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Über Schwan­ger­schafts­kon­flikt­be­ra­tungen

28. Dezember 1979

Bericht der Freien Frauen- und Familienberatung der Humanistischen Union Schleswig-Holstein in Lübeck. Aus: vorgänge Nr. 42 (Heft 6/1979), S. 135-138

Unsere ärztliche Beratung arbeitet seit 1974.

Bereits vor der Reform des §218 StGB, noch zur Zeit der Gutachterstellen, wurden Frauen in Schwangerschaftskonfliktsituationen, wie auch in Sexual-, Kontrazeptions- und Partnerschaftsfragen beraten. Die HU hatte 1970 die parlamentarische Behandlung dieses Strafrechtsparagraphen mit dem Ziel einer Fristenregelung initiiert, die nach vierjähriger in der Öffentlichkeit emotional geführter Diskussion vom Bundestag mit Mehrheit verabschiedet wurde.
Nach den bekannten Einsprüchen und über einjähriger Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht wurde 1975 gegen das Votum zweier Richter, der einzigen Frau, Rupp von Brünneck und Richter Simon, die Unvereinbarkeit von Teilen des Strafrechtsänderungsgesetzes mit der Verfassung festgestellt. Die Rechtsunsicherheit in der Folgezeit führte zu erschreckender Zunahme der Ungleichbehandlung. So erhielt am 21. 6. 1976 ein geänderter § 218 StGB Rechtswirksamkeit, der nicht als „zweitbeste“ Lösung angesehen werden kann.
Nach dem Willen des Gesetzgebers sollte die neue Gesetzesformulierung den vom Bundesverfassungsgericht belassenen engen Spielraum voll ausnutzen und den Frauen doch noch eine gewisse Hilfe bringen.

Um jedoch „von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwenden, die a) so schwerwiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und b) nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise abgewendet werden kann“ ( § 218a, Abs. 2 Nr. 3), wurden Zwangsberatungen verordnet, die das Recht auf Selbstbestimmung eines jeden Menschen, der sonst eine ärztliche Behandlung ablehnen kann, ein Krankenhaus verlassen kann und in einem Testament sein Recht auf ein menschenwürdiges Sterben verlangen kann, außeracht lassen. Vom „Sachverstand“ Dritter hängt das Erkennen und Anerkennen einer Notlage ab. Die bekannte Praxis führte wiederum dazu, daß den Frauen in Not häufig Un-Recht widerfährt. Hinzu kommt, daß nennenswerte prophylaktische Maßnahmen zur rechtzeitigen und vorbeugenden Beratung bis zu dem Zeitpunkt nicht vorhanden waren und daß sie bis heute unzureichend sind.

Nachdem vor der Gesetzesreform in unserer ärztlichen Frauenberatung 5 Ärzte zur Verfügung standen – l Praktiker, l Kliniker, l Gynäkologe und 2 Sozialmediziner – erforderte die Notlagen-Indikation eine Umstellung des Angebots.
Jetzt können für jede erdenkliche Situation neben 3 Ärzten, die ohnehin die ärztliche Beratung durchführen, für die soziale Beratung zusätzlich Psychologen, Pädagogen, Erzieher, Sozialarbeiter und Juristen herangezogen werden. Unsere ausführliche und präzise Indikationsstellung wird im Gegensatz zu flüchtig unterstrichenen Vordrucken von der beachtlichen Zahl klinisch und ambulant tätiger Gynäkologen, die hilfsbereit mit uns zusammenarbeiten, sehr geschätzt. Sie sehen wie wir in der uns gegenübersitzenden Frau den ungewollt in eine Notlage geratenen Menschen. Eine Modelleinrichtung, wie sie begrüßenswerterweise durch Pro Familia in Bremen eingerichtet wurde, ist bei uns deshalb nach dem derzeitigen Stand nicht vonnöten.

Insgesamt wurden bisher circa 1450 Beratungen durchgeführt. Es handelte sich dabei um 538 Frauen und 87 Männer. Jede Frau wurde mindestens zweimal beraten, viele kamen öfter. 344 Frauen konnten nach dem Abbruch weiter beraten werden, das sind 64 %. Wir lesen daraus ein großes Zutrauen zu der Richtigkeit und Wirksamkeit unserer Beratungen ab.

Diese Frauen führen die oft angeführte These, eine Vielzahl von Frauen sei nach der Abtreibung depressiv und habe Schuldgefühle, ad absurdum. 3 von 344 Frauen äußerten hinterher Zweifel an der Richtigkeit ihres Entschlusses (0,9 %). Nach unserer Meinung können Schuldgefühle durch die Art der Beratung erzeugt werden. Frauen fühlen sich erleichtert und befreit, wenn sie aus ihrer trotz aller erdenklichen Verhütungsmaßnahmen (was ist das allein schon für eine Belastung) unerwünscht eingetretenen Situation wieder heraus sind.

Zum zweitenmal kamen 37, zum drittenmal 2 Frauen zum Abbruch, das sind lediglich 7,2%. Auch hier waren also die Befürchtungen mancher Seiten von 1976 grundlos, die Frauen würden hemmungslos und gesundheitsschädigend die neue Möglichkeit in Anspruch nehmen. Damit entfällt auch die Grundlage für „Abschreckungsmerkblätter“ mancher Ärztekammern. Für Hinweise auf die möglichen Gefahren ist die gesetzlich vorgeschriebene ärztliche Beratung zuständig.

Dagegen gelang es nur bei 7 von 538 Frauen (1,3%), sie zum Austragen der Schwangerschaft zu bewegen und sie davon zu überzeugen, daß eine Abtreibung ihrer psychischen und sozialen Lage nicht angemessen ist.
Das durchschnittliche Alter betrug 26,6 Jahre (von 13 bis 45), davon

 unter 18 Jahre

  37

 18-27 Jahre

274

 28-37 Jahre 

196 

 38-45 Jahre

  31 

 zusammen: 

538

Die durchschnittliche Schwangerschaftswoche lag bei 9,1 und zeigt sich seit 1977 von der 10. auf die 8. Woche rückläufig. – Frauen mit Kindern hatten im Schnitt 2,15 Kinder, das bedeutet auf alle Frauen umgerechnet 1,41 Kinder.
Mit ihrem Partner kamen zur Beratung 119 Frauen (22,2%). – Von den Partnern im Stich gelassen wurden 87 Frauen (16,2%). – 69 Ausländerinnen entsprechen 12,8%. Von allen Frauen waren       

ledig

184

verheiratet 

231= 42,9%

geschieden

  84

getrennt lebend

  31

verwitwet 

   8

zusammen:

538 

Angaben über die Anwendung verschiedener Verhütungsmaßnahmen:
Keine Verhütung wurde nur von 8 Frauen angegeben (größtenteils beim ersten Verkehr) =1,5%.

1 Frau war durch Eileiterkauterisierung „sterilisiert“;
2 Frauen übten Selbstbeobachtung;
6 Frauen wurden bei liegendem IUP (Spirale oder Kupfer-T) schwanger;
24 Frauen übten Coitus interruptus (davon 20 Ausländerinnen);
26 Frauen maßen die Basaltemperatur (zum Teil neben anderen Methoden);
109 Frauen benutzten Kondome (im Wechsel oder neben anderen Methoden);
116 Frauen richteten sich nach dem Kalender (unter anderem);
158 Frauen nahmen die Pille;
253 Frauen hatten sich auf chemische Verhütungsmittel verlassen:
—–

695 (157 Doppelangaben).

110 Frauen wünschten Sterilisation, das sind 20,5% (dazu 21 Männer). Eine zusätzliche medizinische Indikation bestand gleichzeitig bei:

 

143 Frauen = 26,5%

eugenische bei 

  49 Frauen = 9,2%

kriminologische bei 

    2 Frauen = 0,37%

Eine Wandlung ist ebenfalls eingetreten in der Art und Technik der Abbrüche. Bei den 538 Frauen wurden 273 stationäre und 265 ambulante Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt. Dabei stiegen die ambulanten Eingriffe in den dafür zugelassenen Praxiseinrichtungen stetig an.

 

1977

1978

1979 (bis Sept.) 

ambulant

27% 

49%

61%

stationär

73%

51%

39%

Nach den uns zur Verfügung stehenden Informationen ist die Komplikationsrate bei den ambulanten Abbrüchen geringer als bei den stationären. Dies liegt offensichtlich daran, daß der ambulante Eingriff zwischen der 6. bis 10. Woche mit Schwerpunkt in der 8. Woche durchgeführt wird, während stationär mehr Risikofälle von der 8. bis zur 12. Woche anfallen.
Die Absaugmethode setzt sich immer mehr durch und wurde bei den von uns betreuten Frauen im letzten Jahr in 59% aller Fälle durchgeführt.

Auch aus unserer Kenntnis der klinischen Abbrüche bestätigt sich die Mitteilung verschiedener Autoren, daß durch die Legalisierung des Eingriffs die Zahl der prognostisch ungünstigen und kostenträchtigen langwierigen Komplikationen der früheren sogenannten „kriminellen“ Aborte in den Kliniken eklatant zurück gegangen ist. Während die legalen Abbrüche einen stationären Aufenthalt zwischen 3 und 7 Tagen benötigen, lagen die früheren fieberhaften Abort-Personen oft 5 bis 7 Wochen im Krankenhaus. Dieser Faktor hat nicht nur weitreichende prophylaktische und gesundheitspolitische Bedeutung, sondern auch ökonomische.

Schätzungen der Abtreibungszahlen vor der Reform lagen bei Berücksichtigung aller Dunkelwerte weit über den heutigen Abbruchzahlen der Bundesstatistik. Damals wurden Elend, lebenslanges Siechtum und Todesfolgen nicht von denen beklagt, die heute wieder das Rad der Entwicklung zurückdrehen wollen und die damit die Frauen wieder in die Illegalität abdrängen. Sechs Jahre lang mußte in der Phase vor der letzten Verabschiedung der Reform gekämpft werden, um menschlichen Gesichtspunkten gegen arrogante patriarchalische Bevormundung zu einem so geringen Erfolg zu verhelfen. Bei den Schätzungen des Sachverständigen der Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht von 200.000 bis 300.000 illegalen Aborten pro Jahr zeigt die Zahl von 70.000 legalen Notlagen-Indikationen lediglich, wie viele Hindernisse noch dazu beitragen, daß die Zahl nicht über 100.000 steigt. Und solange noch Tausende von Frauen nach Holland fahren müssen, ist die Absicht des Gesetzes, die Eingriffe aus der Illegalität in die Legalität zu verlagern, nicht gelungen. Wer steigende Zahlen der legalen Abbrüche beklagt, verschweigt, daß über doppelt so viele zu erwarten waren und daß sie seit zwei Jahren erstmalig erfaßt werden. Daran gemessen kann es bei zunehmender Aufklärung und Information zum Rückgang der Abtreibungen kommen.

Ebenso wie die mangelhafte Aufklärung zur Familienplanung und zu Verhütungsmaßnahmen nicht nur durch unzureichende Beratungsstellen, sondern auch durch nicht ausreichend informierte Ärzte zu beklagen ist, muß auch bedauert werden, wenn Repräsentanten öffentlicher Ämter inkompetente Verlautbarungen geben und Geburtenrückgang, „Pillenknick“ und Schwangerschaftsabbrüche in einen Topf werfen (von ideologisch begründeter Diffamierung ganz zu schweigen). Alle Kenner der Sachlage wissen, daß primär der fehlende Wunsch nach Kindern bzw. Nachkommenschaft und erst sekundär die entsprechenden Verhinderungsmaßnahmen wirksam wurden.
Ganz andere Einflußnahmen auf die Herstellung einer menschenwürdigen Lebensqualität sind vonnöten, um bei den Menschen den Wunsch nach mehr Kindern hervorzurufen. Mit Zwangsaustragungen nach ungewollten Konzeptionen kann einem Bevölkerungsrückgang nicht begegnet werden, der zudem gegenwärtig sicher keine Katastrophe bedeutet.
Als diskriminierend müssen veröffentlichte Vorschläge aus manchen Beratungen gewertet werden, die Frau solle doch ein Kind, wenn sie es schon nicht selbst haben könne, in ein Heim geben und zur Adoption freigeben. Eine solche inhumane Zumutung degradiert die Frau vollends zur Gebärmaschine. – Alle von uns beratenen 538 Frauen wiesen diesen Gedanken zurück.
Übrigens geben nicht wenige Frauen heute an, daß die Angst vor einer ungewissen Zukunft aus ökologischer Sicht sie hindert, dem Wunsch nach Kindern nachzugeben. Sie fürchten für die kommende Generation eine Zunahme der Umweltverseuchung bei den bekannt mangelhaften Kontrollmöglichkeiten und sie bangen vor dem Risiko der Strahlenverseuchung. Wer kann ihnen solche Angst nehmen?

Es hilft uns nicht weiter, darauf hinzuweisen, daß die von der Humanistischen Union 1970 vertretene Fristenregelung der bessere Weg zur Reform des § 218 gewesen wäre. Am 21.6.76 hat die HU erklärt, daß sie sich gegen alle Versuche wenden werde, die geringen neuen Chancen zur Hilfe für Frauen in Not durch Umgehung und Außerachtlassung der gesetzlichen Regelung zunichte zu machen.
Zur Einhaltung der Gesetze sind nicht nur die Bürger, sondern auch die Behörden und öffentlichen Einrichtungen verpflichtet. Dies gilt in der pluralistischen Gesellschaft auch für große Religionsgemeinschaften, die nach dem Grundgesetz kein Recht haben, auf der allgemeinverbindlichen human-ethischen Basis Prioritätsansprüche für ihre Moralvorstellung zu erheben.
Prof. Dr. Ulrich Klug, der Vorsitzende der Humanistischen Union, wies am 19.5.79 in Lübeck darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht in seinem § 218-Urteil gegen die Fristenregelung im 4. Leitsatz und in der Begründung zum Ausdruck brachte, die Strafverfolgung durch den Staat sei keineswegs unabdingbar. – So scheint sich also als bester Ausweg aus dem Dilemma des umstrittenen und unglücklichen § 218 StGB seine ersatzlose Streichung anzubieten. Als Entscheidungshilfe bliebe dem hilfsbereiten Arzt, der betroffenen Frau und ihrem Partner die schwere Last der eigenen Gewissenserforschung.

Dr. med. Klaus Waterstradt

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