Themen / Lebensweisen / Pluralismus / Tagungsprotokoll: Wege zu einer neuen Psychiatrie

Überle­gungen zur Frage der Übertrag­bar­keit der italie­ni­schen Psych­ia­trie-Re­form auf bundes­deut­sche Verhält­nisse

11. Dezember 1980

Sil Schmid

aus: Wege zu einer neuen Psychiatrie, Protokolle einer Tagung. HU-Schriften 9, München 1980, Seite 22 – 24

Die Frage nach der Übertragbarkeit geht von der Vorstellung eines „Modells“ aus; ein Modell ist aber das Gegenteil dessen, was die italienische Psychiatriereform auszeichnet. Ein Modell ist statisch, abgeschlossen, vollendet; die italienische Psychiatriereform ist dynamisch, Prozeßhaft, demokratisch, d.h. auch widersprüchlich und unvollendet.
Die Frage muss also lauten, ob ein ähnlicher Prozess in der BRD eingeleitet werden könnte. Sie kann nur auf dem Hintergrund der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse beantwortet werden. Dazu ein paar Stichworte bezüglich der italienischen Voraussetzungen:

sozial: Die starken ökonomischen Gegensätze zwischen Nord/Süd und Stadt! Land führten in den letzten 20 Jahren zu inneren Migrationbewegungen und damit zu sozialen Zerfallserscheinungen. Die Irrenhäuser wurden zu Sammelbecken sozial Unangepasster und füllten sich mit Alkoholikern, Querulanten, gestrandeten Existenzen. Krasse Missstände infolge Überfüllung bei gleichzeitigem Geldmangel für ‚kosmetische‘ Reformen führten zu starkem Druck in Richtung struktureller Veränderungen;

sozial-politisch: Im Gegensatz zu anderen westlichen Ländern hat Italien seinen Faschismus bewältigt. Mit diesem Prozess ging eine starke Sensibilisierung für autoritäre, hierarchisch strukturierte Institutionen einher.
Sie hat zu Demokratisierungsprozessen auf allen Ebenen in Stadtvierteln, Parteien, Schule etc. geführt. Die Demontage aller marginalisierenden Institutionen (Alters-, Behinderten-, Schwererziehbarenheime, Sonderklassen) ist Teil der Parteiprogramme aller Linksparteien. Solche Prozesse sind in den meisten linksverwalteten Gemeinden, vorab im roten Bologna, mit spektakulärem Erfolg im Gang.

Die Hälfte der Italiener wählt links, für Parteien, die sich zum Marxismus bekennen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist vom dialektischen Materialismus als Denkmethode geprägt: eine wesentliche Voraussetzung zum Verständnis von Analysen, wie sie Basaglia und seine Mitstreiter in Bezug auf die bürgerliche Psychiatrie vorlegten. So wurde die Psychiatriereform zum Anliegen zahlloser Organisationen, Gewerkschaften, Vereine der Arbeiterbewegung, in vielen Städten sogar zu einer eigentlichen Volksbewegung.

kulturell: Italien ist spät und nur zu einem kleinen Teil von der Industriealisierung erfaßt worden. Damit blieben vorindustrielle Familienstrukturen und -beziehungen erhalten. Summarisch könnte man die These aufstellen: Weniger Entfremdung, besser erhaltenes Gefühl für die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse der Mitmenschen.

Vergleicht man die Voraussetzungen mit den Verhältnissen in der BRD, muß man zu dem Schluß kommen: Die Frage nach der Übertragbarkeit ist zu verneinen. Die Ausgangslage hat in der italienischen Psychiatrie zu einer realen Umstrukturierung, zu einer psychiatrischen Revolution geführt, und dies als Folge des erklärten revolutionären Willens und der entsprechenden Analysen und Handlungen ihrer Exponenten. Die Voraussetzungen zu einem solchen revolutionären Prozeß sind in diesem Land nicht gegeben. Was nicht heißt, daß gewisse italienische Erfahrungen nicht in ein hier in Deutschland mögliches Reformmodell eingebracht werden können. Dazu ein paar Stichworte:

Ohne intensive Kommunikation kein Umdenken.
Intensive Kommunikation heißt aber nicht institutionalisierte, diktierte und geleitete Gruppentherapie, sondern lebendige Austragung aller Konflikte, die jede Umstrukturierung mit sich bringt.

Der institutionelle Rahmen prägt zwangsläufig die darin geleistete Arbeit.
Dezentralisierte, kleine, bevölkerungsnahe, also sozialpsychiatrische Einheiten sind auf  jeden Fall funktionaler als große Anstalten, in denen eine therapeutische Beziehung zwischen
Patient und Arzt oder Patient und Pfleger kaum zustande kommt oder sogar systematisch verhindert wird.

Eine demokratische therapeutische Beziehung setzt die Einsicht voraus, dass in einer solchen
Beziehung beide Partner sich beeinflussen,
dass jeder bereit ist, vom anderen zu lernen und dass ein Heilungsprozess bei beiden Partnern abläuft.

Umstrukturierungen können nicht dekretiert werden,
sondern sind Prozesse, die unter Einschließung aller Beteiligten Patienten, Pfleger, Ärzte eingeleitet werden müssen. Solche Prozesse, falls sie wirklich demokratisch d.h. auf vermehrte Autonomie aller Beteiligten angelegt sind, haben an sich therapeutischen Charakter.

Es gibt viele Möglichkeiten, solche Umstrukturierungen einzuleiten:
Thematisierung des Umgangs mit Psychopharmaka, Hausordnungen gemeinsam regeln, Verantwortungen und Kompetenzen
neu regeln, Öffnungsprozesse geschlossener Abteilungen einleiten. Wichtiges Instrument in jedem Fall: die Vollversammlung, d.h. Versammlungen mit Patienten, Pflegepersonal, Ärzten als gleichberechtigte Diskussionspartner.

Die Liste ließe sich beliebig erweitern.

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