Zeit für das Ende der Sicherungsverwahrung
Mitteilungen Nr. 208/209 (1+2/2010), S. 1-3
Die Rechtsprechung überschlägt sich in den letzten Monaten mit Beschlüssen und Urteilen zur Sicherungsverwahrung. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die Sicherungsverwahrung eine Strafe ist und dementsprechend für ihre Anordnung die gleichen strengen Grundsätze gelten müssen wie für die Verhängung einer Freiheitsstrafe.
In Deutschland wird die Sicherungsverwahrung als eine Maßregel der Besserung und Sicherung bezeichnet. Sie soll die Allgemeinheit vor als gefährlich beurteilten Straftätern schützen. Als freiheitsentziehende Maßnahme wird sie zusätzlich zu einer verhängten Freiheitsstrafe angeordnet und regelmäßig im Anschluss an sie vollstreckt. Die Anordnung kann unmittelbar in dem Urteil erfolgen, in dem der Straftäter auch zu Freiheitsstrafe verurteilt wird. Sie kann in diesem Urteil aber auch lediglich vorbehalten werden; die abschließende Entscheidung über die Anordnung wird dann erst zu einem späteren Zeitpunkt getroffen. Zudem besteht – seit 2004 im Erwachsenenstrafrecht und seit 2008 auch im Jugendstrafrecht – die Möglichkeit, die Sicherungsverwahrung nachträglich, also während der Verbüßung der Freiheitsstrafe und ohne vorherige Anordnung im Urteil, zu verhängen.
Mit Blick auf die Menschenrechte und das Grundgesetz sind Fälle besonders problematisch, in denen die Sicherungsverwahrung rückwirkend angeordnet oder verlängert wird. So hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Dezember 2009 über eine Beschwerde zu entscheiden, mit der gerügt wurde, dass die Abschaffung der zehnjährigen Höchstgrenze für die Sicherungsverwahrung im Jahr 1998 sich auch auf zu diesem Zeitpunkt bereits in Sicherungsverwahrung befindliche Personen auswirkte. Für den Beschwerdeführer, der sich seit 1991 in Sicherungsverwahrung befand (zuvor verbüßte er eine fünfjährige Freiheitsstrafe), hieß das, dass er nicht nach zehn Jahren, also im Jahr 2001 entlassen wurde, sondern auf unbestimmte Zeit inhaftiert blieb. Die Straßburger Richter gaben dem Beschwerdeführer Recht. Sie urteilten, dass die für das Strafrecht geltenden besonderen Beschränkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) – wie das Rückwirkungsverbot – auch auf die Sicherungsverwahrung angewendet werden müssen. Der Grund hierfür sei, dass sich die Rechtsfolgen in der Anwendung kaum unterscheiden lassen. Sowohl die Freiheitsstrafe als auch die Sicherungsverwahrung sind Sanktionen, die tief in Grund- und Menschenrechte eingreifen; außerdem werden sie in denselben Haftanstalten vollzogen und dienen zumindest theoretisch der Resozialisierung des Inhaftierten und der Sicherung der Allgemeinheit. Und auch aus Sicht der Gefangenen ist ein Unterschied kaum wahrnehmbar. Darüber hinaus beklagte der EGMR auch den Mangel an besonderen Betreuungs- und Therapieangeboten. Das Urteil wurde am 11. Mai 2010 rechtskräftig.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beurteilte diese Frage im Jahr 2004 noch anders. Es entschied, dass das absolute Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG auf Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht anzuwenden sei. Somit könne eine nachträgliche Gesetzesänderung auch zu Lasten des Verurteilten gehen. Im Gegensatz zur Freiheitsstrafe diene die Sicherungsverwahrung weder der Missbilligung vorwerfbaren Verhaltens noch dem Ausgleich strafrechtlicher Schuld. Nur für diesen Fall sei es jedoch notwendig, dass man sich auf die Rechtsfolgen seines Tuns einstellen könne.
Die unterschiedliche Beurteilung der Frage, ob besondere Beschränkungen für die Sicherungsverwahrung gelten oder nicht, wirkt sich nicht nur auf den Fall der Gesetzesänderung des Jahres 1998 aus. Obwohl vom EGMR nicht unmittelbar entschieden, hat das Urteil auch Gewicht, wenn es um die Beurteilung geht, ob die aktuelle gesetzliche Regelung zur nachträglichen Sicherungsverwahrung mit dem Grundgesetz und der EMRK vereinbar ist. Das ist nach dem Urteil höchst fraglich. Zwar kann man mit dem Bundesverfassungsgericht der Meinung sein, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung nicht um eine Strafe im eigentlichen Sinne handelt. Dennoch ist ihre Eingriffstiefe mit der einer Freiheitsstrafe vergleichbar. Das gilt sowohl für die vom EGMR angesprochene Art und Weise des Vollzuges als auch für den Stempel der Gefährlichkeit, der dem Verurteilten aufgedrückt wird und ähnliche psychische und soziale Folgen mit sich bringt wie das Unwerturteil, das in der Verhängung einer Freiheitsstrafe zu sehen ist. Im Ergebnis bedeutet dies: Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot und das Verbot der Doppelbestrafung kommen zwar nicht unmittelbar zur Anwendung. Zumindest die Unzulässigkeit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ergibt sich aber aus der Garantie der Menschenwürde, dem allgemeinen Vertrauensgrundsatz und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip. Einer Person, die rechtskräftig zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, ist es nicht zuzumuten, bis kurz vor Ende der Verbüßung dieser Strafe im Unklaren darüber zu bleiben, ob sich noch eine zeitlich unbestimmte Sicherungsverwahrung anschließt. Dies gilt umso mehr, wenn eine besondere Gefährlichkeit im Zeitpunkt der Verurteilung nicht festgestellt werden konnte, sich also eine solche Beurteilung erst im Zusammenhang mit dem Strafvollzug ergibt. Der nicht hinreichend auf die Resozialisierung ausgerichtete Strafvollzug in Deutschland darf nicht auf diese Weise zu Lasten des Verurteilten gehen.
Teilweise wird argumentiert, dass die Verhängung der Sicherungsverwahrung am Ende der Haftzeit keine nachträgliche, auf denselben Gegenstand (die Straftat) bezogene Entscheidung sei, sondern vielmehr eine von der Verurteilung zur Freiheitsstrafe unabhängige neuartige Anordnung. Dann käme aber auch eine Verhängung der Sicherungsverwahrung in Betracht, gänzlich ohne zuvor begangene Straftat. Es käme dann nur noch auf die von Gutachtern festgestellte Gefährlichkeit an, um Menschen wegzusperren – ein Szenario, das inhaftierte Menschen endgültig zum bloßen Objekt degradieren würde. Stattdessen geht der EGMR davon aus, dass auch die Sicherungsverwahrung als eine Reaktion auf eine Straftat zu betrachten ist und nicht außer Verhältnis zur Straftat stehen darf, deretwegen sie verhängt wurde. So wird in dem Urteil zur Sicherungsverwahrung ausgeführt, dass sich eine freiheitsentziehende Maßnahme nur dann gem. Art. 5 Abs. 1 a EMRK rechtfertigen lässt, wenn ihre Verhängung eng mit der Feststellung der Schuld verbunden ist.
Die Ausführungen machen deutlich, dass unter Beachtung von EMRK und Grundgesetz das Schutzniveau des Strafrechts auch für die Sicherungsverwahrung gilt, mit der Folge, dass es eine nachträglich verhängte oder verlängerte Sicherungsverwahrung nicht geben darf. Auch die Sicherheit der Allgemeinheit spricht nicht gegen, sondern für eine solche Bewertung. Bei Strafgefangenen, die einer nachträgliche Sicherungsverwahrung unterliegen, werden Vorbereitungen auf die Wiedereingliederung in die Gesellschaft deutlich erschwert. Ist der voraussichtliche Zeitpunkt der Haftentlassung unklar, lassen sich Maßnahmen zur Wiedereingliederung wie Hafturlaub oder offener Vollzug schlecht planen und unterbleiben häufig. Zum anderen erschweren die psychischen Auswirkungen einer ungewissen Zukunft die Bemühungen der Strafgefangenen. In der Folge kann die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls erheblich steigen. Dadurch wird das Ziel eines besseren Schutzes der Allgemeinheit durch die nachträgliche Sicherungsverwahrung letztlich konterkariert.
Abb. 1: Anzahl der Sicherungsverwahrten in Deutschland (nach: Statistisches Bundesamt; Kinzig in NStZ 2010, 233ff.; Wikipedia)
Leider bleibt festzuhalten, dass die obersten deutschen Gerichte der kritischen Bewertung der Sicherungsverwahrung bisher nicht folgen. Sowohl das BVerfG als auch der Bundesgerichtshof (BGH) haben die nachträgliche Sicherungsverwahrung für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Eine Hauptsachenentscheidung des BVerfG zur Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des EGMR steht allerdings noch aus. Der Antrag auf eine einstweilige Anordnung, die die Freilassung eines von der Gesetzesänderung im Jahr 1998 Betroffenen zur Folge gehabt hätte, wurde vom BVerfG abgelehnt. Die durch das Urteil des EGMR aufgeworfenen Rechtsfragen seien im Hauptsacheverfahren zu klären.
Die Brisanz der Diskussion wird noch dadurch erhöht, dass im Koalitionsvertrag eine Harmonisierung der Anordnungsvoraussetzungen für die Sicherungsverwahrung und das Schließen vermeintlich bestehender Schutzlücken vereinbart wurde. Die Koalition sieht sich also immerhin selbst in der Pflicht aktiv zu werden. Und dieser Pflicht muss sie unabhängig von anstehenden Urteilen des BVerfG nachkommen. Es darf in einem demokratischen Rechtstaat nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts sein, staatliche Zwangsmaßnahmen, die derart tief in Grundrechte eingreifen, auf das verfassungsrechtlich gerade noch zulässige Maß zurückzustutzen. Das Bundesjustizministerium (BMJ), dem innerhalb der Regierung die Federführung für einen Gesetzesentwurf zukommt, und der Gesetzgeber sind daher dazu aufgerufen, das Recht der Maßregeln der Besserung und Sicherung grundlegend neu zu gestalten.
Inzwischen wurde ein vom Kabinett beschlossenes Eckpunktepapier des BMJ vorgelegt, das vorsieht, die nachträgliche Sicherungsverwahrung abzuschaffen und die anderen Formen der Sicherungsverwahrung auf schwere Gewalt- und Sexualstraftaten zu beschränken. Zudem wird über den Einsatz einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung für die Zeit nach der Haftentlassung nachgedacht. Inwieweit die sog. elektronische Fußfessel bzw. eine besondere Form der GPS-Ortung aber über die Beruhigung der Bevölkerung hinaus zum Schutz vor zukünftigen strafbaren Handlungen oder zur besseren Eingliederung der Haftentlassenen führen soll, bleibt unklar. Die im Eckpunktepapier vorgesehene Abschaffung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist eine notwendige Reaktion auf die Entscheidung des EGMR. Sie geht aber nicht weit genug. Ziel muss es sein, ein staatliches Reaktionssystem zu entwerfen, das Gesichtspunkte der Schuldangemessenheit, der Verhältnismäßigkeit und eines menschenwürdigen Umgangs mit Straftätern zum Leitbild hat. Das hieße aber, dass nicht nur die nachträgliche Sicherungsverwahrung abzuschaffen ist. Der Staat sollte vielmehr auf das Instrumentarium der Sicherungsverwahrung vollständig verzichten. Denn auch eine im Strafurteil angeordnete oder vorbehaltene Sicherungsverwahrung stellt sich aus Sicht der Betroffenen als zusätzliche, als doppelte Strafe dar. Jede Form der Sicherungsverwahrung bedeutet letztlich ein Wegsperren über die Zeitspanne hinaus, die ein Gericht als schuldangemessene Freiheitsstrafe betrachtet. Dieses zusätzliche Wegsperren begründet sich allein aus einer Gefährlichkeitsprognose, die höchst unsicher ist. Zudem führt die Freiheitsentziehung auf unbestimmte Zeit, wie sie allen Formen der Sicherungsverwahrung zu eigen ist, dazu, dass eine erfolgreiche Wiedereingliederung kaum möglich ist.
Natürlich birgt der Verzicht auf die (u.U. lebenslängliche) Sicherungsverwahrung auch Gefahren. Solche Gefahren jedoch sollte eine offene Gesellschaft aushalten. Würden sich dagegen staatliche Eingriffe nur an vermuteten Risiken orientieren, verdrängten bald Angst und Voreingenommenheiten die rechtstaatlichen Wertmaßstäbe. Die Grenze für einen freiheitsentziehenden staatlichen Eingriff muss dort gezogen werden, wo Menschen, die für ihre Taten verantwortlich sind, dem Grad ihrer Schuld entsprechend die ihnen auferlegte Freiheitsstrafe verbüßt haben.
Die beste Art und Weise, um Gefahren für die Allgemeinheit zu vermeiden, besteht darin, den Strafvollzug während dieser Zeit konsequent so auszugestalten, dass er auf notwendige Therapie, auf Verbesserung der Lebenssituation der Inhaftierten, etwa durch (Aus)Bildung und Betreuungsangebote, und auf Resozialisierung für alle Gefangenen ausgerichtet ist. Trotz gegenteiliger Beteuerungen einiger Politiker gibt es einen solchen Strafvollzug in Deutschland bisher nicht. Freilich ist eine solche Ausgestaltung des Vollzuges teuer. Dennoch ist dies die einzige Möglichkeit, ein notwendiges Maß an Sicherheit und rechtsstaatliche Grundsätze gleichermaßen zu bewahren.
Jens Puschke
ist Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union
Sicherungsverwahrung in Deutschland – die Etappen ihrer Ausweitung
28.8.2002 Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung [Einführung § 66a StGB – Vorbehalt der SV und § 275a StPO – Verfahren zur vorbehaltenen Entscheidung]
Wenn die materiellen Voraussetzungen für eine Anordnung der SV zum Zeitpunkt des Urteils vorliegen, aber das Gericht nicht hinreichend sicher bestimmen kann, ob ein ,,Hang zu erheblichen Straftaten“ gem. § 66 (1) StGB besteht, kann im Strafurteil eine spätere Anordnung der Verwahrung vorbehalten werden. Die Entscheidung trifft dann die Strafvollstreckungskammer, spätestens 6 Monate vor dem möglichen Termin einer vorzeitigen Haftentlassung (2/3 Strafzeit). Das Gericht muss Gutachter zur Beurteilung der Gefährlichkeit hinzuziehen.
24.7.2004 Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung [Einführung § 66b StGB – nachträgliche SV, Anpassung § 275a StPO]
Werden nach einer Verurteilung Tatsachen bekannt (etwa durch das Verhalten im Strafvollzug), die auf eine erhebliche Gefährdung der Allgemeinheit schließen lassen, kann die Sicherungsverwahrung auch nachträglich angeordnet werden (ohne dass sie im Urteil vorbehalten war). Die nachträgliche SV ist möglich bei Straftaten gegen Leib, Leben oder die sexuelle Selbstbestimmung bzw. bei Freiheitsstrafen von mind. 5 Jahren.
8.7.2008 Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht [Änderung § 7 JGG]
Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch im Jugendstrafrecht möglich bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mind. 7 Jahren und Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung. Für die Anordnung gelten die Bestimmungen bei Erwachsenen, lediglich die gerichtliche Prüffrist auf Fortsetzung der SV wurde auf 1 Jahr verkürzt.