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Versamm­lungs­frei­heit versus polizei­liche Kontroll- und Überwa­chungs­pra­xis*

Vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 46-60.

Die in Artikel 8 Absatz 1 Grundgesetz garantierte Versammlungsfreiheit ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Kernelement der öffentlichen Meinungsbildung und der politischen Partizipation. Dennoch stehen Versammlungen immer wieder im Fokus polizeilicher Überwachung. Die Teilnehmer_innen werden häufig durch polizeiliche Maßnahmen eingeschränkt und dadurch in ihrer freien Willensäußerung behindert. Die Autoren stellen diese widersprüchliche polizeiliche Praxis u.a. anhand von empirischem Material aus dem Forschungsprojekt „ViDemo“ dar. Sie gelangen zu dem Schluss, dass einige polizeiliche Überwachungsbefugnisse im Rahmen eines grundrechtsfreundlichen Versammlungsrechts abgeschafft werden sollten und die bestehende polizeiliche Kontroll- und Überwachungspraxis eines systematischen und kontinuierlichen Monitorings bedarf.

Versamm­lungs­frei­heit und polizei­liche Kontrolle – ein Widerspruch in sich?

Versammlungsfreiheit und polizeiliche Überwachung bzw. Kontrolle von Demonstrationen stehen immer wieder in einem deutlichen Spannungsverhältnis. Ungeregelte und mehr oder weniger spontane Willensäußerungen auf der einen Seite stehen gegen die Durchsetzung staatlicher Ordnungsansprüche auf der anderen. Offenkundig wurde dies in den letzten Jahren immer wieder in der Rechtsprechung zu polizeilichen Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen („Videoüberwachung“).1 Auch neuere Entscheidungen zu den Grenzen eines polizeilichen Anwesenheitsrechts in Versammlungen2 gehen in diese Richtung und hinterfragen eine aus Sicht vieler Betroffener alltägliche polizeiliche Überwachungs- und Kontrollpraxis.
Zwar hat die (zunächst nur west-)deutsche Polizei seit der so genannten Brokdorf-Entscheidung des BVerfG3 von 1985 den verfassungsrechtlichen Rang der Versammlungsfreiheit und deren Auswirkungen auf die Auslegung des Versammlungsgesetzes von 1953 (VersG) beziehungsweise der Landesversammlungsgesetze durchaus anerkannt (vgl. Dübbers 2015: 31 f.) und bekennt sich als Organisation zur Versammlungsfreiheit unabhängig von deren Inhalten.4 Nicht selten jedoch machen Teilnehmer_innen insbesondere politischer Versammlungen aus dem politisch linken wie auch aus dem rechten Spektrum die Erfahrung, dass ihre Versammlungen durch Vorkontrollen und ein Großaufgebot an Polizei während der Versammlung wie auch zum Teil extensive Videoüberwachung geprägt sind und somit beeinträchtigt werden. Dort wo Verwaltungsgerichte dieser Überwachung Grenzen im Sinne des verfassungsrechtlichen Schutzes nicht nur der Versammlungsfreiheit, sondern auch des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gezogen haben,5 werden rechtliche Begrenzungen von der Polizei mehr oder weniger hingenommen und umgesetzt. Es ist aber auch festzustellen, dass das Nichtvorliegen einer Gerichtsentscheidung im eigenen Bundesland dazu führen kann, das Beschränkungen der polizeilichen Arbeit im Lichte der Versammlungsfreiheit weiter ignoriert6 oder „kreativ“ umgangen werden, so zum Beispiel im Falle von Videoüberwachung durch das nicht volle Ausfahren von Mastkameras oder deren Wegdrehen bzw. die Ausrichtung auf den Boden.7 Wo ein Ignorieren gerichtlicher Maßgaben nicht länger möglich erscheint, wird seitens der Innenbehörden und der Polizei auf Gesetzesänderungen bspw. zugunsten der Zulässigkeit polizeilicher Bild- und Tonaufnahmen gedrängt; besonders offenkundig wurde dies im Fall des Berliner Gesetzes über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton bei Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen vom 23. April 2013.8
Wir werden im Folgenden die rechtlichen Rahmenbedingungen umreißen, die das Spannungsfeld von Versammlungsfreiheit und polizeilichen Eingriffsbefugnissen charakterisieren und dabei auch kurz auf Veränderungen eingehen, die sich durch die neue Ländergesetzgebung ergeben, welche die Föderalismusreform ausgelöst hat. Dieser Blick in Recht und Rechtsprechung soll mit exemplarischen Blicken in die Polizeipraxis konfrontiert werden, um Kontingenzen polizeilichen Handelns aufzuzeigen und die Frage zu vertiefen, welche Wechselwirkungen polizeiliche Kontroll- und Überwachungspraxis einerseits und Versammlungsfreiheit andererseits eingehen.
An dieser Stelle bedürfen die im Konfliktverhältnis mit der Versammlungsfreiheit analysierten drei Begriffe Überwachung, Kontrolle und Polizeipraxis einer Erläuterung. „Überwachung“ soll hier das Erheben, Speichern und Nutzen (Auswerten, Verknüpfen usw.) von Informationen bezeichnen. Während der nah verwandte Begriff der „Kontrolle“ zwar nicht ohne Aspekte von Überwachung auskommt, fokussiert er aber die aktive Anwendung der Erkenntnisse zur Beeinflussung oder Steuerung. Entsprechend dieser Unterscheidung ist für ein umfassendes Verständnis (rechtlicher, technischer usw.) Arrangements von Überwachung und Kontrolle die Analyse ihrer tatsächlichen Anwendung und Umsetzung, sprich: der Praxis unumgänglich (Zurawski 2011). Dieser Fokus auf die Polizeipraxis ist auch im Kontext juristischer Bewertungen von Bedeutung, denn Überwachungskritik, die sich fast zwangsläufig den „imaginären Energien“ (Kammerer 2008a: 345 ff.) von Überwachung/Kontrolle widmet, tritt häufig als Analyse von Potenzialitäten auf (Daphi et al. 2013). Er ist auch prägend für die freiheitsbetonende Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts9 welche v.a. die mögliche Abschreckungswirkung von Überwachung thematisiert. Dieser prospektive und spekulative Kritikmodus ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht recht eng gefasst. In der Analyse von de facto bestehenden Überwachungs- und Kontrollpraxen findet diese Potenzialanalyse also eine notwendige Ergänzung.
Dazu greifen wir exemplarisch auf empirisches Material zurück, darunter Feldbeobachtungen auf Versammlungen, Gruppendiskussionen mit Polizeibeamt_innen und Demonstrierenden sowie Expert_innengespräche, die überwiegend aus dem laufenden Forschungsprojekt „ViDemo“ stammen und mit entsprechenden Einzelnachweisen gekennzeichnet sind.10
Verfassungsrechtliche Garantie der Versammlungsfreiheit
Art. 8 GG schützt nach Auffassung des BVerfG im so genannten Brokdorf-Urteil11 die Versammlungsfreiheit gleichsam als Urelement der Meinungsbildung und politischen Partizipation. Das Gericht sieht diese als konstitutives Element gerade auch der heutigen Demokratie. Versammlungsfreiheit im Sinne des Art. 8 GG ist nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG die verfassungsrechtliche Zusicherung der ungehinderten örtlichen Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung, eine Beschränkung auf politische Themen ist hierbei nicht intendiert.12 Eine Beschränkung durch Gesetz, insbesondere das VersG des Bundes, die Versammlungsgesetze der Länder oder andere Gesetze ist nur zulässig, soweit diese mit den verfassungsrechtlichen Garantien und den in der Verfassung angelegten Begrenzungsmöglichkeiten nach Art. 8 GG vereinbar ist. Beschränkungen der Versammlungsfreiheit durch die Polizei – wozu auch Maßnahmen ohne direktes Einschreiten bspw. durch Verbot, Auflagen oder Beschlagnahmen von Transparenten und anderen Gegenständen gehören können – sind mithin nur zulässig, soweit diese ausdrücklich durch Gesetz erlaubt sind und wenn und soweit dieses Gesetz mit der Verfassung vereinbar ist. Für das restriktive VersG von 1953 ist eine Bejahung der Verfassungsmäßigkeit allerdings nur mit erheblichen Einschränkungen und rechtlichen Auslegungskünsten möglich, wie schon das Brokdorf-Urteil des BVerfG belegt. Dennoch haben die meisten Landesgesetzgeber ihre seit 2006 neu begründete Gesetzgebungskompetenz in diesem Bereich bisher nicht oder zumindest kaum „freiheitserweiternd“ genutzt (Koll 2015: 397 ff.). Stattdessen gab es verschiedene, teils erfolgreiche Versuche der Ausweitung behördlicher Befugnisse.13 Bayern indes scheiterte mit seinem Versuch einer drastischen Einschränkung der Versammlungsfreiheit in vielen Punkten vor dem BVerfG.14
Unterhalb des Versammlungsrechts gibt es weitere Regelungen, welche die polizeiliche Praxis regulieren, u.a. auf der Ebene ministerieller oder polizeilicher Erlasse. Diese stellen indes nur „Binnenrecht“ dar und können daher Bürger_innen nicht verpflichten oder polizeiliche Grundrechtseingriffe legitimieren. Solche Erlasse verpflichten beispielsweise in einigen Bundesländern (Berlin, Niedersachsen) Polizist_innen Videokameras, die gerade nicht aufzeichnen, erkennbar nach unten zu halten. Dass gegenteiliges Verhalten häufig zu beobachten ist (auch bei mehreren Demonstrationsbeobachtungen im ViDemo-Projekt), macht deutlich, dass zwischen Recht, Organisationskultur und entsprechenden Leitlinien sowie polizeilicher Alltagspraxis nicht selten keine Konkordanz herrscht. Welche Versprechungen des Rechts werden also in der Realität eingelöst?
Realitäten polizeilicher Beschränkungen und Überwachung bei Versammlungen
Trotz eines im Grunde versammlungsfreundlichen verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen Befundes ist die Versammlungsfreiheit immer wieder erheblichen Beschränkungen durch polizeiliche Maßnahmen unterworfen und fühlen sich Menschen durch polizeiliche Maßnahmen eingeschränkt, eingeschüchtert oder in ihrer freien Willenskundgabe behindert (Ullrich 2012: 40 ff.). Vermeintlicher oder tatsächlicher Dissens der Demonstrierenden gegenüber dem Staat oder Mehrheitsauffassungen ist offenbar nicht selten bereits hinreichender Anlass für versammlungsbehördlichen/polizeilichen „Argwohn“ und Eingriffsmaßnahmen, wie ein Nichtannahmebeschluss des BVerfG aus dem April 2015 (1 BvR 3279/14) eindrücklich unterstreicht: „Insbesondere begründen eine feindliche Positionierung der Versammlungsteilnehmer gegenüber dem deutschen Staat und die Tatsache, dass diese die Polizei als Exekutive und Repräsentant staatlicher Macht in besonderem Maße als Übel ansehen, ebenso wenig einen tragfähigen Gesichtspunkt für die Prognose einer drohenden Gewalttätigkeit der Versammlung, wie die zu erwartende Teilnahme einer erheblichen Zahl von Angehörigen der linksautonomen Szene.“
Den Hintergrund dieses gerichtlichen Aufrufs zur Zurückhaltung an die Polizei klärt ein Blick in deren Praxis und die diese strukturierenden Deutungen des Protestgeschehens auf. Dazu gehört nicht nur die Einschätzung von regelmäßigen Demonstrationsbeobachter_innen und den beiden Verfassern, dass Demonstrationen mit hoch dissidentem oder antagonistischem Charakter verstärkter Kontrolle unterliegen (vgl. a. Fernandez 2008: 8). Auch die in „ViDemo“ befragten Polizist_innen machen deutlich, dass inhaltlich-politische Bewertungen gelegentlich in die Gefahrenabschätzung eingehen. Den Schwerpunkt in den Darstellungen entsprechender Anhaltspunkte, die Umfang und Strategie der polizeilichen Demonstrationskontrolle beeinflussen, bilden zwar zulässige Faktoren wie die Größe der Versammlung und vor allem eine – zumindest teilweise objektivierbare – Gewaltantizipation (gewalttätige Vorerfahrung bei bestimmten Anmeldern; öffentliche Ankündigung von Militanz, aggressives Auftreten eines „Schwarzen Blocks“ etc.). Aber auch bestimmte politische Spektren und Themen werden als Indikatoren aufgeführt. Mit Problemerwartung seitens der Polizei belegt sind einerseits die klassischen extremismustheoretisch begründeten Bereiche der Tätigkeit des Verfassungsschutzes und des Staatsschutzes („links“, „rechts“, „Islamismus“)15 und deren potenziell konfrontatives Zusammentreffen (Demonstration und Gegendemonstration), die in sehr vielen Interviews thematisiert werden. Andererseits können auch antagonistische sozialpolitische Themen wie „Arbeitskampf“ aus polizeilicher Sicht schon Gefahr signalisieren:

„Int:   Was sind denn so die Themen, … wo man quasi vorsichtig wird oder ich weiß nicht, wie Sie’s unterteilen würden.

P:   Das sind jetzt die Erfahrungen, die wir als Polizei haben, was die Aufgaben aus dem Artikel acht im Versammlungsgesetz ja geben, … okay, welche von diesen Versammlungen oder ähnlichem würden entsprechend, sage ich mal, Fragen der Absicherung und des Schutzes was Besonderes bedürfen. Und da sind natürlich bestimmte Gebiete natürlich ganz klar. Das sind dann diese politischen Versammlungen, insbesondere, wenn’s um rechts-links geht, ist keine Frage, aber auch andere, die tendenziell irgendwo in Richtung, sagen wir, Arbeitskampf gehen oder wo es um gesellschaftliche Themen geht, wo man aus der Erfahrung heraus sagt, dort müsste man entsprechenden Schutz bieten, beziehungsweise da gibt’s Gegenreaktionen, das Klientel entsprechend ist so aufgebracht, dass dritte unzumutbar behindert werden, beziehungsweise auch das anders Denkende, die möglicherweise, sage ich mal, sich dran beteiligen, sagen wir mal, Angriffe erleiden et cetera.“ (006_GD, Abteilungsführer in eine Landesbereitschaftspolizei, Hervorh. d.A.)
Diesem Schema „politischer“ Gefahrenprognosen entspricht eine weitere Schilderung über eine Demonstration von Studierenden, die nach Einschätzung desselben Interviewten „eigentlich vom Grundanliegen erst mal, da ging es um diese Studiengebühren, vom Grundanliegen überhaupt keine Gefahr dargestellt“ habe (ebd., Hervorh. d.A.). Die hier dargestellten Fälle verbleiben auf eine polizeispezifische Art im legalen Rahmen, indem die politische Einordnung als – rechtlich, wie oben gezeigt durchaus zweifelhafter – Anhaltspunkt verstanden wird, der aus Polizeisicht auf drohenden Konflikt oder Gewalt hindeutet (und damit möglicherweise durch die massive Polizeipräsenz erst zu deren Entstehung beiträgt).
Anders gelagert sind die Fälle, in denen ohne erkennbaren Gefahrenbezug direkte Distanz oder Abneigung gegen bestimmte Meinungen signalisiert wird, wie im folgenden Interview mit einem Beamten, der über Jahrzehnte in leitender Funktion Demonstrationen polizeilich begleitet hat. Zur Loveparade und dem 2015 in Berlin stattgefundenem „Zug der Liebe“ meint der Befragte:
„Mit Politik hat das doch nichts mehr zu tun“ (041_FP). Mit Bezug auf den alternativ geprägten Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg, von dem vielfältige politische Aktivitäten ausgehen, äußert er abschätzig: „die machen irgendwelche Veranstaltungen zu Frauen-Lesben-Lycra – da fehlt mir wirklich jedes Verständnis“ (041_FP).
Als Gegenstück zu den ‚gefährlichen‘ und daher von den Handelnden abgelehnten Demonstrierenden finden sich in vielen Interviews und Gruppendiskussionen Angabe zu politischen Gruppen und Anliegen, die im Wissenssystem der Befragten keine Gefahr darstellen. In diesem Zusammenhang genannt werden beispielsweise Bauern-/Agrarthemen, Studierendenthemen und immer wieder Gewerkschaftsdemonstrationen.
Selbstverständlich kann kein einfacher kausaler Zusammenhang zwischen solchen Einschätzungen und dem Charakter polizeilichen Handelns postuliert werden.16 Die Verbindung konkretisiert sich aber, wenn entsprechende Erwartungshaltungen in Ausrüstung, Auftreten und operative Klassifikationen übersetzt werden. So erfolgen die Einordnungen von Demonstrationen teilweise noch auf Basis unterkomplexer Ampel-Systeme wie auch im Fußball-Policing, wie ein interviewter Angehöriger der Bundespolizei zu Protokoll gab (grün = friedlich, gelb = u.U. gewaltbereit, rot = „Schwarzer Block – nur auf gewalttätige Auseinandersetzungen aus“, 002_INT).
Drohen nach Ansicht der Versammlungsbehörde oder der Polizei (erhebliche) Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung, greift diese im Vorfeld von Versammlungen zu beschränkenden Auflagen oder einem Verbot der gesamten Versammlung (vgl. § 15 VersG). Diese Maßnahmen stellen ‚klassische‘ unmittelbare staatliche Eingriffe in die Versammlungsfreiheit dar. Die immer wieder gerichtlich beanstandeten Auflagen17 richten sich bspw. auf Beschränkungen zum Inhalt von Transparenten, der Länge von Transparentstangen, der Ordnerzahlen, die Dauer, den Ort und die Route einer Versammlung usw.). Hat die Versammlung bereits begonnen, kommt grundsätzlich auch deren Auflösung in Betracht. Vorrang in der behördlichen Praxis haben heute indes insbesondere bei Versammlungen aus dem linken oder rechten Spektrum massive Auflagen als unmittelbare Beschränkungen der Art und Weise der Durchführung sowie zum Teil auch zu Ort und Zeit. Grund hierfür ist, dass die rechtlichen Hürden insbesondere für Verbote wie auch für die Auflösung von Versammlungen durch die Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten verbreitet recht hoch angesetzt wurden,18 weshalb es in Folge und als Umgehungsstrategie immer wieder bspw. zu ausgesprochen massiven Beschränkungen wie dem stundenlangen Festsetzen von Bussen bei der Anreise oder einer Einkesselung vor Ort sowie massiven Durchsuchungen kommt (Kretschmann 2014; Steven & Narr 2014; Stolle & Voigt 2014).19
Ein Element mittelbarer polizeilicher Kontrolle stellt die in der Regel nicht erkennbare Anwesenheit von Polizeibeamt_innen in der Versammlung selbst wie ggf. bereits bei deren Vorbereitung dar. Wer befürchten muss, dass andere Aktivist_innen der Polizei angehören, ist nicht einmal im vermeintlich geschützten Rahmen Gleichgesinnter vor Überwachung sicher. Solche polizeilichen Aktivitäten müssen daher aus rechtlicher Sicht als eingriffsintensive Maßnahme angesehen werden. Dies gilt vor allem wegen der mangelnden Erkennbarkeit für die Teilnehmer_innen, was diese bereits in der Vorbereitungsphase einer Versammlung wie auch in deren Verlauf erheblich einschüchtern kann und damit die Versammlungsfreiheit negativ berührt. Zwar legt § 12 VersG (nach § 18 Abs. 1 VersG auch unter freiem Himmel anwendbar) fest, dass sich die in der Versammlung anwesenden Polizeibeamt_innen dem Veranstalter zu erkennen geben müssen; ein Anwesenheitsrecht kann hieraus indes nicht abgeleitet werden und die polizeiliche Praxis hierzu kann schwerlich mit Art. 8 GG ein Einklang gebracht werden.20 Denn das Sich-Zu-Erkennen-Geben gegenüber dem Veranstalter kann das Problem des Grundrechtseingriffs und der Einschüchterung gegenüber den Teilnehmer_innen nicht beseitigen.
Sieht man Versammlungen nicht als potentielle Gefahr – was indes noch immer unterliegendes Verständnis des Versammlungsrechts ist21 und sich in der Polizeipraxis zum Teil noch immer in Begriffen wie „Gegner“, „Gegnerseite“, „Gegenseite“22 usw. ausdrückt – kann es ein „Anwesenheitsrecht“ der Polizei nur dann geben, wenn eine Versammlung im konkreten Einzelfall nach den Maßstäben des Versammlungsrechts (z.B. §§ 15, 13 VersG) verbots- respektive auflösungsfähig wäre. Nur dann könnte es als Alternative zum Verbot zulässig sein, dass die Polizei selbst in der Versammlung anwesend ist, um potentielle Straftäter_innen zu verunsichern und einem Konformitätsdruck auszusetzen.
Eine weitere Möglichkeit, die nach Berichten in einer Gruppendiskussion in der Polizeipraxis genutzt wird, um die rechtlichen Grenzen im eigenen Interesse zu verschieben, sind zur „Aufklärung“ eingesetzte zivil gekleidete Beamt_innen, die sich nicht im eigentlichen Demonstrationszug aufhalten, sondern im Umfeld Informationen sammeln sollen. Die sehr oft undeutliche Grenze der Demonstration ermöglicht ihnen so ein flexibles Agieren in einer räumlichen wie auch rechtlichen Grauzone. Eine gesonderte Problematik – und einen noch tieferen Eingriff – stellen verdeckte Ermittler dar, die weit über das Versammlungsgeschehen hinaus, aber im Rahmen ihres Einsatzes auch bei Demonstrationen, unerkannt agieren und nach verschiedenen Berichten von Betroffenen bei in den letzten Jahren publik gewordenen spektakulären Fällen durchaus auch radikalisierend und somit funktional als agents provocateurs agieren können.23
Die Überwachung durch die erkennbare und nicht selten massive Anwesenheit von Polizei außerhalb der Versammlungen stellt ein weiteres Instrument der mittelbaren Kontrolle dar, weil hier die Teilnehmer_innen die (mögliche) Überwachung durch die Polizei „vor Augen“ haben und deren mögliches Einschreiten jederzeit gewärtigen müssen. Bereits eine bloße, aber massive Polizeipräsenz wird daher heute überwiegend als Eingriff in das Versammlungsgrundrecht gesehen.24
Neben der Anwesenheit von Polizei findet die mittelbare polizeiliche Kontrolle ihr ‚prominentestes‘ Mittel in Videoaufnahmen und -aufzeichnungen bei Versammlungen (Ullrich 2014). Bild- und Tonaufzeichnungen, seit 1989 im VersG geregelt, aber schon viel länger Teil polizeilicher Praxis,25 gehen dabei in der Intensität des Grundrechtseingriffs wegen ihrer Speicherbarkeit deutlich über eine ‚bloße‘ Beobachtung durch Polizist_innen hinaus.26 Es wird die Teilnahme an einer Versammlung und das Verhalten dort wie ggf. auch die Inhalte der Meinungskundgabe und die (Binnen-)Kommunikation nicht nur staatlicherseits erfasst, sondern auch beliebig reproduzierbar gespeichert und damit einer späteren Auswertung (z.B. Identifizierung durch Bilderkennung und Abgleiche) und Nutzung (z.B. Anlegung von Bilddateien; Gefährderansprachen als Anschlussmaßnahme) zugänglich gemacht.
Für so genannte Übersichtsaufnahmen (Bildübertragung ohne Speicherung) von Versammlungen hat die Rechtsprechung27 auf breiter Linie (erst) seit Beginn dieses Jahrzehnts akzeptiert, dass diese ebenso einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellen wie ‚gezielte‘ Aufnahmen, weil die Technik eine solche Unterscheidung heute nicht mehr eindeutig trägt.28 Dies gilt auch dann, wenn verschiedentlich, jedoch keineswegs überall, technische Vorkehrungen wie die Trennung von Übertragungs- und Aufzeichnungsgeräten etabliert wurden. Erschwerend mit Blick auf die Eingriffsqualität, weil hochgradig Unsicherheit produzierend, wirkt dabei besonders, dass die Teilnehmer_innen einer Versammlung im Einzelfall nicht wissen, ob die Polizei im konkreten Einzelfall und jeweiligen Augenblick Aufnahmen (Einzel- oder Übersicht; Kamera-Monitor-Prinzip) oder Aufzeichnungen (Datenspeicherungen) erstellt, ob also ‚nur“ eine Beobachtung oder auch eine Datenspeicherung stattfindet. Mit Blick auf die dabei unter Umständen geltenden unterschiedlichsten Rechtsgrundlagen (‚präventiv‘ nach §§ 12a, 19a VersG oder Landesrecht, Übersichtsaufnahmen nach spezieller versammlungsrechtlicher Grundlage im Landesrecht und Beweissicherung nach der StPO) kommt hinzu, dass situativ seitens der Teilnehmer_innen nicht zu erkennen und zu bewerten ist, welche Rechtsgrundlage gerade zur Anwendung kommen soll und ob deren Voraussetzungen vorliegen. Aus den vorgenannten Gründen findet sich in der Rechtsprechung zu Bild- und Tonaufnahmen aktuell eine Weiterentwicklung dahingehend, dass bereits das Zeigen z.B. einer so genannten Mastkamera durch die Polizei einen Grundrechtseingriff29 darstellen kann. Dieser Eingriff resultiert möglicherweise nicht nur aus drohenden tatsächlichen Nachteilen der Erfassung, sondern auch aus der symbolischen Bedeutung der Videokameras als Stigmatisierungssignal für Teilnehmende an einem Protest (Ullrich 2012: 43 f.).
Aus Sicht befragter Polizist_innen gibt es übrigens sehr unterschiedliche Einschätzungen zu der Frage, ob die Nutzung von Kameras über die reine Beweissicherung hinausgehende Effekte zeitige. Kameras werden gelegentlich als Einsatzmittel wie jedes andere dargestellt („Das ist mein Arbeitsmittel und das brauch ich und wenn der sich korrekt verhält, nichts macht, dann brauch ich ihn auch nicht filmen“, 022_GD), welches lediglich Transparenz und Objektivität im Sinne aller Beteiligten sicherstelle:
„Aber gerade wenn sich andeutet, dass ne Situation wirklich irgendwo ein bissel delikat wird, denke ich natürlich, wenn die entsprechende Begründung da ist, logisch, dass es ein Mittel ist, was sich halt am Ende auch bewährt hat irgendwo, in beiderseitigem, also sowohl dem Straftäter natürlich dann seine Straftat nachzuweisen, auf der anderen Seite auch, dass die Kollegen für sich nachweisen können, wir haben hier nicht über die Stränge geschlagen.“ (006_GD; Stabsmitarbeiter gehobener Dienst)
Im Gegensatz dazu gibt es verschiedene Interviewaussagen, die von der festen Überzeugung geprägt sind, dass die Anwesenheit, bzw. das Zeigen von Kameras eine abschreckende Wirkung habe, beispielsweise auf Demonstrierende, die sich zu vermummen beginnen und auf das Zeigen der Kamera hin davon absehen. Diese durchaus plausible, und auch durch Aussagen von Demonstrations-Teilnehmer_innen gedeckte Ansicht (Ullrich 2012: 45 ff.) verdeutlicht die Wirkung von Kameras als Machtverstärker.

Eingriffe in die „äußere“ und „innere“ Versammlungsfreiheit
Verbot und Auflösung von Versammlungen stellen die unmittelbarsten und wohl ‚wirkungsvollsten‘ Eingriffe in die so genannte äußere Versammlungsfreiheit dar, weil sie dieser die Grundlage in toto entziehen. Daher setzt die Rechtsprechung des BVerfG30 insbesondere dem Verbot einer Versammlung sehr enge Grenzen; die Verwaltungsgerichte31 folgen dem mehr oder weniger in der gerichtlichen Praxis, wobei durchaus Unterschiede in den einzelnen Bundesländern festzustellen sind.
Bei Anwesenheit der Polizei in der Versammlung wie auch bei polizeilichen Bild- und Tonaufnahmen und -aufzeichnungen wird aus Sicht des Rechts hingegen ein Eingriff in die ‚innere‘ Versammlungsfreiheit angenommen. Dies meint eine ‚mittelbare‘ Einwirkung auf den Willen und Entschluss der (potentiellen) Teilnehmer_innen, an einer Versammlung teilzuhaben oder hiervon angesichts eines ‚Überwachungsdrucks‘ durch (mögliche) polizeiliche Maßnahmen Abstand zu nehmen. Für die Bejahung eines Eingriffs genügt hier nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ausgehend von den Entscheidungen des BVerfG zur Volkszählung und zu Brokdorf bereits die Möglichkeit eines „Gefühls des Überwachtwerdens“ bei den von einer staatlichen Informationserhebung potentiell betroffenen Teilnehmern. Damit verbunden seien Einschüchterungs- oder Abschreckungseffekte (‚chilling effects‘), die eine uneingeschränkte Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit erschweren oder verunmöglichen.32 Es ist erstaunlich, dass trotz der immensen Bedeutung dieses Postulats für die bundesdeutsche Rechtsprechung kaum Forschung existiert, die sich der letztlich empirischen Fragestellung der Verbreitung entsprechender „Gefühle“ in der Praxis widmet.
Diskussion zur Eingriffsintensität
Rechtsprechung und Literatur gehen überwiegend davon aus, dass eine offene Überwachung eine geringere Eingriffsintensität hat als die nicht offene oder verdeckte Überwachung, weil letztere angesichts der Ungewissheit über das Maß der Überwachung das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Überwachung mangels Gegen- oder Ausweichmaßnahmen noch verstärkt.33 Woher diese Annahmen stammen (z.B. Empirie/Alltagswissen/Sachvortrag von Kläger_innen) ist indes nicht erkennbar. Es ist vielmehr anzunehmen, dass es sich um Vermutungen und subjektive Einschätzungen der entscheidenden Richter_innen einerseits und der Verfasser juristischer Diskussionsbeiträge andererseits handelt, wobei letztere vermutlich „näher dran sind“ an einer eigenen Grundrechtsinanspruchnahme oder auch Berichten ihrer Mandant_innen hierüber.
Die Gegenthese argumentiert, dass auch und gerade der offenen Durchführung von Bild- und Tonaufnahmen sowie -aufzeichnungen im Bereich der Versammlungsfreiheit eine hohe Eingriffsintensität zukomme, weil diese nicht nur auf die Datenerhebung (Bild und Ton) abziele, sondern darüber hinaus und explizit eine verhaltenslenkende Wirkung erzielen solle.34 Die unter Umständen abschreckende Wirkung der Maßnahme wurde auch im Gesetzgebungsverfahren 1989 diskutiert.35 Diese Einschätzung führte jedoch nicht zum Verzicht auf diese Neuregelung. Bis heute wird indes die Frage der Einschüchterung und Verhaltenslenkung bei sonstigen polizeilichen Maßnahmen der Videoüberwachung intensiv diskutiert.36 Nach verbreiteter Auffassung in Literatur37 und Rechtsprechung38 soll das offene Zeigen zum Beispiel der Videokamera den Betroffenen deutlich machen, dass eventuelle Gesetzesüberschreitungen dokumentiert werden können und damit strafrechtlich besser verfolgbar sind. Hierdurch soll vor Gesetzesübertretungen „gewarnt“ und diese möglichst verhindert werden (Verhütung von Straftaten als Teil der Gefahrenabwehr).
Dass die Polizei in der Versammlungsrealität die damit verbundenen tatbestandlichen Anforderungen an die Zulässigkeit stets hinreichend beachtet, muss mit guten Gründen aus eigener Anschauung wie auch bei Auswertung der Rechtsprechung bezweifelt werden. Vielmehr wird auch gefilmt, um das eigene Handeln zu dokumentieren und/oder um vorgezogene Beweissicherung noch unterhalb der rechtlichen Anforderungen des Strafprozessrechts zu betreiben.39 Dies klingt im oben angeführten Zitat (006_GD, Stabsmitarbeiter) schon an und findet in weiteren Interviewsequenzen eine Bestätigung. Beides ist mangels Eingriffsbefugnissen rechtswidrig und verdeutlicht wiederum die Spannung zwischen der rechtlichen Programmierung und Steuerung der Organisation Polizei auf der einen Seite und den „lebensweltlichen“ Sekundärmotivierungen, die in ihrer Praxis entstehen, auf der anderen.
Auf der „anderen Seite“ hat der Einsatz von Videokameras durch Polizei und die schier ubiquitäre Verfügbarkeit von Smartphones etc. dazu geführt, dass heute nicht mehr nur Einzelne das Polizeigeschehen ebenfalls dokumentieren, sondern fast jede_r hierzu in der Lage ist und die Bilder in kürzester Zeit veröffentlichen kann („sousveillance“, „Bürgerkamera“). Dies kann in einer Spirale von Überwachung und Gegenüberwachung wiederum auch zu einer weiteren technischen, taktischen und rechtlichen Aufrüstung auf Seiten des Staates führen (Fernandez & Huey 2009; Marx 2003; Wilson & Serisier 2010). Deutlich bemerkbare Reaktionen sind in den vergangenen Jahren vor allem die zunehmenden Aktivitäten von Polizeien in sozialen Medien, womit auf die Öffentlichkeitswirksamkeit von Bildern der Demonstrierenden reagiert wird, welche Polizeiverhalten skandalisieren. Wenn solche polizeilichen Kommentierungen wertenden Charakter haben und inhaltlich auf Versammlungen Einfluss zu nehmen in der Lage sind, sind sie auch rechtlich problematisch.40 Eine andere polizeiliche Reaktion auf die Ubiquität von Videoaufzeichnungen scheint in vielen ähnlich lautenden Narrationen von Polizist_innen auf, in denen es um ein Bedrohungsgefühl geht, das durch Aufnahmen von Demonstrierenden ausgelöst wird. Daraus können auch Versuche folgen, die Aufzeichnungen zu behindern oder sich wiederum für eine Ausweitung polizeilicher Aufzeichnungsbefugnisse einzusetzen. Auch die Gerichte, so der Eindruck vieler befragter Polizist_innen, würden immer mehr Wert auf den Videobeweis legen.

Schlussfolgerungen
Versammlungsfreiheit ist gerichtet auf Staatsferne und einen ‚staatsfreien Raum‘, in dem auch diejenigen demonstrieren, die dem Staat, seinen Organen und Handlungen wie auch ggf. der Mehrheitsmeinung skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen. Es gibt – so auch das BVerfG – keine (Rechts-)Pflicht zum Wertekonsens, der Bejahung der Ordnung des Grundgesetzes oder der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse. Versammlungsfreiheit ist damit auch und insbesondere ein Recht der Minderheit und unterliegt keinen Beschränkungen jenseits der Strafgesetze und gleichgewichtigen Grundrechten Dritter, soweit diese nicht „im Rahmen der praktischen Konkordanz“ bei der Ausübung der Versammlungsfreiheit zurückstehen müssen.
Diese vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung herausgearbeiteten und bestätigten Grundsätze zum Schutz aus Art. 8 GG finden in der versammlungsbehördlichen und polizeilichen Praxis nicht durchgängig hinreichende Beachtung. Die engen rechtlichen Grenzen für die Zulässigkeit von Verboten und Auflösungen von Versammlungen werden daher offenbar bei Versammlungen aus dem politischen Randspektrum „überkompensiert“, durch z.T. ausufernde Überwachung mit dem Ziel der Verhaltenslenkung oder auch Einschüchterung. Solange akzeptiert wird, dass die Verhaltenslenkung qua Bild- und Tonaufzeichnung legitimer Zweck polizeilicher Überwachung ist, besteht ein erhebliches Potential zu einer solchen Überwachung, das wohl eine einschüchternde Wirkung jenseits der impliziten Aufforderung zur Unterlassung von Straftaten entfalten kann.
Ein wenig wirksames Korrektiv respektive eine Begrenzung besteht allenfalls in den tatbestandlichen Voraussetzungen der jeweiligen Eingriffsbefugnisse, wenn und soweit diese seitens der Polizei Beachtung finden. Hier herrscht indes eine große Varianz in den Praxen unterschiedlicher Polizeigliederungen, was den realen Umgang mit den gesetzlichen Eingriffsschwellen angeht.41 Da die Nichtbeachtung für die handelnden Hoheitsträger jedoch in der Regel folgenlos bleibt und nur selten einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt, die sich zudem in der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit erschöpft, kann einer exzessiven und rechtswidrigen Praxis kaum wirksam begegnet werden.
Der Versammlungsfreiheit mehr gedient wäre daher mit einer Abschaffung der präventiven Befugnisse zu Bild- und Tonaufzeichnungen bei Versammlungen und ihren Entsprechungen im Ensemble der polizeilichen Überwachungs- und Kontrollbefugnisse. Ebenso gehört das polizeiliche Anwesenheitsrecht in der Versammlung abgeschafft, weil dieses mit einem freiheitlichen Verständnis von Versammlungsfreiheit nicht vereinbar ist.
Das hier skizzierte Spannungsverhältnis von Rechtslage und polizeilichen Praxen macht auch deutlich, dass ein demonstrationsfreundliches Versammlungsrecht nicht das alleinige Ziel bürgerrechtlicher Kritik sein kann. Eine solche Gesetzgebung (die derzeit eher hypothetischer Natur ist) kann – das zeigen die existenten widerrechtlichen und Grauzonen-Praktiken – nur dann wirksam sein, sein, wenn sie durch Einrichtungen eines systematischen und kontinuierlichen Monitorings der polizeilichen Kontroll- und Überwachungspraxen flankiert ist. Ein Ensemble an Möglichkeiten steht hierfür zur Verfügung, nicht zuletzt auch kritische Forschung über (nicht für) die Polizei (die i.d.R. mit großen Problemen, besonders beim Feldzugang zu kämpfen hat), zivilgesellschaftliche Polizeibeobachtung und effektive Beschwerdestellen (Töpfer 2014).

CLEMENS ARZT   Prof. Dr. iur., Jahrgang 1958, ist Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche und private Sicherheit (FÖPS) der HWR Berlin, Arbeitsschwerpunkte im deutschen und ausländischen Polizei- und Versammlungsrecht. Zahlreiche Veröffentlichungen hierzu, neben Aufsätzen, Kommentierungen zum ATDG, RED-G, BPolG und PolG NRW und Mitarbeit an der 2. Auflage des Kommentars zum Versammlungsrecht von Ridder u.a. (erscheint 2016).
PETER ULLRICH   Dr. phil. Dr. rer. med., Jahrgang 1976, Ko-Leiter des Forschungsbereichs Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Jüngste Buchveröffentlichungen: „Conceptualizing Culture in Social Movement Research“, Houndsmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014 (Hrsg., zus. mit B. Baumgarten und P. Daphi) und „Demokratietheorie und Partizipationspraxis“, Wiesbaden: Springer VS 2015 (zusammen mit S. Alcántara, N. Bach, R. Kuhn), forscht derzeit in seinem DFG-geförderten Projekt über Videoüberwachung von Versammlungen.
Literatur
Behr, R., 2006: Polizeikultur. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Behr, R., 2008: Cop culture – der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Brenneisen, H. & M. Wilksen, 2011: M. Versammlungsrecht. Das hoheitliche Eingriffshandeln im Versammlungsgeschehen, Hilden: Verlag Deutsche Polizeiliteratur.
Büllesfeld, D., 2002: Polizeiliche Videoüberwachung. Stuttgart u.a.: Boorberg.
Daphi, P., A. Lê & P. Ullrich, 2013: Images of Surveillance. The contested and embedded visual language of anti-surveillance protests. Bd. 35, S. 55–80 in: N. Doerr, A. Mattoni & S. Teune (Hrsg.), Advances in the Visual Analysis of Social Movements. Bingley: Emerald.
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