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Grund­rechts­aus­übung als Wagnis?

Vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 85-90.

Zwischen den Leitsätzen des Bundesverfassungsgerichts zur Versammlungsfreiheit und der Praxis vor Ort klafft oft eine große Lücke. Martin Kutscha kommentiert aktuelle Gerichtsentscheidungen und rechtswissenschaftliche Abhandlungen zum Versammlungsrecht, die sich mit polizeilichen Einschränkungen wie der Einkesselung von Demonstrant_innen oder dem Gebot der Friedlichkeit von Demonstrationen befassen. Sein Fazit: die Versammlungsfreiheit muss immer wieder neu erstritten und verteidigt werden.

Das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, ist nicht nur ein vages Versprechen. Als durch Art. 8 Grundgesetz (GG) geschütztes Grundrecht bindet es vielmehr alle Zweige der Staatsgewalt als „unmittelbar geltendes Recht“. Allerdings hat erst der berühmte „Brokdorf-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1985 die jahrzehntelange Schattenexistenz dieses Grundrechts beseitigt und verdeutlicht, dass die Versammlungsfreiheit „zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens“ gehört.1 Die Grundaussagen dieser höchstrichterlichen Leitentscheidung lassen sich in dem Postulat zusammenfassen, dass die staatlichen Behörden nach dem Vorbild friedlich verlaufender Großdemonstrationen „versammlungsfreundlich“ zu verfahren haben.2 Insbesondere dürften Auflösung und Verbot von Versammlungen nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter erfolgen.3
Der „Brokdorf-Beschluss“ gehört nicht nur zu den prüfungsrelevanten Gegenständen des an den Hochschulen gelehrten Staatsrechts, sondern auch zu den wenigen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen, die jungen Polizist_innen nach ihrer Fachhochschulausbildung jeweils mehr oder weniger geläufig sind.
Hehrer Anspruch und harte Realität
Umso mehr erstaunt die Diskrepanz zwischen den deutlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und dem Verhalten der Staatsgewalt, die ja an dessen Entscheidungen gebunden ist,4 bei manchen Protestdemonstrationen. Erinnert sei hier nur an die massiven Überwachungs- und Repressionsmaßnahmen während der Demonstrationen gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm im Jahre 20075 und während der Protestaktionen gegen den Gipfel im bayerischen Elmau im Jahre 2015, insbesondere aber auch gegen die „Blockupy“-Protestaktionen in Frankfurt am Main:6 Mehrfach wurde über die Frankfurter Innenstadt eine Art von Belagerungszustand verhängt, der vom eingangs zitierten Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht viel übrig ließ. In manchen Fällen haben die Gerichte korrigierend eingegriffen, in anderen aber die grundrechtsbeschränkenden Maßnahmen der Exekutive auch bestätigt. Das gilt z. B. für das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt am Main vom 23. Juni 2014, das die Einkesselung eines großen Teils der Demonstrant_innen bei „Blockupy“ 2013 billigte. Zur Begründung verwies das Gericht auf das unfriedliche Verhalten von Personen, die sich in einem „Schwarzen Block“ befunden hätten. Mithilfe von Transparenten und aufgespannten Regenschirmen hätten die Demonstranten, um sich zu schützen, eine „Schildkrötenformation“ gebildet.7
Wie schrecklich! Da werden Bilder aus dem Lateinunterricht lebendig, in welchem vielleicht die Marschformation „testudo“ der römischen Legionäre beschrieben wurde. Diese schützten sich vor dem feindlichen Pfeilhagel, indem sie ihre Schilde sowohl an den Seiten als auch über den Köpfen möglichst lückenlos aneinander fügten. Sollten etwa auch die „Blockupy“-Demonstrant_innen, ebenso waffenstarrend wie die römischen Legionäre, die kriegerische Eroberung der Europäischen Zentralbank im Sinn gehabt haben?
Das Verwaltungsgericht Frankfurt rechtfertigte die Einkesselung jedenfalls als zulässige „Minusmaßnahme“ gegenüber der in § 15 Abs. 3 Versammlungsgesetz geregelten Auflösung, obwohl doch ein „Polizeikessel“ das genaue Gegenteil einer Auflösung ist, nämlich eine Art Zwangsversammlung, die vom Versammlungsrecht nicht vorgesehen ist.8 Bei einiger Dauer der Einschließung handelt es sich dabei sogar um eine Freiheitsentziehung und damit um einen schweren Eingriff in das Grundrecht auf Freiheit der Person, der im Übrigen nach Art. 104 Abs. 2 GG einem Richtervorbehalt unterliegt.
Vor allem aber stellt sich die Frage, ob sich friedliche Demonstrationsteilnehmer_ innen das unfriedliche Verhalten Anderer zurechnen lassen müssen. Davon scheint offenbar auch das Verwaltungsgericht Frankfurt auszugehen.
Haftung für das Verhalten anderer?
Müssen demonstrierende Bürger und Bürgerinnen, die sich selbst friedlich verhalten, für das unfriedliche Verhalten anderer haften? Diese Frage stellt sich nicht nur bei den „Blockupy“-Protesten, sondern so ziemlich bei allen Versammlungen, die sich nicht auf einen kleinen und überschaubaren Personenkreis beschränken. Schließlich tauchen bei zahlreichen Anlässen im Internet Aufrufe bekannter oder unbekannter Urheber mit militantem Tenor auf. Sollten diese schon zur Annahme einer „unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ und damit als hinreichender Grund für ein Versammlungsverbot ausreichen?
Stimmen in der wissenschaftlichen Literatur gehen in der Tat von einer Haftung auch friedlicher Versammlungsteilnehmer_innen für das Verhalten anderer aus: So konstatiert z. B. Norbert Ullrich richtig, dass Art. 8 ein „Grundrecht des Einzelnen“ sei, meint dann aber, es könne „auch für sich genommen friedlichen und unbewaffneten Teilnehmern das unfriedliche Gesamtgepräge der Versammlung zugerechnet werden.“9
Weitaus entschiedener noch argumentiert Otto Depenheuer in seiner Kommentierung des Art. 8 GG im hochangesehenen „Maunz/Dürig“: Das Gebot der Friedlichkeit, so Depenheuer, erfordere eine „gesteigerte Rechtstreue der Versammlungsteilnehmer“. Diese begründe
„je nach Situation eine besondere Verantwortung jedes Versammlungsteilnehmers für die Friedlichkeit der Versammlung. Neben der Grundvoraussetzung, selber friedlich zu sein, obliegen den Versammelten bei drohender und zu erwartender Unfriedlichkeit durch gewaltbereite Chaoten Kooperationspflichten mit den Ordnungsbehörden zu deren Vermeidung. Bei aufflammender Gewalt verlangt der Friedlichkeitsvorbehalt von friedlichen Versammlungsteilnehmern aktives Eintreten für die Friedlichkeit, d.h. die Verhinderung von Gewalt durch eindeutige und unmissverständliche Distanzierung von Gewalttätern. Bei entfesselter und nicht mehr beherrschbarer Gewalt verlangt das Friedlichkeitsgebot die Isolierung der Gewalttäter, Unterbindung der Gewalt bis hin zu vorläufiger Festnahme und Überstellung an die Ordnungskräfte, oder die Beendigung der Teilnahme an der nunmehr unfriedlichen Versammlung.“10
Aus dem Gebot der Friedlichkeit wird danach eine Rechtspflicht der Versammlungsteilnehmer_innen, sich gegebenenfalls als verlängerter Arm der Polizei zu betätigen und selbst mit physischer Gewalt gegen „Störer“ vorzugehen. Es liegt auf der Hand, dass die Grundrechtswahrnehmung auf diese Weise mit einem unkalkulierbaren Risiko belastet wird. Wer sportlich weniger fit und mit Nahkampftechniken weniger vertraut ist, sollte demnach füglichst auf die Teilnahme an einer größeren Versammlung verzichten. Dies wäre jedenfalls die – vielleicht sogar erwünschte – Konsequenz aus der eben zitierten Position. Auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich diese allerdings nicht stützen. Im „Brokdorf-Beschluss“ wird vielmehr darauf hingewiesen, dass für die friedlichen Teilnehmer der Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleibt, wenn einzelne Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen.
„Würde unfriedliches Verhalten Einzelner für die gesamte Veranstaltung und nicht nur für die Täter zum Fortfall des Grundrechtsschutzes führen, hätten diese es in der Hand, Demonstrationen ‚umzufunktionieren’ und entgegen dem Willen der anderen Teilnehmer rechtswidrig werden zu lassen (…); praktisch könnte dann jede Großdemonstration verboten werden, da sich nahezu immer ‚Erkenntnisse’ über unfriedliche Absichten eines Teiles der Teilnehmer beibringen lassen.“11
Straßenprotest gegen die Regierung – Beginn eines Bürgerkrieges?
Was ist der Grund für die Versuche, friedlichen Demonstrant_innen das mögliche Verhalten anderer zuzurechnen und jede Versammlungsteilnahme auf diese Weise mit einem erheblichen Risiko zu belasten? Einiges spricht dafür, dass in Teilen der Machteliten und auch der juristischen Fachwelt Versammlungen bzw. Demonstrationen, die scharfe Kritik an der Regierungspolitik in die Öffentlichkeit tragen, als Bedrohung der „guten Ordnung“ des Bestehenden wahrgenommen werden. Stellvertretend sei hier Hans Stöcker, in den achtziger Jahren Referatsleiter im Bundesjustizministerium, zitiert:
„Demokratische Regierungen“, so schrieb er, „stehen regelmäßig für die Mehrheit oder doch einen großen Teil der Wählerschaft. Demonstrationen gegen die Regierung oder eine von ihr betriebene Politik bedeuten darum nichts anderes, als daß sich ein Teil der Bevölkerung, regelmäßig eine Minderheit, gegen den anderen Teil, regelmäßig die Mehrheit, provokativ in Szene setzt. Dies ist nicht Ausweis einer intakten Demokratie, in der sich die Minderheit der Mehrheit beugt, sondern oft ein kleinerer oder größerer Schritt auf dem Weg zum Bürgerkrieg.“12
Mit dieser Argumentation dürfte sich Stöcker des Beifalls zahlreicher Diktatoren, die ihr Herrschaftssystem mit dem Euphemismus „Demokratie“ schmücken, sicher sein. Jedenfalls rechtfertigt sie die Praktizierung von Instrumenten des Ausnahmezustandes gegenüber Protestdemonstrationen, die als Provokation der Regierenden empfunden werden.
Interessant ist insoweit der Vergleich mit dem Internet. Im Netz herrschen nicht nur Überwachung und Kommerz, sondern es ist auch ein Tummelplatz für kriminelle Aktivitäten, für Cybermobbing etc. mit häufig gravierenden Folgen für die Betroffenen.13 Trotzdem ist noch niemand auf die Idee gekommen, solche Praktiken den zahlreichen „ordentlichen“ User_innen zuzurechnen und eine Art Kollektivhaftung bei der Internetnutzung zu etablieren.
Protest Policing im Wandel
Richtig ist das Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit als Stachel im Fleisch des repräsentativ-parlamentarischen Regierungssystems beschrieben worden.14 Die Wahrnehmung dieses Grundrechts stört die massenmediale Performance der Regierung. Wenn nicht mehr die Verwirklichung eines demokratischen Sozialstaats, sondern das Akzeptanzmanagement für ein – scheinbar alternativloses – neoliberales Wirtschafts- und Finanzsystem der Hauptzweck heutigen Regierens ist, sind Protestdemonstrationen gegen die politischen Grundentscheidungen dysfunktional. Sie vermitteln ein Legitimationsdefizit der Regierung, sofern es ihnen gelingt, überzeugende Alternativen zur herrschenden Politik in das Licht öffentlicher Wahrnehmung zu rücken.
In der Tat lässt sich nicht nur in den krisengeschüttelten Staaten Europas, deren Gesellschaften unter Sozialabbau und der Durchsetzung von Austeritätskonzepten besonders leiden (Griechenland, Spanien etc.), eine Zunahme sozialer Protestaktionen beobachten. „Auch in den Profiteursländern der Krisenpolitik“, so schreibt die Wiener Kriminologin Andrea Kretschmann, „findet die wachsende Prekarisierung zusehends breiterer Schichten und die Sensibilisierung für die Zunahme sozialer Ungleichheiten in einer neuen Konjunktur von Protesten ihren Ausdruck.“15 Daraus sollte indessen kein Automatismus zunehmender Repression abgeleitet werden. Die schwindende Rolle sozialstaatlicher Befriedungspolitik könnte jedoch eine Erklärung für einen Wandel des Protest Policing sein.16 Der Kontrast zwischen dem hehren Anspruch, Politik aus dem Geiste der Menschenrechte zu betreiben, und der harten Realität staatlichen Machtgebrauchs bei unliebsamen Demonstrationen ist jedenfalls augenfällig.
Aus bürgerrechtlicher Sicht bleibt es dabei: Unsere Grundrechte sind nur dann stark, wenn sie von den Bürgern und Bürgerinnen als „Grundrechtsträger_innen“ als die eigene Sache begriffen und entsprechend verteidigt werden.

MARTIN KUTSCHA Prof. Dr., ist Staatsrechtsprofessor im Ruhestand und im Bundesvorstand der Humanistischen Union. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zu Verfassungsfragen und insbesondere zu den Grundrechten vorgelegt.

Anmerkungen:

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