Parität in Brandenburg
in: vorgänge Nr. 225/226 (1-2/2019), S. 183-192
Auf Initiative von Bündnis 90/Die Grünen befasste sich der brandenburgische Landtag im vergangenen Jahr mit einer Reform des Landeswahlrechts, um den Anteil der Frauen im Parlament zu vergrößern. Nachdem die Regierungskoalition diese Anregung – zumindest teilweise – unterstützte, entwickelte sich eine heftige juristische Kontroverse darüber, ob eine Vorschrift für geschlechterparitätisch besetzte Wahllisten überhaupt verfassungsrechtlich zulässig oder gar das Ende der parlamentarischen Demokratie sei. Im folgenden Beitrag untersucht Rosemarie Will, welche konkreten Eingriffe in die Grundsätze des Wahlrechts mit der Parität verbunden sind, wie weit die Gestaltungsfreiheit des Wahlrechts-Gesetzgebers reicht und inwiefern das Prinzip der paritätischen Listenaufstellung verfassungsrechtlich zulässig oder gar geboten ist.
Das umstrittene Gesetz
Am 31. Januar 2019 hat der Landtag in Brandenburg den Änderungsantrag der SPD-Fraktion und der Fraktion DIE LINKE zum Wahlgesetz beschlossen.[1] Dieser sieht vor, dass ab 30. Juni 2020 die Listen der Parteien zur Landtagswahl geschlechterparitätisch aufgestellt werden müssen. Für die nächste Landtagswahl 2019 gilt die Regelung noch nicht, aber ab 2020 müssen danach getrennte Listen mit den fu?r Frauen und Männer reservierten Listenplätzen der Landesliste aufstellt werden. Zugleich soll entschieden werden, aus welcher der beiden Listen der erste Listenplatz der Landesliste besetzt wird. Die Besetzung der nachfolgenden Mandate erfolgt dann geschlechterparitätisch abwechselnd aus den beiden Listen.
Die gesetzlichen Vorgaben sollen keine Anwendung auf Parteien, politische Vereinigungen oder Listenvereinigungen finden, die satzungsgemäß nur ein Geschlecht aufnehmen und vertreten wollen. Vorausgegangen war dem ein Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [2], der vorgeschlagen hatte, sowohl die Kandidat_innenlisten der Parteien als auch die Direktkandidat_innen in den Wahlkreisen paritätisch zu besetzen, sodass für die Wahl mit der Erst- und der Zweitstimme paritätische Wahlvorschläge gemacht werden mussten. Parteien, politische Vereinigungen und Listenvereinigungen sollten nur noch mit paritätisch besetzten Landeslisten und Kreiswahlvorschlägen mit einem sogenannten Wahlkreisduo bestehend aus einer Frau und einem Mann zur Landtagswahl antreten können. Damit wäre nicht nur die eine Hälfte der Abgeordneten des Landtages (die sich aus den Wahllisten ergibt) wie beim jetzt beschlossenen Gesetz aufgrund paritätischer Wahlvorschläge zu wählen gewesen, sondern auch die Direktkandidaten in den Wahlkreisen. Die Regierungsfraktionen führten zu ihrem reduzierten Paritéansatz aus:
„In Kenntnis der verfassungsrechtlichen Problematik soll sich das Parité-Gesetz nach diesem Änderungsantrag darauf beschränken, an der gesetzlichen Pflicht für geschlechterparitätisch besetzte und alternierende Landeslisten festzuhalten. In Abwägung zwischen allgemeinem Gleichstellungsauftrag gemäß Grundgesetz und Landesverfassung sowie den hohen Hürden für Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze erscheint diese Maßnahme verhältnismäßig.“
Mit dieser halben Parität sollte also die Verfassungswidrigkeit gebannt werden. Das ist weder logisch noch eine hinreichende juristische Rechtfertigung der Parität von Männern und Frauen im Wahlrecht, weil auch eine halbe Parität grundsätzlich den gleichen Rechtfertigungsanforderungen unterliegt wie eine ganze Parität.
Die CDU-Fraktion hob in der abschließenden Beratung hervor, dass sie sowohl den Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als auch den beschlossenen Antrag der SPD-Fraktion und der Fraktion DIE LINKE für verfassungswidrig hält. Dies erklärte auch die AfD. Der Gang zum Verfassungsgericht ist damit unausweichlich. Die Auseinandersetzungen dazu laufen schon jetzt auf Hochtouren. Dem brandenburgischen Gesetzgeber werden die größten denkbaren Verfassungsverstöße angelastet. Das verfassungsrechtliche Hauptproblem des Parité-Gesetzes sei das mit dem Gesetz verfolgte neue Leitbild der Demokratie. Dieses neue Demokratieverständnis verstoße gegen die Ewigkeitsgarantie von Art. 79 Abs. 3 GG, speziell gegen die darin geschützten Grundsätze des Demokratieprinzips. Das Prinzip der Volkssouveränität werde durch eine geschlechtsbezogene Gruppensouveränität ablöst. Das Gesetz sei daher nicht nur verfassungswidrig, sondern verfassungsidentitätswidrig. Das Gesetz verstoße gegen das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG, dass die Verfassungs- und Rechtsordnung der Länder an die von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze bindet.
Die tradierte Verfassungslehre erklärte: „Der Bundestag muss nicht Bevölkerungsgruppen paritätisch abbilden wie eine Ständeversammlung, das ist dem modernen Parlamentarismus fremd.“ Da die Parteien kein Geschlecht und keine soziale Gruppe ausschließen dürften, liege es letztlich an den Frauen, sich politisch zu engagieren und Listenplätze für Wahlen zu erkämpfen – so der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio. Der andere Vorwurf ist der eines identitären Demokratieverständnisses. [3]
Im Parité-Gesetz werde, folgt man Di Fabio [4], wie bei der Einrichtung von Ständeversammlungen des 19. Jahrhundert das Volk nicht als Einheit von Freien und Gleichen gedacht. Es werde stattdessen in verschiedene Bevölkerungsgruppen unterteilt. Es gäbe nicht mehr das brandenburgische Staatsvolk als solches, sondern zwei Volksgruppen, die nach ihrem Geschlecht (Mann oder Frau) voneinander unterschieden werden. Das Grundgesetz behandelt das Volk gem. Art. 20 Abs. 2 tatsächlich als eine einheitliche Gruppe von freien und gleichen Bürgern. Aber die Forderung nach paritätischen Wahlvorschlägen macht aus den Gruppen von Männern und Frauen keine Stände. Dass durch paritätische Wahlvorschläge die Freiheit und Gleichheit von Männern und Frauen bei der Wahl verletzt – und nicht umgekehrt, wie die Frauenbewegung annimmt – gestärkt wird, wäre nachzuweisen, wenn man durch Parität das Demokratieprinzip des Grundgesetzes als verletzt ansieht. Auch die Denunziation von Parität als linke identitäre Demokratievorstellung läuft leer. Zwar ist die Idee der verpflichtenden Einführung von paritätischen Wahlvorschlägen durchaus darauf gerichtet, dass das Parlament ein angemessenes Spiegelbild des Verhältnisses von Männern und Frauen darstellen soll, aber es ist dennoch kein verbotener identitärer Ansatz, solange er nicht die Freiheit und Gleichheit der Wähler_innen verletzt.
Das Verdikt über die Parität von Männern und Frauen im Wahlrecht als ein Verstoß gegen ein unabänderliches Demokratieprinzip des Grundgesetzes dient der Politikvermeidung. Nicht einmal mit einer Verfassungsänderung wäre danach die Verpflichtung zur Parität durchsetzbar. Die Frage, welche Repräsentation wir haben wollen und rechtlich gestalten wollen, soll nicht zugelassen werden. Worin das von der Parität verletzte und von Art. 79 Absatz 3 GG als unabänderlich geschützte Demokratieprinzip jenseits der Freiheit und Gleichheit der Wähler_innen besteht, ist bislang auch nicht definiert worden. Die grundgesetzliche Formel von den Abgeordneten als Vertreter_innen des „ganzen Volkes“ in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG enthält jedenfalls keinerlei Regel, wie diese Vertreter_innen zu wählen sind; mithin können auch Paritätskriterien unter Berufung auf sie nicht aus der Repräsentation verbannt werden.
Die Formel in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ist nur als Ermächtigung und Verpflichtung für gewählte Abgeordnete zu verstehen. Sie schließt aus, dass irgendeine andere Institution beanspruchen kann, das deutsche Volk zu vertreten. Sie ist weder eine Regel, wie die Vertreter des Volkes auszuwählen sind, noch konstituiert sie das Volk. Das Wahlvolk ist keine vorrechtliche Gewalt. Es wird im Verfassungsstaat von der Verfassung selbst und vom Gesetzgeber konstituiert. Es ist deshalb immer rechtlich begründet und begrenzt. Die Paritätsregeln sind an diesen Regeln zu messen, vor allem an der Freiheit und Gleichheit der Wahl.
Wie demokratisch ist ein politisches System, in dem Frauen unterrepräsentiert sind?
Trotz 100 Jahren Frauenwahlrecht in Deutschland sind Frauen im politischen System der Bundesrepublik unterrepräsentiert. In keinem deutschen Parlament sind Frauen paritätisch vertreten. Der Frauenanteil schwankt um die 30 Prozent, in den kommunalen Vertretungen liegt er nur bei 15-25 Prozent. Zudem werden nur etwa 10 Prozent der Kommunen von (Ober-)Bürgermeisterinnen und zwei der sechzehn Länder von Ministerpräsidentinnen regiert. Im gegenwärtigen 19. Deutschen Bundestag beträgt der Frauenanteil 37 Prozent. Dies ist der geringste Frauenanteil seit 1994. Die Repräsentationslücke im parlamentarischen Bereich hat ihren Ausgangspunkt in den Wahlvorschlägen der Parteien. Bereits in den Nominierungsverfahren der Parteien und Wählergemeinschaften werden Frauen nur in unzureichendem Maße als Kandidatinnen aufgestellt. Deshalb können sie mangels ausreichender Kandidaturen auch nicht hälftig gewählt werden.
Als Lösungsstrategie werden vor allem Quotenregelungen diskutiert. Im Wahlrecht zeigt sich der positive Einfluss solcher Quoten bei den von Parteien freiwillig quotierten Wahllisten. So haben sich auf Druck der Frauenbewegung Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und die SPD auf eine Quote von 50 bzw. 40 Prozent verpflichtet. Der Frauenanteil dieser Parteien in den Parlamenten und Kommunalvertretungen ist seither regelmäßig höher, als der Parteien, die mit unquotierten Listen antreten. Bei den Direktkandidat_innen gibt es bislang keine Quotierung. Auf Bundesebene führt das dazu, dass die Parteien deutlich weniger Frauen als Männer als Direktkandidat_innen aufstellen, sodass gewonnene Direktmandate den positiven Effekt der Wahllisten deutlich relativieren. Bei überproportionalen Erststimmenerfolg kommen paritätische Landeslisten nur begrenzt zum Zuge.
Das Grundgesetz hat mit dem Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (heute Art. 3 Abs. 2 S. 1) bewirkt, dass immer mehr rechtliche Diskriminierungen von Frauen abgebaut worden sind. Es ist Elisabeth Selbert (SPD) zu verdanken, dass es diesen Satz im Grundgesetz gibt; sie hat ihn vorgeschlagen und für ihn gekämpft, nachdem ihr Vorschlag im parlamentarischen Rat zunächst zweimal abgelehnt wurde. Von Anfang an war klar, dass bei Geltung dieses Satzes das bürgerliche Recht zur Stellung der Frau nicht haltbar war und grundlegend verändert werden musste. Bodo Pieroth hat angesichts der derzeitigen Debatte zum paritätischen Wahlrecht vor kurzen noch einmal beschrieben (FAZ v. 12.3.2019), wie der Gesetzgeber versuchte, sich diesem Verfassungsauftrag zu entziehen und seine Umsetzung zu verschleppen, und wie die Zivilrechtswissenschaft diesen Satz unter Berufung auf ein höherrangiges Naturrecht bekämpfte. Er hat auch gezeigt, dass es die erste und damals einzige Verfassungsrichterin Erna Scheffler war, die als die zuständige Richterin für das Ehe- und Familienrecht eine Reihe von Entscheidungen in Karlsruhe unter Berufung auf Art. 3 Abs. 2 GG durchsetzte. Als das Gleichberechtigungsgesetz von 1957 an der Privilegierung des Mannes bei der Kindererziehung festhielt, wurde diese Regelung 1959 unter der Federführung von Erna Scheffler durch das Bundesverfassungsgericht kassiert. Wenn man dies den „wichtigsten Beitrag des Gerichts zur Demokratisierung der Gesellschaft“ nennt, liegt es nahe, die fehlende Repräsentanz von Frauen im politischen System heute als Demokratie- und Legitimationsdefizit zu verstehen.
Es ist eine Zukunftsaufgabe, nach Herstellung der Rechtsgleichheit von Frauen auch die faktischen Benachteiligungen von Frauen so weit wie möglich zu beseitigen. Das muss auch für ihre Repräsentation im politischen System gelten. Es fragt sich aber, ob man dies als ein verfassungsrechtlich zwingendes Gebot verstehen kann? Wenn nicht, bleibt die Frage, ob das Grundgesetz eine Verpflichtung zur Parität im Wahlrecht erlaubt bzw. zulässt und ob dieses mit den unabänderlichen Grundsätzen des Demokratieprinzips vereinbar ist.
Insbesondere Juristinnen des Deutschen Juristinnenbundes, Frauenverbände und andere zivilgesellschaftliche Organisationen haben eine Änderung des Wahlrechts seit längerem gefordert. In Bayern wurde dazu 2014 das Aktionsbündnis Paritätisches Wahlrecht gegründet. Gemeinsam mit Klägerinnen und Klägern aus dem ganzen Bundesgebiet wurde eine Popularklage zur Überprüfung des Bayerischen Wahlrechts durch den BayVfGH initiiert. Mit seiner Entscheidung vom 26. März 2018 hat der bayrische Verfassungsgerichtshof (Vf. 15-VII-16) festgestellt, ein Anspruch auf geschlechterproportionale Besetzung des Landtags oder kommunaler Vertretungskörperschaften und entsprechender Kandidatenlisten lasse sich dem Demokratieprinzip (Art. 2, 4 und 5 BayVerf) nicht entnehmen; das Parlament müsse kein möglichst genaues Spiegelbild der Bevölkerung darstellen. Art. 118 Abs. 2 Satz 2 BayVerf räume dem Gesetzgeber hinsichtlich des Förderauftrags zur Herstellung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern einen weiten Gestaltungsspielraum ein. Bei der Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts spreche neben dem Grundsatz der Wahlgleichheit und dem grundsätzlichen Verbot geschlechtsspezifischer Differenzierung insbesondere die Programm-, Organisations- und Wahlvorschlagsfreiheit der Parteien gegen verpflichtende paritätische Vorgaben.
Nach dieser Ansicht gibt es weder ein Anspruch auf Parität von Männern und Frauen in den parlamentarischen Vertretungskörperschaften, noch erlaubt das geltende Verfassungsrecht eine verpflichtende Regelung zur Parität. Die Forderung nach einer Parität im Wahlrecht ließe sich dann nur über den Weg einer Verfassungsänderung durchsetzen. Ob dies die derzeit herrschende Interpretation des deutschen Verfassungsrechtes ist, muss das BVerfG erst noch entscheiden. Dass kann aber nicht heißen, dass damit die politische Forderung nach paritätischer Vertretung ein für alle Mal vom Tisch ist und von Verfassungs wegen nicht gestellt werden darf, weil sie Verfassungswidriges fordert. Für diejenigen, die eine verpflichtende Parität für unvereinbar halten mit einem vorgeblich unveränderlichen Demokratieprinzip, ist selbst eine solche Verfassungsänderung ausgeschlossen. Wahrscheinlicher als eine solche derzeitige Verfassungsänderung ist, dass sich im Streit um die herrschende Interpretation des Verfassungsrechtes das Verfassungsrecht selbst ändert. Erinnert sei an die Interpretationsentwicklung von Artikel 3 Abs. 2 GG (Männer und Frauen sind gleichberechtig), die der Einfügung von Satz 2 in Art. 3 Abs. 2 GG vorausging und die den Inhalt der Verfassungsänderung von 1994 quasi vorwegnahm. Danach war die positive Diskriminierung bereits vor der Verfassungsänderung – nach der Entscheidung des BVerfG zum Nachtarbeitsverbot – erlaubt. Im Urteil zum Nachtarbeitsverbot hieß es schon: „Faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, dürfen wegen des Gleichberechtigungsgebots des Art. 3 Abs. 2 GG durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden.“ (BVerfGE 85, 191, 207)
Heute fragt sich, ob unter Berufung auf den staatlichen Auftrag zur Förderung der Gleichberechtigung gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG bzw. Art. 12 Abs. 3 Satz 2 der brandenburgischen Landesverfassung, wonach der Staat „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ fördern und „auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“ wirken soll, die Eingriffe in die von Art. 21 GG geschützte Freiheit der Parteien und in die in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geregelten Wahlrechtsgrundsätze rechtfertigen kann. Der Staat darf danach auf die Auflösung aller Geschlechterrollen hinarbeiten. Ihm wird erlaubt, an den Unterschied von Mann und Frau zugunsten von Frauen anzuknüpfen. Diese Verfassungsnorm zielt nicht nur auf die Herstellung der Rechtsgleichheit zwischen Frauen und Männern, sondern auch auf die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Geschlechterverhältnis.
Der erbitterte Streit über das brandenburgische Parité-Gesetz, das trotz seiner Unvollkommenheit den Anlass bietet, über das Demokratieprinzip des Grundgesetzes und seinen Zusammenhang mit der Gleichberechtigung von Männern und Frauen zu streiten, ist deshalb nicht nur als politische Auseinandersetzung über die Demokratisierung der Repräsentation zu verstehen, sondern auch als Teil des Interpretationsstreites zu Art. 3 Absatz 2 Satz 2 GG zu begreifen. Wie das BVerfG diesen Streit am Ende entscheiden wird, ist derzeit offen. Es spricht aber nichts dagegen, dass je länger der Streit dauern wird, man diese Repräsentationslücke als demokratisches Defizit begreift, die auch mit den Mitteln des Rechts zu schließen ist.
Darf der Wahlgesetzgeber von Verfassungs wegen die Parteien zu paritätischen Wahlvorschlägen verpflichten und den/die Wähler_in an die Parität der Vorschläge binden?
Am Ende wird der Streit darüber, ob der Gesetzgeber Regelungen schaffen darf, um die Repräsentationslücke von Frauen zu schließen, nicht von einem in Art. 79 Abs. 3 GG als unabänderlich geschützten Demokratieprinzip abgeleitet werden können. Von einem sich stetig weiterentwickelnden Demokratieprinzip auf der Grundlage der gleichberechtigten Teilnahme von Männern und Frauen an der politischen Machtausübung wird die Tätigkeit der Parteien beeinflusst werden.
Das Volk, der Souverän, von dem nach demokratischen Verständnis alle Staatsgewalt auszugehen hat, ist keine der Verfassungs- und Rechtsordnung irgendwie vorausliegende Größe. Das Volk wird unabhängig, aber durchaus in Kenntnis seiner soziologischen Ausdifferenzierungen, im Verfassungsstaat durch die Verfassung und den Gesetzgeber konstituiert. Durch den Wahlgesetzgeber wird geregelt, wer das Volk repräsentieren darf. Das Grundgesetz schreibt in Art. 38 GG dafür lediglich Wahlgrundsätze der allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahl vor und regelt das Wahlalter. Alles Weitere überlässt es dem Wahlgesetzgeber. Dessen Aufgabe beschränkt sich nicht auf die Regelung technischer Einzelheiten. Der Wahlgesetzgeber hat Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen und dabei vom Grundgesetz einen weiten Gestaltungsspielraum erhalten.
Die in Art. 21 GG garantierte Parteienfreiheit kann danach in unterschiedlichen Wahlsystemen praktiziert werden. Der Wahlgesetzgeber ist vom Grundgesetz nicht auf eine bestimmte Rolle der Parteien bei den Wahlen festgelegt. Zudem bindet Art. 21 GG die Parteien mit ihrer inneren Ordnung an demokratische Grundsätze und kennt mit dem Parteienverbot eine verfassungsmäßige Grenze ihrer Tätigkeit. Dem demokratischen Wandel in Bezug auf die gleichberechtigte Teilnahme von Männern und Frauen an der politischen Machtausübung sind Parteien durch ihre verfassungsrechtliche Funktionsbestimmung also unterworfen. Von einer Verpflichtung der Parteien auf demokratische Verfassungsgrundsätze geht Art. 21 GG, der die Parteienfreiheit garantiert, grundsätzlich aus. Demgegenüber sind die Wähler_innen nicht auf die Verfassung verpflichtet. Ihre Freiheit kennt keine Festlegungen auf demokratische Verfassungsgrundsätze oder verfassungsrechtliche Wertentscheidungen. Von daher ist der Eingriff in die Parteienfreiheit durch ein paritätisches Wahlrecht anders zu beurteilen als ein Eingriff in die Wahlfreiheit der Wähler_in.
Grundsätzlich fragt es sich aber, wie weit der in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG kodifizierte Verfassungsauftrag reicht, und wie weit die Parteien an ihn gebunden werden können? Gehören paritätische Wahlvorschläge zur Herstellung der von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 erlaubten Chancengleichheit und können die mit dem paritätischen Wahlrecht verbundenen Eingriffe in die Parteienfreiheit und die Wahlrechtsgrundsätze durch Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG gerechtfertigt werden? Entscheidend im Streit um ein paritätisches Wahlrecht ist also das Verständnis des nach der Wiedervereinigung 1994 eingeführten Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Diese Regelung erlaubt eine Anknüpfung an den Unterschied von Mann und Frau: Fördermaßnahmen zugunsten von Frauen enthalten notwendig eine Ungleichbehandlung gegenüber Männern. Sie zielt zudem nicht nur auf die Herstellung der Rechtsgleichheit zwischen Frauen und Männern, sondern auch auf die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Staat darf danach auf die Auflösung diskriminierender Geschlechterrollen hinarbeiten. Grundrechtsdogmatisch enthält das Gleichberechtigungsgebot eine Förder- und Schutzpflicht und hat zugleich die Rechtsnatur eines subjektiven Grundrechts. Insoweit modifiziert diese Regelung auch das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Absatz 3 GG nach dem Merkmal des Geschlechtes. Dies hat der BayVfGH nicht beachtet, wenn er davon ausgeht, dass ein paritätisches Wahlrecht dem grundsätzlichen Verbot geschlechtsspezifischer Differenzierung widerspreche. Es ist nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG zwar dem Staat verboten, jemanden wegen seines Geschlechts zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Mit einer gesetzlichen Quotierungsregelung könnte der einzelne Kandidat bei der Aufstellung der Wahllisten aufgrund seines Geschlechts nicht mehr auf jedem gewünschten Listenplatz kandidieren. Ihm wäre es einzig aufgrund seines Geschlechts verwehrt, auf einem Listenplatz zu kandidieren, der zur Erreichung der Quote nunmehr nur noch dem anderen Geschlecht offen steht. Jedoch hat es das Bundesverfassungsgericht schon im Jahr 1992 in der so genannten „Nachtarbeitsverbotsentscheidung“ für möglich gehalten, dass ein Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes durch das Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 a.F. GG gerechtfertigt sein kann. Art. 3 Abs. 2 GG a.F. gehe über das in Art. 3 Abs. 3 GG enthaltene Benachteiligungsverbot wegen des Geschlechts hinaus und stelle ein Gleichberechtigungsgebot auf, welches sich auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstrecke. Dies muss erst recht nach Einführung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG im Jahr 1994 gelten.
Wie jede Rechtsnorm ist ihre Reichweite aber auch begrenzt. Sie ist ein Auftrag an den Staat zu fördern und hinzuwirken, wobei sie dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum bei der Verwirklichung des Auftrages einräumt.
Das wird deutlich im Streit um die verschiedenen Quotenregelungen. Für den öffentlichen Dienst geht es bekanntlich um die Vereinbarkeit mit Art. 33 Abs. 2 GG, wonach jeder Deutsche „nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte“ hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu Quotenregelungen bisher noch nicht geäußert. Es wird aber überwiegend so verstanden, als laufe seine Rechtsprechung in Übereinstimmung mit der des Europäischen Gerichtshofs auf eine Zulassung von qualifikationsabhängigen Quotenregelungen hinaus, die bis zur Besetzung eines bestimmten Prozentsatzes der Stellen mit Frauen bei gleicher Eignung männlicher und weiblicher Bewerber die Einstellung der weiblichen verlangen. In diesem Fall würde die Kollision mit Art. 33 Abs. 2 GG vermieden werden, weil weiterhin das Merkmal der Eignung maßgeblich ist.
Quotenregelungen im Wahlrecht müssen als Eingriffe in Art 21 GG und 38 GG gerechtfertigt werden. Dabei hat das BVerfG für Quotenregelungen, die sich die Parteien selbst geben, keinen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit und Wahlrechtsfreiheit der Wähler_innen angenommen. Auch für eine gesetzliche Verpflichtung zu paritätischen Wahlrechtsvorschlägen wäre zu prüfen, ob die Verpflichtung zur Parität nur die Parteien bei der Aufstellung ihrer Wahlvorschläge trifft, oder auch die Wähler_innen in der Freiheit und Gleichheit ihrer Wahl. Bleiben die Wähler_innen frei in ihrer Wahl und werden sie nicht zur paritätischen Wahl verpflichtet, d.h. können sie auch angesichts paritätischer Wahlvorschläge weiterhin beliebig viele Männer oder Frauen wählen, muss man davon ausgehen, das weder ihre Wahlfreiheit noch ihre Wahlgleichheit berührt ist. Es bliebe dann nur zu prüfen ob die Verpflichtung zur Aufstellung von paritätischen Wahlvorschlägen vor der Parteienfreiheit gerechtfertigt werden kann. Im Falle des brandenburgischen Paritätsgesetzes ist offensichtlich beides betroffen: die Parteien werden verpflichtet zu paritätischen Listen und die Wähler_innen können bezüglich der Listenkandidat_innen nur paritätisch wählen. In der Hälfte ist damit das Wahlergebnis kraft Gesetzes ein paritätisches. Darin liegt m.E. kein Eingriff in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG. Eine gesetzliche Regelung, welche die Zulassung einer Wahlliste von einer verbindlichen Quotenregelung abhängig macht, beschränkt zwar die grundgesetzlich zugesicherte Parteiautonomie, kann aber gerechtfertigt werden. Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG schützt grundsätzlich auch das Recht der Parteien, autonom und ohne staatliche Vorgaben Kandidat_innen für Wahlen aufzustellen. Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG umfasst i.V.m. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG über den Wortlaut hinaus nicht nur die Freiheit der Gründung politischer Parteien als unantastbaren Kernbereich, sondern auch die Freiheit der parteimäßigen Betätigung (Parteiautonomie). Insbesondere hat das Bundesverfassungsgericht mittlerweile den Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien herausgestellt. Daraus folgt: Jede Einwirkung auf die Betätigungsfreiheit einer Partei steht unter hohem Rechtfertigungsdruck, beispielsweise auch die Aufstellung von Kriterien für die Zulassung zur Wahl. Die Aufstellung von Wahllisten bewegt sich jedoch im Schnittbereich zwischen dem parteiinternen und dem Bereich der staatlichen Regelungen, denen das Wahlrecht unterworfen ist. Das ist nicht der unantastbare Kernbereich der Parteiautonomie. Die allgemeinen Verfahren zur Aufstellung der Bewerber_innen (Kreiswahlvorschläge/Listen) für die Bundestagswahl sind bereits heute im Bundeswahlgesetz geregelt, insbesondere §§ 21, 27 Bundeswahlgesetz (BWahlG).
Die fehlende Beachtung der gesetzlichen Vorschriften bei der Aufstellung von Wahlbewerber_innen führt zur Zurückweisung der Wahlvorschläge (§§ 25 ff. BWahlG). Von daher spricht einiges dafür, dass auch eine gesetzliche Verpflichtung der Parteien zur Aufstellung paritätischer Wahlvorschläge im Rahmen des Gestaltungsspielraumes des Wahlgesetzgebers liegt. Dies kann man umso stärker annehmen, je weiter die Verpflichtung des Gesetzgebers aus Art, 3 Absatz 2 Satz 2 GG reicht. Das wird auch mit Blick auf die Wahlrechtsgrundsätze erhärtet. Bezüglich des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit vertritt das BVerfG zwar ein strikt formales Prinzip (BVerfGE 120, 82 (102)), aber es hat deshalb keineswegs ein differenzierungsfeindliches Verständnis für die Kandidat_innenaufstellung. Das BVerfG hat nicht nur immer wieder Begrenzungen der Wahlrechtsgleichheit aufgehoben, zuletzt etwa den pauschalen Wahlrechtsausschluss von betreuten Personen,[5] sondern es hat auch immer die Freiheit des Wahlgesetzgebers bei der konkreten Wahlrechtsausgestaltung betont. Das geltende Wahlrecht kennt schon immer unterschiedliche Differenzierungskriterien bei der Kandidat_innenaufstellung. In erster Linie sind es politische Auswahlkriterien nach Parteipräferenzen, aber auch regionale Kriterien bei den Direktwahlkandidat_innen. Diese Regelungen schränken die in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG aufgestellten Wahlrechtsgrundsätze der freien und gleichen Wahl zwar ein, gelten aber als gerechtfertigt. Auch für die Verpflichtung zu paritätischen Wahlvorschlägen würde dies gelten. Zwar gehört zur Wahlfreiheit auch ein grundsätzlich freies Wahlvorschlagsrecht, dass durch eine Paritätsregelung beschränkt wird, aber der Verfassungsauftrag zum Abbau faktischer Benachteiligung von Frauen könnte dies rechtfertigen. Hinzu kommt, dass sich der Grundsatz der gleichen Wahl auch auf das Wahlvorschlagsrecht bezieht. Eine Quotierung der Listen wäre generell geeignet, die Allgemeinheit der Wahl als eigenständigen Wahlrechtsgrundsatz zu stärken. Dieser Grundsatz besagt, dass kein Teil der Wahlbevölkerung von der politischen Einflussnahme ausgeschlossen sein soll. Die Allgemeinheit der Wahl ist ein Unterfall der Wahlrechtsgleichheit und sichert die Gleichberechtigung aller Deutschen im aktiven und passiven Wahlakt. Sieht man die ungleiche Geschlechtsverteilung als Hinweis darauf, dass es unterschiedliche tatsächliche Zugangschancen der Geschlechter zu Wahlmandaten gibt, so wären nicht alle Deutschen gleichberechtigt in ihrem passiven Wahlrecht; die Allgemeinheit der Wahl wäre nicht vollends hergestellt. Die gesetzliche Verpflichtung zur paritätischen Besetzung von Wahllisten würde sich in dieser Sichtweise auch als Beschränkung der Wahlrechtsgrundsätze Gleichheit und Freiheit im Interesse der Allgemeinheit der Wahl darstellen.
Für den/die Wähler_in hingegen halte ich eine Verpflichtung auf ein paritätisches Wahlergebnis für eine nicht zu rechtfertigende Verletzung seiner/ihrer Wahlfreiheit. Der demokratische Verfassungsstaat hat die Willkür seiner Wähler_innen zu ertragen und darf die Wahlfreiheit nicht auf inhaltliche Ergebnisse festlegen. Solche Festlegungen zerstören die Wahlfreiheit.
PROF. DR. ROSEMARIE WILL Jahrgang 1949, hatte bis 2014 an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Staatslehre und Rechtstheorie inne. Von 1993 bis 1995 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht im Dezernat von Prof. Dr. Grimm, ab 1996 für zehn Jahre Richterin am Landesverfassungsgericht Brandenburg. Rosemarie Will war von 2005 bis 2013 Bundesvorsitzende der Humanistischen Union, in deren Bundesvorstand sie derzeit für bioethische Fragen zuständig ist. Sie ist Mitherausgeberin der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen des Rechtsstaats und des Grundrechteschutzes vorzuweisen.
Anmerkungen:
1 S. LT-Drs. 6/10466 sowie GVBl. I/2019 Nr. 1.
2 S. Inklusives Parité-Gesetz, LT-Drs. 6/8210 v. 21.2.2018.
3 S. Polzin, Monika: Parité-Gesetz in Brandenburg – Kein Sieg für die Demokratie, VerfBlog, 2019/2/08, https://verfassungsblog.de/parite-gesetz-in-brandenburg-kein-sieg-fuer-die-demokratie/, DOI: https://doi.org/10.17176/20190211-212411-0; Martin, Edward; Honer, Mathias: Neue Kleiderordnung statt Wahlrechtsreform – Eine Erwiderung auf Cara Röhner, VerfBlog, 2019/1/18, https://verfassungsblog.de/neue-kleiderordnung-statt-wahlrechtsreform-eine-erwiderung-auf-cararoehner/,
DOI: https://doi.org/10.17176/20190211-221611-0; Klaus F. Gärditz, Keine Normen gegen röhrende Platzhirsche, Legal Tribune Online v. 19.11.2018, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/frauenquote-parlament-wahlrecht-selbstbestimmung/; Morlok/Hobusch: Ade parité? Zur Verfassungswidrigkeit verpflichtender Quotenregelungen bei Landeslisten, DÖV 1/2019, S. 14ff.
4 „Staatsrechtler hält Gesetz für mehr Frauen im Parlament für verfassungswidrig“, Vorabmeldung aus: Der Spiegel 1/2019, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/udo-di-fabio-gegen-frauenquoten-vorschlag-von-katarina-barley-a-1207777.html
5 S. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 29.1.2019 – 2 BvC 62/14 – Rn. (1-142), http://www.bverfg.de/e/cs20190129_2bvc006214.html.