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Zu: "Mögliche Ursachen von Jugend­ge­walt - eine geschlechts­s­pe­zi­fi­sche Betrachtung" von Steve Schreiber

01. Juni 2000

Mitteilung Nr. 170, S. 45

Erfreulich, daß von männlicher Seite hier einmal der „gesellschafts-strukturelle Hintergrund“ als relevant für die Problematik der Jugendgewalt gesehen wird. Ich möchte dazu einige ergänzende und etwas anders ansetzende Thesen vorstellen.

1. Männlichkeit und Weiblichkeit als soziale Konstrukte sind nur in ihrer aufeinander bezogenen Gegensätzlichkeit, in ihrem asymetrischen Verhältnis zu analysieren; sie haben sich als für die Strukturen unseres Gesellschaftssystems funktionale Konzepte bewährt und müssen als solche erkannt werden.

Die von Steve Schreiber beobachtete „einseitige Aufhebung der Geschlechterrollen“ – zumindest die Tendenz dazu in einigen gesellschaftlichen Bereichen – ist ein Beleg für die immer noch und wieder verstärkt gültige männerherrschaftliche Struktur der Staatsgesellschaften mit den unterschiedlichsten Formen der Widerständigkeit gegen Frauenbewegung und Feminismustheorien.

2. Ursprung und Grundlage aller patriarchalen Vergesellschaftungs-prozesse ist die Unterwerfung der Frauen zur Kontrolle ihrer Sexualität und Reproduktionstätigkeit. Erwerb und Stabilisierung der Herrschaft über eine soziale Gruppe können nur durch physische, psychische und geistige Gewalt sowie durch Täuschung (Manipulation) gewährleistet werden.

Männlich kollektive Wahrnehmung von ‚Frau und Natur‘, ihre Deutung aus andorzentrischer Perspektive schlagen sich in den Symbolsys-temen (Sprache, Mythos, Wissenschaft) nieder, die Weiblichkeit als ’natürlich‘ darstellen. Männlichkeit dagegen als ‚Kultur‘-Leistung konnte sich erst aus diesem Hintergrund ‚Frau = Natur‘ profilieren.

3. Das Konzept des Mannes als des allgemeinen Menschen und politisch handelnden Subjekts findet seine Entsprechung im Konzept der Polis, des ‚Staates‘, als einer männlich kollektiven Identität.

Der bürgergesellschaftliche Nationalstaat der Moderne, in der Folge von Humanismus und Aufklärung, konstituiert sich über Gewalt implizierende Schließungen: Nach außen Kriegs-Gewalt gegenüber den Fremden; nach innen Straf-Gewalt gegenüber dem ungehor-samen Gesetzesbrecher. Durch die Ehegesetzgebung erfolgt die Ausschließung der Frau aus dem Öffentlich-Politischen und ihre Verweisung in den Bereich des Privaten. Das Modell des Sozialvertrags, das dem Bürger Schutz der persönlichen Rechte, besonders des Privateigentums, einschließlich der Frau als Besitz, hat den verschwiegenen ‚Geschlechtervertrag‘ zur Voraussetzung. Und dieser beinhaltet, auf eine Formel gebracht: Männerarbeit ist öffentlich und von ideel hohem Wert, daher auch materiell vergolten; Frauenarbeit fällt nicht unter den ökonomischen Arbeits-Begriff, hat daher keinen oder niedrigen Wert, ist ’natürlich‘ (und) umsonst!

Diese Strukturvorgaben bestimmen auch noch unsere ‚postmo-dernen‘ Gesellschaften, in denen anscheinend der Gleichheits-feminismus nicht nur über den Differenzfeminismus, sondern auch über die feministisch kritische Gendertheorie obsiegt hat.

4. Die Vereinnahmung emanzipatorischer Ziele von sozialen Bewegungen durch Regierende und/oder Entscheidungsträger auf verschiedenen Ebenen sind ein wesentliches Element systemischer Selbsterhaltung.

Die „einseitige Aufhebung der Geschlechterrollen“ sehe ich als einen Beleg dafür, daß immer noch der Mann als der ‚allgmeine Mensch‘ und männlicher Habitus als Norm gelten. Die Frau darf sich – allerdings unter Beibehaltung weiblicher Ästhetik – dort an das patriarchal hierarchische System anpassen, wo sie seine Strukturen nicht verletzt. Sie klinkt sich also ein in das vielschichtige Beziehungssystem von Herrschaft und Konkurrenzkampf, von Gewaltbereitschaft einschließlich „Gefühlsnegierung“, von Dominanz- und Gewinnstreben. Der Selbsterhaltungsmechanismus dieses Gewaltsystems offenbart sich just an der Integration von Frauen, die – kollektiv wie individuell – bisher Männern vorbehaltene Verhaltensweisen und Aufgaben übernehmen: Sie müssen nur (und dürfen auch mittlerweile) die ‚besseren‘ Männer sein, wenn sie Außenministerin, Ministerpräsidentin, Parteivorsitzende werden oder auch ’nur‘ den Dienst mit der Waffe‘ leisten wollen.

Welches Emanzi­pa­ti­ons­ver­ständnis liegt hier vor?

Gerade das EuGH-Urteil zur Öffnung der Bundeswehr für Frauen belegt den trickreichen Mißbrauch des emanzipatorischen Elements im Gleichheitsfeminismus: Auf der Seite der Frauen legt er die unkritische Anpassung an ‚Männlichkeit‘ offen, dem ‚Männerbund‘ auf der anderen Seite verschafft er das Image progressiver Frauenfreundlichkeit.

So bleiben gerade die Strukturen, deren allmähliche Veränderung die kritisch feministische Gendertheorie impliziert und die pazifistisch feministische Frauenbewegung anstrebt, erhalten, ja, sie werden gar verstärkt. Denn gerade die Zulassung der Frau zu der ‚männlichsten‘ aller Organisationen, dem Militär, zeigt, daß die Legalität und Legitimität der Gewalt im Gewaltmonopol des Staates eine ‚Kultur der Gewalt‘ (Johann Galtung) geschaffen hat.

Jungen Menschen wird also eine widersprüchliche und verwirrende Wertung von Gewalt vermittelt: Militär, Justiz und Polizei üben staatlich legitimierte kollektive Gewalt aus = gute Gewalt! Individuelle von Einzelnen oder Bürgergruppen ausgeübte Gewalt ist gegen das Gesetz = böse Gewalt!

Wenn nun in der Jugendarbeit auf diese systemimmanente Gewalt zunächst und unter anderem mit Schutzräumen für Mädchen reagiert wird, so ist das m.E. der Befreiung der Jungen aus ihrer männlichen Geschlechterrolle nicht abträglich. Ich halte es für richtig und wichtig, daß Mädchen und Frauen in ‚Schutzräumen‘ Gelegenheit gegeben wird, zu einem autonomen Selbstverständnis als vollwertige Menschen zu gelangen. Mit kompetenter Anleitung, versteht sich, kann ihnen bewußt werden, daß die Abwesenheit des anderen Geschlechts sie einerseits vom Konkurrenzdruck: Es den Männern gleichmachen zu müssen – und andererseits vom Differenzzwang: Sich dem patriarchalen Frauenbild anzupassen, befreit.

Wenn Sie, lieber Namensvetter, hier ein Defizit sehen, packen Sie mit anderen zusammen ‚das Problem an der Wurzel‘: Bilden Sie Jungen- und Männergruppen, hinterfragen Sie miteinander Ihr Männerbild! Um dann im Wechsel gemeinsam mit Mädchen- bzw. Frauengruppen die geschlechtsspezifische Sozialisation und ihre Funktionen in unserer Gesellschaft im ‚Gendertraining‘ anzugehen und vielleicht zu überwinden. Jedes Geschlecht sollte in Unabhängigkeit vom andern zu einem Selbstverständnis gelangen, sollte lernen, sich nicht über das andere positiv oder negativ zu definieren und sich auch nicht als komplementäre Ergänzung zu verstehen. Beide sollten ein autonomes Selbstbewußtsein entwickeln. Vielleicht bleibt dann wirklich nur ‚der kleine Unterschied‘ und die gegenseitige Anerkennung – ohne wechselseitige Verteufelung, aber auch ohne Vergötterung des ’schönen‘ oder des ’starken‘ Geschlechts.

Mechthild Schreiber, Diplomsoziologin

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