Themen / Innere Sicherheit

Wehret dem „Lausch­an­griff” gegen Wohnungen!

01. Juni 1982

aus: vorgänge Nr. 120 (Heft 6/1982), S. 113/114

1. In einer Entschließung des Deutschen Bundestages vom 4.6.1992 heißt es, daß der Bundestag nach der Sommerpause „Möglichkeit und Notwendigkeit einer verfassungsrechtlich einwandfreien und praxisgerechten Regelung des Einsatzes technischer Mittel” in fremden Wohnungen prüfen wird. Dieses Vorhaben, den „Lauschangriff”, durch eine Verfassungsänderung zu realisieren, wird im Bundestag von der CDU/CSU sowie einigen Liberalen und Sozialdemokraten unterstützt; es gibt allerdings sowohl in der FDP als auch in der SPD erhebliche Widerstände dagegen, die räumliche Privatsphäre des Menschen dem polizeilichen Zugriff auszuliefern.

2. Vorkämpfer der Forderung, angesichts der zunehmenden „Organisierten Kriminalität” dürfe der durch das Grundgesetz geschützte Freiraum der Wohnung „nicht tabu sein”, ist der Präsident des Bundeskriminalamtes Hans-Ludwig Zachert. Er verweist auf den Erfolg von Überwachungsmaßnahmen dieser Art in den Vereinigten Staaten. Der Kampf gegen die Organisierte Kriminalität könne nur bestanden werden, „wenn es gelingt, an die Verantwortlichen im Hintergrund heranzukommen”. Dabei wird verschwiegen, daß vor zehn Jahren die Innenministerkonferenz mit derselben Begründung die Einführung des „verdeckten Ermittlers” als sicheres und notwendiges Mittel zur Verfolgung der organisierten Kriminalität gegen alle Widerstände durchgesetzt hat. Heute bestätigen Polizeiexperten die Auffassung damaliger Kritiker, auf diese Weise sei an die Hintermänner nicht heranzukommen.

3. Im Bereich der Gefahrenabwehr kann die Polizei bereits heute „zur Abwehr einer gemeinen Gefahr” oder „einer Lebensgefahr für einzelne Personen” aufgrund der Polizeigesetze der Länder in besonderen Situationen mit technischen Mitteln auch den elementaren Lebensraum der Wohnung ausforschen. Sieht dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und der Organisierten Kriminalität (OrgKG) in diesem Jahr darf die Polizei unter Einschluß des Bundeskriminalamtes zur Verfolgung schwerer Straftaten (§ 100a StPO) außerhalb der Wohnung das „nichtöffentlich gesprochene Wort mit technischen Mitteln” abhören und aufzeichnen, wenn die „Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre” (§ 100c Abs. l StPO).

4. Eine Befugnis der Polizei, in die Wohnung mit „Wanzen” Richtmikrophonen, Infrarotkameras und Sensoren einzudringen, verändert deren Rolle. Sie erhält damit Befugnisse zum Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, die in diesem Ausmaß sogar den Geheimdiensten der Bundesrepublik verwehrt sind. Höchst zweifelhaft ist, ob solch schwerwiegende Eingriffe wirklich greifen. Die Mafia wird sich schnell darauf einstellen. Gespräche werden im Freien geführt werden oder so, wie Diplomaten es gelernt haben: in abhörsicheren Räumen, gesichert durch Störsender oder einfach bei lauter Musik oder Wasserrauschen. Betroffen sind dagegen nicht nur diejenigen, für die es tatsächliche Anhaltspunkte für Verbrechen nach § l0oa StPO gibt, sondern auch deren Kontaktpersonen: Ehen und Familien, Freund oder Freundin, Lebensgefährte oder Verwandte, Arbeitskollegen, Rechtsanwalt oder Geistlicher, potentiell jeder. Es genügt die Annahme, man könne dadurch den Täter oder seinen Aufenthalt ermitteln.

5. Die gegenwärtigen Entwürfe sehen vor, daß der „Lauschangriff” auf die Wohnung nur durch einen Richter angeordnet werden darf. Ein Richter vermag in solchen Fällen nicht die Balance im Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit zu halten. Ihm ist es verwehrt, die Gegenseite, d.h. den Betroffenen anzuhören; er ist deshalb der Einschätzung der Strafverfolgungsbehörden weitgehend ausgeliefert. Die Erfahrung mit der Telefonüberwachung nach § 100b StPO zeigt, daß Richter solchen Anträgen fast ausnahmslos stattgegeben haben. (Die Zahl dieser Telefonüberwachungen ist von 1 532 im Jahre 1986 auf 2 797 im Jahre 1991 gestiegen.)

6. Der „Lauschangriff” auf die Wohnung als elementaren Lebensraum des Menschen verletzt den Kernbereich der Persönlichkeit und des materiellen Rechtsstaates. Der Kernbereich der freien Entfaltungsmöglichkeit der Persönlichkeit ist Teil der Menschenwürde, die nach Art. 1 Grundgesetz unantastbar ist. Der „Lauschangriff” berührt zugleich die Voraussetzungen der rechtsstaatlichen Demokratie, weil die freie Kommunikation in der räumlichen Privatsphäre der Wohnung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsmöglichkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesens ist. Dem Menschen muß, „um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein ‚Innenraum` verbleiben … in dem er ,sich selbst besitzt` und ,in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird`” (BVerfGE 27,6; 75,328). Zum Verbot des Eindringens in die Wohnung gehören „etwa der Einbau von Abhörgeräten und ihre Benutzung in der Wohnung” (BVerfGE 65,40).

7. Wir appellieren an Bundestag und Bundesrat, nicht wegen eines vermeintlichen Sachzwanges grundlegende Prinzipien unserer Verfassung preiszugeben. Sicherheitspolitik, die fundamentale Freiheitsrechte beseitigt, verändert den demokratischen Verfassungsstaat.

Oktober 1992

Prof. Dr. Erhard Denninger

Prof. Dr. Gerald Grünwald

Prof. Dr. Hans-Peter Schneider

Prof. Dr. Jürgen Seifert

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