten Beispiel: Kinder sind nun einmal unschuldige Opfer. So konnte in der Pädophilenfrage die These von der rücksichtslosen dominanten männlichen Sexualität und ihrem Streben nach Herrschaft über Ungleiche besonders anschaulich gemacht werden. Eine differenzierte Analyse oder gar eine realistische Prävention ist aber auf dieser Basis nicht möglich. Auch diese Sicht neigt zu bizarren Forderungen. Zum einen werden Prostituierte infantilisiert und zwar pauschal als „Ungleiche“, Personen also, die kein Gewerbe ausüben, sondern die „ausgebeutet“ werden. „Ausbeutung“ soll danach schon in der Kommerzialisierung der eigenen Sexualität liegen, eine geradezu aberwitzige Schlussfolgerung. Zum anderen wird seit etwa einem Jahrzehnt versucht, den juristischen Begriff des Kindes als „Person unter 18 Jahren“ zu definieren, um ein flächendeckend hohes Schutzalter in der Europäischen Union zu etablieren. Dieser Strategie kann man nicht mehr Homophobie vorwerfen, aber unter der Flagge des „Kinderschutzes“ wird die Infantilisierung der Gesellschaft angestrebt. Im Glashaus sitzen also auch Feministinnen. Zwar wollen die aktuellen ideologischen Konstruktionen als fortschrittlich gelten. Das sind sie aber schon lange nicht mehr.

Blicken wir zurück. Was war los auf dem Parteitag der Grünen in Karlsruhe 1980? Die damals noch in Aufbruchstimmung befindlichen Grünen wurden unvorbereitet überrascht. Schrill tönten die sog. Stadtindianer und forderten Anerkennung für inzestuöse Pädosexualität. Die Delegierten wussten nicht, wie sie reagieren sollten, ließen sich überrumpeln und verabschiedeten nach fünf turbulenten Stunden den neuen Programmteil „Sexualität und Herrschaft“.(5) Er war äußerst ambivalent. Zwar sprachen sich die Grünen selbst in diesem blamablen Papier für eine Schutzaltersgrenze von 14 Jahren aus, verwahrten sich aber zugleich „gegen die herrschende Doppelmoral, die sexuelle Minderheiten unter Sondergesetze stellt bzw. kriminalisiert und gleichzeitig die ‚gewöhnliche‘ Gewalt gegenüber Kindern – insbesondere gegenüber Mädchen – permanent verharmlost.“  Damit war ein Topos gesetzt, der sich auch an anderer Stelle und in anderen Zirkeln finden wird, nämlich die Propaganda von der angeblich einverständlichen, weil „gewaltfreien“ Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern. Zwar nahm so eine These in den 1990er Jahren niemand mehr ernst, aber die bizarre Forderung war immerhin zehn Jahre lang diskutabel.

Erst 2004 bis 2006 änderte sich der Ton. Unter dem Namen „Verantwortung für Kinder“ meldete sich die Initiative einer pädophilen Selbsthilfegruppe zu Wort, welche sich zu ihrer Neigung bekannte und sexuelle Kontakte ablehnte.

Einsicht in die tragische Veranlagung ist Voraussetzung für eine Verhaltenstherapie. Mittlerweile gibt es Erfahrungen, was Pädophile tun können. 2005 etablierte die Charité in Berlin das Projekt „Kein Täter werden“ unter der Leitung von Klaus Michael Beier. Folgeprojekte wurden geplant und gegründet, aber bei der Finanzierung haperte es. So verweigerte die medizinische Fakultät der Universitätsklinik in Kiel dem Sexualwissenschaftler Dr. med. Hartmut Bosinski die nötige Ausstattung. Auch Sophinette Becker in Frankfurt scheiterte an der Engstirnigkeit der dortigen Verantwortlichen. Man empört sich gerne, finanziert aber nicht die Präventionsprojekte. Eigentlich müssten diese flächendeckend in Deutschland angeboten und finanziert werden. Die Polizei müsste informiert sein und Verdächtige auf diese Projekte aufmerksam machen. Stattdessen hat www.kein-täter-werden.de noch immer Projektcharakter. Wer also irgendjemanden kritisiert, weil er Pädophilie bagatellisiere, frage sich, ob Empörungspolitik sinnvoll ist. Wären Konservative wirklich am Kinderschutz interessiert, dann hätten sie längst dafür gesorgt, dass es ein flächendeckendes Angebot an geeigneten Initiativen gibt.

Das Ende der pädophilen Propaganda in den 1990er Jahren

In den 1970er und 1980er Jahren konnten sich Pädophile im Windschatten der Schwulenbewegung organisieren und darauf hoffen – nicht ganz ohne Aussicht auf Erfolg –, dass sie unter dem Dach der Antidiskriminierungsbewegung als ausgegrenzte Minderheit anerkannt werden. 1993 änderten sich die Rahmenbedingungen: § 175 StGB wurde abgeschafft und durch den weithin unbekannten § 182 StGB ersetzt; eine geschlechtsunspezifische Jugendschutznorm (Schutzaltersgrenze 18 Jahre). Die Vertreter der ehemaligen DDR hatten im Einigungsvertrag darauf gedrängt, ihre alte sozialistische Forderung zumindest vordergründig zu erfüllen. Zwar wurde die neue Jugendschutznorm so gut wie nie angewandt, weil sie immer hinter spezielle Normen zurück tritt, also lediglich ein weit gefasster Auffangtatbestand ist. Aber der § 182 StGB erfüllt die alte Forderung „Weg mit dem § 175 StGB!“ Jugendschutz und Opferschutz sind nun wichtige Forderungen aller Parteien.

Der ehemalige FDP-Politiker Verheugen hat also recht, wenn er sich (mit Erklärung vom 13.8.2013) gegen die höhnische Retourkutsche im Zwischenbericht des Parteiforschers Franz Walter (12.8.2013) wendet. Der behauptet – wahrheitswidrig -, auch die FDP habe so ihre dunkle pädophile Seite. Als Partei hat sie dieses Problem nicht. Zwar wurde auch innerhalb der FDP die Streichung des § 175 diskutiert. Aber selbst diejenigen, welche vor 1992 die ersatzlose Streichung des § 175 StGB gefordert haben, redeten über die Diskriminierung und Verfolgung von Homosexuellen und nicht über Pädophilie; denn Kinder und Jugendliche waren immer schon und sind auch heute noch über die §§ 176 (Kinder) und 174 ff. StGB (Jugendliche) erfasst. Vor 1993 hatten also nur solche Gruppen den Kinderschutz attackiert, die bewusst eine damals noch wahrnehmbare Pädophilenpropaganda unterstützen wollten. Wenn sie damit zumindest vorübergehend kleine Teilerfolge hatten, dann nur deswegen, weil viele Reformwillige unaufmerksam waren und im Überschwang ihrer Ideen unklar blieben. Eigentlich war Pädophilie immer ein singuläres Phänomen. Interessant ist lediglich, dass sich heute alle empören, während dieselben ideologischen Lager früher unaufmerksam waren.

Wie argumen­tierten die Juristen in den 1960 – 80er Jahren?

Die juristischen Begründungen für die Kinder- und Jugendschutznormen im Strafrecht waren und sind auch heute noch bemerkenswert unklar, wenn man etwa in strafrechtliche Kommentare schaut.(6) Die sexuelle Entwicklung von Kindern (und Jugendlichen in bestimmten Abhängigkeitsverhältnissen) solle „frei“ gehalten werden von sexuellen Einflüssen, liest man. Wer nur ein wenig über Psychoanalyse gelesen und sich für Sexualpädagogik interessierte, konnte und kann über diese nebulösen Formeln nur staunen. Sie provozieren geradezu ideologische Scheindebatten. Immerhin: im Kern war es weder unter Juristen noch in der praktischen Politik jemals streitig, dass Schutzaltersgrenzen sinnvoll sind. Strittig ist das ‚wie’. Fordert man mit den Gremien der EU, dass jede Person unter 18 Jahren als Kind einzustufen sei, dann zeigt sich an diesem Beispiel, dass sich die Fronten längst gedreht haben. Liberale Errungenschaften müssen wieder verteidigt werden. Es droht eine moralisierende Ideologie, welche „Opferschutz“ sagt und eine verklemmte Sexualmoral meint.

So gesehen sollten alle Diskutanten die Steine behalten, da sie alle im Glashaus sitzen. Unstreitig müssen Kinder (ein realistisches Schutzalter wäre 12 Jahre) absolut geschützt werden, 12-14jährige bedürfen eines starken Schutzes, Aber die Phase zwischen 15 und 18 Jahre bleibt schwierig. Es ist ein mit strafrechtlichen Mitteln unlösbares Dilemma, dass sie als sexuelle Subjekte zwar das Recht haben sich zu entfalten, zugleich aber noch nicht die Reife und Erfahrung, die nötig wäre, um tatsächlich nur das auszuleben, was ihnen zuträglich ist. Freiwilligkeit war und ist daher immer noch eine schwer lösbare Forderung, die unabhängig von Pädophilie und Ephebophilie ein Dauerbrenner bleiben wird.

Müssen wir uns heute noch von einer Pädophi­len­pro­pa­ganda abgrenzen?

Wer sich die moderne Opferschutzdebatten anschaut, muss zugeben, dass die Pädophilenpropaganda seit mehr als zwei Jahrzehnten gescheitert ist. Sie war nur in den 1960-1980er Jahren wahrnehmbar und trat damals in zwei Versionen auf. Einer Verführungsthese (plausibel nur bei Ephebophilen, also den an 15-16jährigen jungen Männern Interessierten) bzw. dem Lolita-Syndrom. Immerhin: Verführungsthesen sind Juristen nicht ganz fremd. Sie haben sie vor der Reform des Sexualstrafrechts seit den 1990er Jahren verwendet, um bei manchen Tätern von Strafe abzusehen, weil ihre Schuld – angesichts der Aktivitäten der jugendlichen Sexualpartner – gering gewesen sei. Rechtspolitisch tauchten nur bis Mitte der 1980er Jahre Formeln wie die folgende auf: Freiheit für „Sexualität und Zärtlichkeit – gleich zwischen welchen Partnern – solange sie auf gegenseitiger Freiwilligkeit beruht“. Ein solcher Antrag wurde 1975 auf der Delegiertenkonferenz der HU gestellt, allerdings nicht beschlossen. Die HU tat sich damals noch schwer, klar zu formulieren, dass dies eine inakzeptable Propaganda war. Man zog sich zurück und wartete ab.

Eine pädophile Propaganda konnte sich nur in einer Atmosphäre ausbreiten, in der „sexuelle Befreiung“ und nicht „Kampf gegen Gewalt gegen Frauen“ oder Prävention gegen jede Form des „Missbrauchs von Kindern und Abhängigen“ den rechtspolitischen Diskurs als Teil einer großen Befreiungsbewegung stilisieren konnte. Jan Feddersen schilderte bereits in der TAZ vom 2.2.2011, dass Schwulsein erst in den späten 1990er Jahren allmählich akzeptiert wurde. Im zähen Kampf gegen Homophobie aber gedieh eine absurde „linke Logik“, die – wie Jan Feddersen schreibt – lautete: „Schlägt man die Pädos, … werden auch die Homos bald in die Knäste gesteckt. Eine Denkweise, die wenigstens eine milde Form von Verfolgungswahn umreißt.“ Auch den Zwischenbericht von Franz Walter (13.8.2013) kommentiert er in diesem Sinne. Die Furcht vor Homophobie habe 1980 noch einen sozialen Hintergrund gehabt, welcher es aktiven Homosexuellen schwer machte, sich zu distanzieren. Diese Hemmung habe Pädophile motiviert, sich als Bündnispartner anzubieten.(7)

Heute dominiert hingegen eine Opferperspektive, welche es einer empörungsbereiten Öffentlichkeit sehr leicht macht zu glauben, man könne die Probleme rein normativ lösen. Die meisten Kinder, die missbraucht werden, leiden nicht unter Päderasten, sondern unter Tätern, welche Kinder als Ersatz’objekte’ missbrauchen. Sie haben – wie alle „erfolgreichen“ Kriminellen – gelernt, Gelegenheiten zu suchen, sie auszunutzen und Kinder einzuschüchtern. Hier kann nur eine aufmerksame vernetzte Prävention weiter helfen. Dies geschieht auch. So gesehen war die Sexualpolitik der letzten Jahre erfolgreich. Man kann das zum einen sehen an den steigenden Zahlen der Kinder, welche in Obhut genommen werden, und umgekehrt an den sinkenden Zahlen der polizeilichen Registrierung von Missbrauchsfällen. Verharmlosung von Pädophilie ist heute keine Gefahr mehr. Sie sollte auch nicht an die Wand gemalt werden, um wechselseitige Vorwürfe zu motivieren. Aktuell ist jede Form von Empörungspolitik eher schädlich.(8)

PROF. DR. MONIKA FROMMEL   Jahrgang 1946, ist promovierte Rechtswissenschaftlerin und habilitierte 1986 mit einer Untersuchung über „Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweck-Diskussion“. Nach einer Professur für Rechtsphilosophie und Strafrecht an der Universität in Frankfurt am Main (1988 – 1992) erfolgte 1992 der Ruf an die Kieler Christian-Albrechts-Universität, wo sie bis zu ihrer Emeritierung im September 2011 das Institut für Sanktionenrecht und Kriminologie leitete. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Kriminologie aus feministischer Perspektive sowie das Sexualstrafrecht. Frommel ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Neue Kriminalpolitik und Mitglied im Beirat der Zeitschrift Kritische Justiz sowie der Humanistischen Union.

Anmerkungen:

(1) Becker, Sophinette (1997), Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, in: Werkblatt – Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik Nr. 38 (1/1997), S. 5-21, abrufbar unter http://www.werkblatt.at./archiv/38becker.html.

(2) Schorsch, Eberhard (1970): Stellungnahme in: Der Deutsche Bundestag, 6. Wahlperiode, Stenographischer Dienst: 28., 29. und 30. Sitzung des Sonderausschusses für Strafrechtsreform, Bonn 23.,24. und 25.11.1970, S. 981 ff.

(3) 1980 publizierte dieser in der Zeitschrift für Rechtspolitik über „opferlose Delikte“. Erstaunlich ist aber, dass er bis heute an seiner Doktrin festhält. 1994 schloss er ein DFG-Projekt ab mit dem Titel „die Lust am Kinde“. Die Studie war Anlass für Aufregung und Missbilligung. Aber er wollte offenbar nicht zur Klärung beitragen, sondern zuspitzen und die knappe Ressource „Aufmerksamkeit“ nutzen.

(4) Amendt 1984, zitiert nach Sophinette Becker (1997), s. Anm. 1.

(5) Fünf Jahre später wiederholt sich der Spuk in Niedersachsen, vgl. hierzu den gleichnamigen Artikel von Böllinger in Kritische Justiz 1986, S. 90-101, der mit der bemerkenswerten These endet: man könne die militante Verdrängung der pädophilen Anteile der menschlichen Sexualität nicht mit einer militanten Entsublimierung beantworten.

(6) Geschützt werde „die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (so noch BGHSt 46, 85, 87; BGH NStZ 2001 194; BGH NJW 1995 2234, 2235; Fischer § 174 Rn. 2); Freihalten bestimmter schutzwürdiger Beziehungen von sexuellen Einflüssen, um ihrer sozialen Funktion Willen (BGH NStZ 2001 194)“ (Lenckner/Perron/Eisele in der 28. Auflage des Sch-Sch zu § 174 StGB, 2010). Frommel (§ 174 StGB im Nomos-Kommentar,3. Aufl.2010) und Hörnle (vor § 174 StGB Rn. 34 des Leipziger Kommentars, 12. Aufl. 2009) kritisieren zwar diese formelhafte Rechtsgutsbestimmung mit dem Argument, dass sexuelle Erfahrungen nun einmal zur Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen dazu gehören. Es mache daher kein Sinn den Normzweck so zu bestimmen, als sei es sinnvoll, bestimmte Lebensverhältnisse von sexuellen Beziehungen frei zu halten. Schutzgut sei stattdessen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht junger Menschen in spezifischen Abhängigkeitsverhältnissen. Frommel nennt dieses Recht die Freiheit vor sexueller Fremdbestimmung.

(7) Zur Verdeutlichung dieses Befundes interviewten die TAZ-Redakteure vor Ostern 2011 Ralf König, der sich seit der Mitte der 1980er Jahre in der linken Szene mit seinen „SchwulComix“ einen Namen gemacht hatte und seit der Verfilmung des „Bewegten Mannes“ einem breiten Publikum bekannt ist. Er bestätigte eindringlich, wie unreflektiert damals junge Menschen Pädophilie und Homosexualität gleichsetzten. Erwachsene Pädophile hatten es sehr leicht, ihre Propaganda hinter einem diffusen Befreiungs-Diskurs zu verstecken (Das SONNTAZ-GESPRÄCH, taz vom 16./17.4.2011, S. 20-21).

(8) Am Beispiel der Empörung über die früheren Missstände in der Odenwaldschule kann man beides ablesen. Heute hätte es ein Schulleiter sehr viel schwerer, unbehelligt zu bleiben und zu vertuschen. Zum anderen zeigt schon die Tatsache, dass es keine neuen Fälle gibt, den Wandel. Sinn machte die Empörung allerdings bei der katholischen Kirche. Dort war der Widerstand am massivsten und Beschuldigte schreckten auch nicht davor zurück, die „Libertinage“ der 1960er Jahre für ihre Fehler verantwortlich zu machen. Doch gibt es auch hier ein Umdenken. Dies zeigt, dass in Europa endlich ein grundlegender kultureller Wandel statt gefunden hat, der alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst; vgl. hierzu Frommel in Kritische Justiz 2012, S. 69ff.

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