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Thema: Drogen. Sucht als gesell­schaft­li­ches Phänomen

12. August 1997

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[August 1997]

von Prof. Dr. Johannes Neumann(Soziologisches Institut der Universität Tübingen, Zentrum zur Erforschung Lebenswelten behinderter Menschen)

Fast täglich können wir von Sucht und Suchtgefahren in Zeitungen lesen und in anderen anderen Medien sehen oder hören. Dabei ist die Wahrnehmung der Probleme selektiv. Bereits die Medien bieten uns ausgewählte, gesteuerte Informationen. Nicht, daß sie bewußt irreführen wollten, vielmehr sind sie – genau wie wir – Teile dieser Gesellschaft und sehen darum vielfach die Dinge so, wie sie gesehen werden sollen.

1. Mechanismen selektiver Wahrnehmung

Gerade bezüglich ängstigender, weil diskreditierender Phänomene, zu denen zweifellos auch die Süchtigkeit gehört, versucht der Mensch einerseits, seine eigene Situation zu verharmlosen, wie andererseits die Gesellschaft, etwa in Gestalt der Politik bzw. der Massenmedien, nicht zu leugnende Probleme bestimmten auffälligen oder auffällig „gemachten“ Minderheiten anlastet, um die wahren Ursachen nicht angehen zu müssen.

Solche Verdrängungsvorgänge beherrschen den Alltag auch – und gerade – von Gesellschaften, die glauben, sie wären „aufgeklärt“. Die Kriminalisierung des Drogenkonsums ist nichts anderes als die Dokumentaion der Gesellschaft: „Ihr gehört nicht mehr zu uns!“ (Lempp, 153). Hier mag das ärgerliche Phänomen seine Ursache haben, daß die meisten und tonangebenden Suchtbekämpfungsmaßnahmen der Politik und der politischen Diskussion sich auf die sog. illegalen Drogen und ihre repressive Bekämpfung beziehen. Dabei wird vorsätzlich übersehen, daß noch nie – weder in den USA noch in Skandinavien oder sonst wo – repressive Prohibition zum Erfolg geführt hat. Im Gegenteil, weil auf diese Weise der Stoff knapp gehalten wird, sind die Preise hoch, lohnt sich das Geschäft und erreicht die Beschaffungskriminaltät enorme Ausmaße. In der einschlägigen Forschung herrscht heute darin weitgehend Übereinstimmung, daß der Drogengebrauch durch soziale Faktoren geprägt ist, insbesondere durch die Peergruppen, wie andererseits die Erkenntnis der relativen Bedeutungslosigkeit repressiver Maßnahmen Gemeingut ist.

2. Kulturell gefärbter Umgang mit Drogen

Es ist soziologisch zunächst nicht verwunderlich, daß auch in bezug auf die Dramatisierung von Sucht und die soziale Bewertung der Drogen sowie den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen, soziale Üblichkeiten bestimmend sind. Solche gesellschaftlich vermittelten Traditionen sind auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung und die politische Wertung bestimmend.
Der Genuß von Rauschmitteln wie Coca oder Opium ist in manchen Kulturen selbstverständlich und oft rituell eingebunden, formalisiert und dadurch gesellschaftlich kontrolliert. In der mediteran-abendländischen, jüdisch-christlichen Tradition gehörte und gehört beispielsweise der Weingenuß zum Wesensbestandteil religiöser bzw. gesellschaftlicher Rituale: Das jüdische Pascha wie das christliche Abendmahl sind ohne Wein ebenso wenig vorstellbar wie gesellige Feste. Der Gebrauch von Medikamenten gehört zu unserer Alltagsgewohnheit.

Solche kulturell tradierten Muster prägen das Verhalten der Gesellschaften tief. Oft schließen sie eine rationale, unvoreingenommene Auseinandersetzung sowohl mit den fremden als auch mit den eigenen Traditionen aus. Diese gesellschaftlich-kulturelle Voreingenommenheit ist weithin rationaler Reflexion unzugänglich. Dies vor allem deshalb, weil es nicht um einzelne, isoliert nebeneinander bestehende Verhaltens- und Wertfragen geht, sie vielmehr ein ineinander verwobenes Geflecht darstellen: Wie Menschen sich kleiden, was und wie sie essen und trinken, wie sie sich zueinander verhalten, welche Wertvorstellungen sie haben: Alles dies prägt ihr Denken und damit auch ihr Wesen. Es ist ihre Kultur, die insofern ein Stück menschlicher Natur ist. Ändert sich eines dieser kulturellen Merkmale, sind – wie in einem Regelkreis – alle anderen mitbetroffen. Das spielt eine bedeutsame Rolle bei den sehr unterschiedlichen Reaktionen der Gesellschaft und ihrer Agenten gegenüber dem Konsum und den Konsumenten der verschiedenen Drogen.

3. Lebensformen einer konsumistischen Gesellschaft

Der Zwang zur Arbeitsteilung hat nicht nur zu einer neuen Form gegenseitiger Abhängigkeit in Form der „organischen Solidarität“ geführt, sondern auch auf sehr komplizierte Weise eine tiefgreifende, ja monadenhafte Individualisierung bewirkt. Sie ist keineswegs nur der ökonomisch-arbeitsteiligen Arbeitsform verdankt, vielmehr hat sie ihre Wurzeln auch in der europäischen und christlichen Tradition: Wenn der Verlauf der menschlichen Geschichte – als Heilsgeschichte – auf die schlußendliche Vollendung ausgerichtet ist, dann drängt ein solches Welt- und Menschenverständnis geradezu nach immer größerem Fortschritt in allen Bereichen des Seins und des Daseins. So ist die Idee des immer größeren Fortschritts eine durchaus folgerichtige Konsequenz aus der kulturellen europäischen Tradition. Max Weber hat diese Entwicklung in seinen Ausführungen über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ dargestellt.

Die Idee des immer schneller, immer weiter, immer höher, immer besser, immer kostengünstiger und rationeller war und ist ungeheuer wirksam und effizient. Im Zuge der heute überall und stets beschworenen „Globalisiserung“ kolonialisiert sie alle Bereiche unseres Daseins und alle Kontinente dieses Erdballs. Ihre materiellen, wissenschaftlich begründeten Erfolge sind unübersehbar.

Eine solche Gesellschaft, die den Profit und das Glück des einzelnen durch ständigen Fortschritt zum zentralen Wert erhebt, mußte andererseits – paradoxerweise – die hohe Wertung der Würde der Person relativieren. Die Maxime Kants, wonach der Mensch niemals Mittel zum Zweck sein dürfte, da er selbst Zweck seines eigenen Daseins sei, wurde außer Kraft gesetzt durch den Gebrauch der menschlichen Arbeitskraft als „Ware“ in Folge des Gebots der Profitmaximierung. Nicht mehr der Biorhythmus bestimmt den Lebensablauf des Menschen, nicht mehr seine natürlichen Bedürfnisse, sondern der Takt des Fließbands und die Geschwindigkeit der Maschinen oder die Software des Computers. Es entwickelte sich eine soziale Allergie gegen alles, was nicht dem »Fortschritt« dient. Denn die Erfolge in Medizin und Pharmakologie schienen die Vision einer – nun vom Menschen und nicht von Gottheiten – geschaffenen heilen Welt Wirklichkeit werden zu lassen. Und wer von uns freut sich nicht der Erfolge der technischen Entwicklung? Darum wird oft hurtig alles, was in dieses Muster heilenden Fortschritts nicht paßte, häufig als „abweichendes Verhalten“ definiert.

In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob es wirklich zu weit hergeholt ist, wenn man die Strukturen unserer Konsumgesellschaft, deren einziger Sinn die Produktion von Gütern zu sein scheint, ohne Rücksicht auf deren humanen Nutzen zu achten, mit den Strukturen der Sucht vergleicht?

Der Konsumismus unserer Gesellschaft – in fast allen Bereichen – ist tatsächlich der Kreislauf von nicht stillbaren Bedürfnissen, die nach ständiger Dosissteigerung verlangen. Ständige Dosissteigerung, ohne je Befriedigung zu verschaffen, aber ist das Wesen der Sucht (Amendt, S. 52). Friedrich K. Tenbruck hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Befriedigung des einen Wunsches stets einen neuen provoziert; er hat dieses Phänomen als „Gratifikationsverfall“ bezeichnet: Das neue Auto wird durch das neueste ersetzt, der schnelle PC durch den noch schnelleren, die schöne Frau durch eine noch schönere. Diese Anlage des Menschen, die seine Bedürfnisse nie gestillt sein läßt, ist einerseits Antrieb allen Fortschritts, aber andererseits in ihrer überschießenden Form auch eine Weise, wie der Mensch sein Wesen zerstören und seine eigene Identität verlieren kann. Denn der Mensch ist – wie Arnold Gehlen ihn beschrieb – ein instinktreduziertes und weltoffenes Wesen, das mit seinem Antriebsüberschuß nicht nur die Möglichkeit zu Entwicklung und Fortschritt, sondern auch die Anlage zur Sucht impliziert.

4. Zuschreibung, Ausgrenzung und Abgrenzung

Je nachdem, um welche Droge es sich handelt, reagieren soziale Umwelt und ihre gesellschaftlichen Agenten auf den ersten Konsumversuch ebenso unterschiedlich wie auf dauernden Konsum: Während die erste Zigarette und das erste Bier in der Regel kaum sanktioniert werden, vielmehr oft bei der Konfirmation und dem 18. Geburtstag dazugehören, ist der erste Joint meist gesellschaftlich geächtet.

Das hat Folgen: Der Etikettierung durch die Gesellschaft folgt die Selbstetikettierung, der sozialen Ausgrenzung die tatsächliche Abgrenzung durch das betroffene Individuum. Die Stigmatisierten werden gewissermaßen durch die ihnen widerfahrene Ausgrenzung zu einer sich abgrenzenden eigenen Gruppe; die „Szene“ ist nun der Raum gemeinsamer Erfahrung. Die erlebte Ausgrenzung von seiten des bisherigen Umfelds initiiert die Entwicklung zum eigenen, selbststilisierten „Milieu“:

Alle Signale aus der „normalen“ Gesellschaft werden in der Weise gedeutet, wie sie der eigenen oder der von der Gruppe tradierten Erfahrung entsprechen: „Ihr seid schlecht, verworfen!“ Die Ausgegrenzten solidarisieren sich dagegen in ihrer Welt, die von – schier umfassender – Nicht-Solidarität geprägt ist. In diesem Sinn leben alle Süchtigen in einer eigenen – für nicht süchtige Menschen kaum verstehbaren – Lebenswelt, als einem für sie realen Lebenszusammenhang, mit grupppeneigenen Deutungsschemata.
Auf diese Weise entsteht neben der physiologischen und psychischen Abhängigkeit noch die soziale. Für sie genügt die Erfahrung des Ausgegrenztseins und – im konkreten Fall – ihre Begründung in dem „süchtigen“, diskriminierten Verhalten. Im Augenblick ihrer „Sichtbarwerdung“ ( E.K. Scheuch, 1965) provoziert die daraus folgende Selbststigmatisierung ihrerseits eine mentale Abgrenzung gegen die Umwelt, ein Gefühl der Andersartigkeit, das mit Gleichgestellten verbindet, auch wenn die Ausgegrenzten sonst nichts miteinander verbindet. Das ist einer der Gründe, weshalb Rehabilitation so schwer gelingt. Die sozial bedingte Notwendigkeit zum Zusammenschluß entfällt „erst dann, wenn das Verhalten nicht mehr in der Gesellschaft als abweichend gälte. Dies würde gleichzeitig dem Verhalten den Nimbus der Abweichung nehmen und es gesellschaftlich akzeptabel machen.“ (Reuband, S.197) Hier liegt soziologisch auch der Grund für die Notwendigkeit einer neuen Drogenpolitik, weil die schiere Repression unter den obwaltenden gesellschaftlichen Voraussetzungen nur noch mehr ins Abseits und in die Delinquenz drängt. Die Süchtigen, auf solche Weise kriminalisiert, verlieren Beruf und soziale Bindung und werden dadurch zum sozialen Problem (Lempp, 135). Diese Schlacht ist auf die bisherige Weise nicht zu gewinnen!

5. Glaube und Wunder: Die Gesundheitsexperten als Wegbereiter der Sucht:

Der Mensch erhoffte sich schon immer in schwierigen Lebenslagen, – und sie waren früher oftmals noch aussichtsloser als wir es uns heute vorstellen können,- rasche Hilfe durch numinose Mächte und Praktiken. Rausch und Ekstase waren dabei wohl schon immer Formen, die den Menschen halfen, das Elend ihrer Trostlosigkeit zu vergessen. Der Schnelllebigkeit unserer, dem Fortschritt verschriebenen Zeit und ihrer Wissenschaftsgläubigkeit, entsprechen Wunsch und Möglichkeit, den Menschen durch den gezielten Einsatz von Medikamenten bei gleichbleibender Leistungsfähigkeit temporäres Wohlbefinden zu vermitteln: Das Pharmakon ersetzt weithin tröstendes Gespräch, befreiendes Lachen, entspannendes Weinen und regenerierende Ruhe. Allgemein wird heute erwartet, daß kleine Unpäßlichkeiten und schwere Leiden schnell, effizient und ohne große eigene Mühe gebessert werden. Wir bemühen uns weithin nicht mehr selbst um Besserung und Linderung, vielmehr erwarten wir sie von Medikamenten. Mit der Entdeckung der Amphetamine und ähnlicher Verbindungen in den dreißiger Jahren glaubte man, ideale „Muntermacher“ und „Hungerdämpfer“ entdeckt zu haben. Sie halfen Soldaten, wachzubleiben und sich dabei noch glücklich zu fühlen (Ernst/ Füller, 35). Durch viele Industriegesellschaften ziehen diese Substanzen seither ihre Spur. Als Psychostimulantien gehören sie neben den Neuroleptika, den Antidepressiva und Tranquilizern zur großen Gruppe der Psychopharmaka.
Diese Medikamente können im Einzelfall in der Hand des informierten und verantwortlichen Experten hilfreich sein. Aber es ist bekannt, daß nicht jede und jeder, der diese Mittel verschreiben darf, hinlänglich informiert ist (Glaeske, 71).

Medikamentenabhängigkeit (dependence) bedeutet gemäß der Definition der WHO, daß Medikamente nicht indikationsbezogen angewandt, sondern um ihrer selbst willen eingenommen werden. Abhängigkeit in unserem Sinn soll hier bestimmt sein als „die mißbräuchliche chronische Gabe von Arzneimitteln mit Abhängigkeitspotential.“ (Remien/Raber, 3f.). Die Gefahr, daß Medikamente mißbräuchlich verordnet, eingenommen und schließlich abhängig machen können, ist altbekannt (u.a.: Binder, 8o f.). Wenn wahr sein sollte, daß bestimmte Länder und Zeiten ihre jeweils spezifischen „Krankheiten“ und „Pharmakoi“ haben (Payer u.a. 172 f.), dann wundert es kaum, wenn in modernen Industriegesellschaften schnell wirkende, entlastende, angstlösende und leistungssteigernde Medikamente Konjunktur haben.
In einer immer älter werdenden Gesellschaft kann es dann erst recht nicht verwundern, daß etwa 80% der Psychopharmaka Menschen über 55 Jahren verschrieben werden und über 50% der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen mit Präparaten mit Suchtpotentialen versorgt werden. Das soll als Feststellung genügen und hier nicht weiter problematisiert werden.

Daß aber auch junge Menschen immer häufiger zur „Pille“ greifen, ist besorgniserregend: 14 % aller Schüler nehmen Beruhigungs- bzw. Schlafmittel. Ca. 40 % der 12jährigen und 53 % der 17jährigen nehmen Schmerzmittel.

In Einzelfällen mag die Indikation angezeigt sein. Doch die schätzungsweise 1,1 bis 1,4 Millionen medikamentenabhängigen Menschen – das sind etwa 1,75% der Gesamtpopulation – sind zu einem nicht geringen Teil auch durch das Zutun der Ärzte in diese Situation geraten (Remien/ Raber, 48 ff.). Soziologisch interessant daran ist, daß sich über diese Tatsache – außer auf regelmäßigen Tagungen der DHS und der DKA – kaum jemand aufregt. Es scheint selbstverständlich zu sein, obwohl allgemein bekannt ist, daß beim Medikamentenkonsum der Übergang zu Mißbrauchs- und Abhängigkeitsverhalten fließend und nicht selten ist.

Es gehört offensichtlich in hohem Maße zur selbstverständlichen, gesellschaftlich akzeptierten und standesmäßig tolerierten Routine (Glaeske, 71), Medikamente dieser Art zu verschreiben und zu konsumieren. Das wiederum dürfte darauf hindeuten, wie sehr diese Verhaltensmuster gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen.

Für Medikamente insgesamt trugen die Deutschen vor der Budgetierung etwa 40 Milliarden DM in die Apotheken (Schwäb.Tagblatt v. 1.9.94). Nach einem Rückgang im Jahr 1993 um 16% stieg der Gesamtverbrauch im Jahr 1995 auf 45,6 Mrd. DM. Seit 1993 avancierte erstmals die Gruppe der Psychopharmaka, Schlaf- und Beruhigungsmittel zur Spitzenposition (Burmester). Insgesamt schluckten die Westdeutschen 1993 – vom Kleinstkind bis zum Greis – drei Dosen pro Tag (Glaeske,1995, 64) und liegen damit weltweit in der Spitzengruppe. Obwohl die Verordnungen von Benzodiazepin-Derivaten 1994 auf insgesamt 660 Mio. Tagesdosen p.a. zurückgegangen sind, reichen sie doch aus, um 1, 8 Mill. Menschen, immerhin 6% aller Versicherten, mit einer ausreichenden Tagesdosis zu „versorgen“ (Glaeske, 1997, 42 f.)

Oft verbreiten die Arzneimittelhersteller wie auch die Ärzte und Apotheker den Eindruck, Krankheiten ebenso wie große und kleine Unpäßlichkeiten könnten mittels Pillen einfach „weggeschluckt“ werden.Der umfangreiche Konsum von Medikamenten im allgemeinen, von Psychopharmaka im besonderen, kann als ein Symptom für die – gewissermaßen – konstitutionelle Süchtigkeit unserer Gesellschaft gelten, die davon lebt, daß die Werbung ständig neue Wünsche, man könnte auch sagen, „neue Begierden“ weckt, deren Stillung stets neues Begehren nach sich zieht.

Stichwort Prozac (= Fluoxetin; D: Fluctin) als für die Bedürfnisse der Menschen der 90iger Jahre entwickelte Designer-Droge. Das Wundermittel, das aus Pessimisten Optimisten macht, schlank werden läßt, Dynamik schenkt und lange Gesprächstherapien auf den Müllhaufen der Geschichte werfen und angeblich nicht süchtig machen soll, ist das Idealpharmakon moderner Industriegesellschaften (Schwäb. Tagbl. v. 21.4.94).
Die rasante Akzeptanz dieser neuen Universaldroge Prozac/Fluctin deutet darauf hin, daß Süchtigkeit und Abhängigkeit gewissermaßen zu den modernen Industriegesellschaften gehören, in sofern sie ermöglichen, leicht und selbstverständlich, Angst, Schmerz und Verzweiflung durch Pharmaka zu betäuben. Sie lösen Religion und Bier als Opium des Volks ab: Suchtverhalten kann auf Krankenschein gelebt werden. Zugleich bieten die ärztliche Verschreibung und der Erwerb in der Apotheke – und nicht auf dem schmuddeligen Dealer-Markt – die Möglichkeit, sich von jenen abzugrenzen, die „drogensüchtig“ sind, da man der eigenen Sucht legal, weil unter Aufsicht der Gesundheitsexperten frönt.

6. Gesellschaftlicher Nebel: Alkohol und Nikotin

Eingangs wurde darauf hingewiesen, daß unsere Gesellschaft sowohl durch eine Alkohol- als auch eine Nikotinkultur geprägt ist: Kinder erfahren weithin bereits in frühen Jahren Alkohol- und Nikotin als sozial eingewobene und akzeptierte Genußmittel. Durch Erleben in der Herkunftfamilie, der Verwandtschaft und meist im gesamten Bekanntenkreis der Erwachsenen erleben sie die hohe gesellschaftliche Bedeutung des Konsums dieser Stoffe. Sie gehören zur Normalität des Alltags.

Der Konsum von Alkohol und Nikotin bedeutet für junge Menschen eine prägende Statushaltung; er ist ein Konformitätshandeln durch das der jugendliche Mensch Anerkennung seiner Peers erlangt; er ist schließlich eine Ersatzhandlung zur Vertreibung der Langeweile, zur Bewältigung von Problemen oder schlicht zur Entspannung.

Wenn Goethe sagte, „Jugend sei Trunkenheit ohne Wein“, so hat heute nicht selten der erste Suff initiatorischen Charakter. Rauchen und Trinken dienen den Jugendlichen zur Bildung einer eigenen Cliquen- und Freizeitkultur und sind weithin Merkmale der Identitätsbildung (zum Ganzen: Sieber 22 ff.).

Die Folge: Es gibt in Deutschland etwa 2,5 Millionen behandlungsbedürftige Alkoholabhängige, also etwa 3,13% der Gesamtbevölkerung! Die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle wird nach der DHS auf jährlich etwa 40 000 geschätzt, und der Frauenanteil steigt kontinuierlich.

Die finanziellen Kosten sind beträchtlich: Allein die Krankenhauskosten betrugen 1989 etwa 1,4 Milliarden DM plus 3,2 Milliarden DM Verluste aufgrund alkoholbedingter Arbeitsunfähigkeit. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber beziffert den durch die Droge Nr. 1 angerichteten volkswirtschaftlichen Schaden auf ca. 17 Mrd. DM, wobei allerdings die alkoholbedingten Minderleistungen nicht eingerechnet sind. – Nach anderen Schätzungen betrage der jährliche volkswirtschaftliche Gesamtverlust 30 bis 50 Milliarden DM (Prof. Frühmorgen, 1994/ Brockhoff, 31).

Die Einnahmen des Bundes aus Steuern auf Sekt, Bier und Schnaps belaufen sich auf etwa 6,5 Mrd. DM p.a. (FR v. 21.5.94). Selbst unter einem zynischen Gesichtspunkt „rentiert“ sich diese Sucht weder für den einzelnen noch die Gesellschaft:

Der Verband der Technischen Überwachungs-Vereine schätzt, daß die Hälfte der Verkehrstoten (4956 von 9913 Toten) auf Alkoholeinfluß zurückzuführen sei; Heinrich/Joá³ gehen bei den Verkehrsunfalltoten von 18,6 % aus und bemerken, daß nicht bei jedem Unfall eine Blutprobe entnommen werde (204).

7. „Neue“ = nicht kulturübliche, illegale Drogen

In Verbindung mit Alkohol und chemischen Substanzen hat sich in Deutschland ein großer und unübersichtlicher Drogenmarkt entwickelt, zu dem allerdings weder die Polizeistatistik noch Befragungen genaue Zahlen zu liefern vermögen. Alle Zahlen beruhen auf Schätzungen bzw. Hochrechnungen. DerRauschgiftbericht des BKA 1993 schätzt die Zahl der (gelegentlichen) Konsumenten harter Drogen auf zwischen 139 000 bis 184 000 liegend (S. 97). Die der Hasch-Konsumenten auf 120 000. Nach Berechnung von Leune konsumieren etwa 65 000 Menschen Kokain, 45 000 Opiate und 850 000 Hasch, insgesamt etwa 960 000 Personen (117).

Aber, was heißt „konsumiert“ haben? Niemand käme auf die Idee, solche, die ein- oder zweimal im Jahr rauchen als nikotinabhängig, und solche, die gelegentlich Bier oder Wein trinken, als Alkoholiker oder gar als alkoholabhängig zu bezeichnen. Gleichwohl wird im Bereich der illegalen Drogen – insbesondere wegen der sichtbaren Heroin-Szene – zur Bestimmung der gesellschaftlichen Gefährlichkeit der Lage mit solchen Zahlen operiert. Noch immer wird die Gefährlichkeit des Rausch“giftes“ mit dem Bild des auf der Straße vegetierenden Abhängigen dargestellt, der in einem ungesunden und kriminellen Umfeld sein Dasein fristen muß. Die unsichere Datenlage leistet der bewußt gepflegten Mythenbildung zweifellos Vorschub (Leune, 118).

Dazu kommt, daß es gesellschaftlich sehr unterschiedliche Konsumentengruppen gibt: auf der einen Seite die Heroin-Fixer auf der Straße und auf der anderen die nicht auffälligen Abhängigen und Gelegenheitskonsumenten, die keineswegs abhängig zu sein brauchen. Aber auch die konsumierten Drogen ändern ihre Prioritäten: Betäubung (Opiate) ist out, angesagt sind – insbesondere im Disco-Milieu und in der Schickeria – stimulierende Stoffe (z.B. Ecstasy und Designerdrogen (Leune, 120 f.). Ihre Gefährlichkeit wird vor allem von den – jugendlichen – Konsumenten unterschätzt. Sie machen die Bedrohlichkeit dieser Entwicklung deutlich: Wie Hydra gebären sie stets neue und noch gefährlichere Varianten!

Selbst wenn man die Zahl der amtlich festgestellten Rauschgifttoten pro Jahr (1991 = 2025; 1993 = 1738) (BKA: Jahrb. 95, 102); 1994 = 1624; 1995 = 1565; 1996 = 1712 (ᬠ9,4%) verdoppeln würde, hätten wir eine Größenordnung von etwa viertausend Toten. Kein Zweifel, das wären und sind viertausend zuviel. Doch angesichts der Zahl der aufgrund von Alkohol (ca. 40 000 p.a.) und Nikotinabusus (ca. 90 000 p.a.) Verstorbenen – und der (mindestens) 1680 alkoholbedingter Verkehrsopfer (1995) wird ein Mißverhältnis der öffentlichen Reaktionen sichtbar.

8. Individualisierung und Pathologisierung

Die Warenhaftigkeit der menschlichen Beziehungen moderner Gesellschaften mit ihrem Zwang zu immer schnellerer Entwicklung, zur Steigerung der Produktion, zur Mehrung des Konsums und Optimierung der Tröstungen und des Vergnügens bewirken auch, daß die Menschen die Vermehrung ihrer Bedürfnisse ebenso wie ihre – freilich sehr begrenzte – Erfüllung in ihrem Dasein als selbstverständlich erleben. bzw. glauben, ihre Frustrationen in einem Lebensbereich durch vergessenmachenden Genuß in einem anderen ausgleichen zu können. Erfahrungen dieser Art lassen Erwartungen erwachsen, die jenen der Sucht zumindestens nahekommen, zumal sie den Menschen oft bereits im frühen Sozialisationsprozeß vermittelt werden. Einzelne vermögen diesen Trends vielleicht zu widerstehen; es kann ihnen als einzelnen gelingen, anders zu leben; doch bereits bei der Erziehung ihrer Kinder ist die einzelne Familie den vielfältigen sozialisatorischen Einflüssen anderer Vorstellungen ausgesetzt: Das beginnt nicht erst im Kindergarten, sondern bei der noch vorbewußt aufgenommenen Fernsehreklame (Esser/Maschewsky-Schneider, 60) und den „Spontan-Angeboten“ an den Kassen der Geschäfte und reicht zum Konkurrenzdruck, dem schon Kinder bezüglich der modischen Kleidungs- und Lebensstile ausgesetzt sind.

Ungeachtet dieser gesellschaftlich induzierten Neigungen zu süchtigem Verhalten, werden bei der Prävention und bei der Bekämpfung von Suchtverhalten die gesellschaftlichen Voraussetzungen oft ignoriert. Die am einzelnen erkennbare Süchtigkeit wird – allein – diesem zugerechnet.

Erst wenn medizinisch bzw. gesellschaftlich pathologisch erscheinendes Verhalten, als „abweichendes Verhalten“ offenkundig wird, gelten in der Regel therapeutische Maßnahmen als angezeigt. Damit aber gibt die Gesellschaft die von ihr – zumindest mit – zu verantwortende Beteiligung an dieser Entwicklung an das Individuum als Vorwurf persönlichen Versagens zurück. Allein die tatsächliche Sichtbarkeit, also die erkennbaren Folgen eines Abusus, werden geahndet; dagegen wird kaum versucht, die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die ein solches Verhalten nicht nur ermöglichen, sondern oft geradezu auch provozieren, weder zu thematisieren noch gar zu reduzieren.

9. Sucht als Ausdruck nekrophiler Gesellschaftsstrukturen

Weil die moderne Industriegesellschaft sich als „ehrenwerte“ versteht, leugnet sie ihren Anteil an der Entstehung solch individueller Problemlagen, deren Auswirkungen sowohl für das betroffene Individuum und sein soziales Umfeld verheerend als auch für die Gesellschaft belastend sind. Wie oben angedeutet, schafft das der Gesellschaft inhärente Mehr- und Schneller-Habenwollen nicht nur allgemein individuelle Suchtpotentiale, sondern konkretisiert durch ihre Rahmenbedingungen, wie etwa Arbeitslosigkeit, unbezahlbaren Wohnraum, mangelnde Hilfe bei chronischer Krankheit oder Behinderung oder durch die Doppel- und Mehrfachbelastung der Frauen, süchtiges Verhalten. Die sozialen und individuellen Defizite summieren sich beim einzelnen zu einem Syndrom der Suchtpotentiale. Obwohl die gesellschaftlichen Voraussetzungen die ausschlaggebenden Faktoren für das tatsächliche Süchtigwerden darstellen, wird in der offiziellen Rede über das Sucht- und Drogenproblem allein das Individuum für seine Situation haftbar gemacht; die gesellschaftlichen Anteile werden, wenn nicht geleugnet, so doch überschwiegen. Dabei wissen wir, daß immer dann, wenn Menschen ihr eigenes Handeln als sinnlos erleben, die Sucht vor der Tür lauert. Wer will es einem Menschen verdenken, der hundert oder mehr Bewerbungsschreiben verschickt hat, verzweifelt und sich schließlich mit Drogen – welcher Art auch immer – zu betäuben versucht.

Nicht die Tatsache, daß die modernen Gesellschaften besser leben wollen und nach Fortschritt streben und dies immer ungeduldiger tun, ist die Ursache des Problems, sondern, daß die fortschreitende Ungeduld in der industriellen Moderne zum Selbstzweck geworden ist. Der einzelne Mensch, formal Zielpunkt aller Werbung und Subjekt des Konsums, ist tatsächlich den Einflüssen gesellschaftlichen Zwangs, dem allgemeinen Konformitätsdruck und Gruppenzwang, ausgesetzt. Der Genuß wird zur Pflicht (Bourdieu).

Die besondere Qualität des neuzeitlichen Glücksstrebens ist dadurch gekennzeichnet, daß es zum einen in bestimmten vordergründigen Bereichen erfüllt zu werden scheint und zum anderen nicht aus der Person selbst kommt, sondern ihr in vielfältigen Möglichkeiten von außen angesonnen wird. Die solchermaßen durch Werbung und sozial gebotenes Verhalten (etwa in der Mode) implantierten Wünschen werden – geradezu industriell – „produziert“. Dadurch verlieren sowohl das Bedürfnis als auch seine Befriedigung ihre Basis in der menschlichen Person. Sehnsucht wie Erfüllung werden „kolonisiert“, sind also anderen Interessen dienstbar. Die selbstproduzierte Abhängigkeit der Menschen moderner Gesellschaften von industriellen Krücken, von Werbung für den Kreislauf von Produktion und Konsum zur Aufrechterhaltung einer Scheinlebendigkeit, bezeichnet Erich Fromm als das un-lebendige, nekrophile Potential un-menschlicher Sinnmuster. Sie verordnen dem Menschen ein Leben aus zweiter Hand: aus gekauftem, zeitweiligem, weil rasch vergehendem Glück. Solche Lebenslagen provozieren Angst, die – entsprechend dem Zeitgeist – eben wieder nur durch „technische“ Mittel verdrängt werden können. Tief drinnen in Individuen und Gesellschaft aber bleiben Sehnsucht und Angst. Der Kreislauf schließt sich.

10. Notwendig ist eine neue umfassende Drogenpolitik und ein neues Denken

Wenn das stimmt, dann stößt jegliche individuell ausgerichtete Sucht-Prävention und -Therapie notwendig an ihre Grenzen. Das gibt diesen Bemühungen etwas deprimierend Sisyphusartiges. Denn die Abweichungen oder Erkrankungen werden zwar in Individuen sichtbar und auffällig, haben ihre Ursachen jedoch in den dominierenden gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen. Ob und inwieweit die modernen Gesellschaften durch ökologische und ökonomische Zwänge veranlaßt werden (können), von diesen Daseinsvorstellungen abzulassen, liegt weder in der Hand des staatlichen Machtapparates noch der therapeutischen Experten. Bei aller dem Soziologen gebotenen Vorsicht, darf festgehalten werden: Die bisherige Drogenpolitik der bloßen Repression hat sozialpädagogisch, politisch und juristisch in die Sackgasse geführt. Wir müssen mit Mut und Phantasie nach besseren Wegen suchen. Alles andere käme einer Kapitulation vor den Drogen und der Macht der hinter ihnen stehenden Interessen gleich! Allerdings müssen dazu individuelle und gesellschaftliche Mentalitäten und Verhaltensweisen geändert werden. Ob wir das wollen und können – das ist die Frage!

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