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Versamm­lungs­frei­heit – zehn Jahre nach der Födera­lis­mus­re­form

Entwicklungstrends und verpasste Chancen. In: vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 7-18

Seit der Föderalismusreform I, die im Jahr 2006 in Kraft trat, haben die Bundesländer die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht. Dieser Beitrag untersucht, aus welchen Gründen die Länder bisher nur zurückhaltend von ihrer neuen Kompetenz gebraucht haben, welche Gestaltungschancen mit den vorliegenden Landesgesetzen verpasst wurden und welche weiteren Faktoren heute die Praxis des Versammlungsrechts prägen – insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Am 1. September 2006 trat die sogenannte Föderalismusreform I in Kraft. Durch die Grundgesetz-Änderung zur Umsetzung dieser Reform erhielten die Bundesländer die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht.1 Das aus den 1950er Jahren stammende Versammlungsgesetz des Bundes kann daher durch Landesgesetze abgelöst werden. Diese und andere Änderungen der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern basierten auf den Arbeitsergebnissen der 2003 eingesetzten Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung.
Anlass für die Föderalismusreform I waren zwei Trends des bundesdeutschen politischen Systems: Erstens bekam der Bund im Laufe der Zeit immer mehr Gesetzgebungszuständigkeiten – mit der Folge, dass die Landesparlamente immer weniger Gestaltungsmöglichkeiten hatten. Dieser Trend verstärkte sich noch durch die Verlagerung von Kompetenzen auf die heutige Europäische Union. Zweitens war die Praxis der Gesetzgebung oft schwerfällig, insbesondere in den Phasen mit unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat – eine Konstellation, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bereits häufig vorgekommen ist. Zustimmungsbedürftige Gesetze können von einer Oppositionsmehrheit im Bundesrat blockiert werden. Durch eine Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen erhoffte man sich weniger zustimmungsbedürftige Gesetze und damit eine Beschleunigung der Gesetzgebung.

Am Ende erhielten die Länder durch die Föderalismusreform I einige Gesetzgebungskompetenzen, die zuvor der Bund hatte, u. a. die für das Versammlungsrecht. Hierfür wurde die zuvor in Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG verankerte Gesetzgebungskompetenz des Bundes für diesen Bereich gestrichen. Folglich haben nach Art. 70 GG jetzt die Länder diese Kompetenz. Die Motivation der Landesgesetzgeber, von dieser neuen Gestaltungsmöglichkeit Gebrauch zu machen, hielt sich allerdings in Grenzen.

1. Versamm­lungs­frei­heit –  demokra­tie­the­o­re­ti­scher Diskurs und komplexere Realität

Die Versammlungsfreiheit hat sich international zu einem Grundrecht entwickelt, das im juristischen und politischen Diskurs einen hohen Stellenwert als Element demokratischer Partizipation genießt. Diese positive Zuschreibung ist nicht selbstverständlich – gerade vor dem Hintergrund, dass der Gebrauch der Versammlungsfreiheit mit oft vehementen politischen und gesellschaftlichen Kontroversen verbunden ist. Nicht nur Akteure des politisch-administrativen Systems halten manche Demonstrationen für lästig oder überflüssig. Auch Vertreter_innen der jeweiligen Gegenposition tendieren dazu, Versammlungen mit Anliegen, die nicht den eigenen entsprechen, für wenig legitim zu halten. Besonders deutlich wird dies bei den häufigen Debatten um Verbote von Versammlungen mit rechtsextremistischen Anliegen.

Viele nicht-demokratische Systeme beschneiden die Versammlungsfreiheit massiv, um politische Opposition zu bekämpfen. Auch solche Negativbeispiele zeigen, dass die Versammlungsfreiheit in demokratischen Systemen ein zentrales Grundrecht ist, das Minderheiten und Oppositionellen die öffentliche Artikulation ihrer Anliegen ermöglicht. Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen hat kürzlich Mindeststandards für die Achtung der Versammlungsfreiheit eingefordert.2

Im bundesrepublikanischen juristischen Diskurs erhielt die in Art. 8 des Grundgesetzes (GG) garantierte Versammlungsfreiheit erst nach 1968 ihre heutige Bedeutung.3 Die oft im öffentlichen Raum agierenden sozialen Bewegungen der 1970er Jahre führten zu Konflikten mit Behörden, die versuchten, die Versammlungsfreiheit restriktiv auszulegen. In der Folge dieser Konflikte verhalf das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) der Versammlungsfreiheit zu ihrem heutigen rechtlichen Stellenwert. Seit der inzwischen als „Klassiker“ der Art. 8 GG-Rechtsprechung geltenden Brokdorf-Entscheidung aus dem Jahr 1985 und danach wiederholt hat das BVerfG die Versammlungsfreiheit explizit demokratietheoretisch begründet. Die Versammlungsfreiheit sei ein zentrales Funktionselement gerade einer repräsentativen Demokratie, da sie denjenigen Mitwirkungsmöglichkeiten eröffne, denen sonst nur periodisch Beteiligungsmöglichkeiten durch Wahlen gegeben seien. „Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozess und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens.“4

In den letzten Jahren haben sich die Möglichkeiten der individuellen Meinungsäußerung durch interaktive Instrumente des Internets erweitert. Die Bedeutung von Versammlungen im öffentlichen Raum wurde dadurch nicht verringert – in Berlin als Hauptstadt ist die Zahl der registrierten Versammlungen in den letzten Jahren sogar erheblich gestiegen.

Auch der offizielle polizeiliche Diskurs knüpft seit der Brokdorf-Entscheidung an das Versprechen eines hohen Schutzstandards für die Versammlungsfreiheit an. Die Brokdorf-Entscheidung ist in der Polizeipraxis eine der bekanntesten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – die Praxisliteratur nimmt hierauf ausführlich Bezug.5 Kooperation statt Konfrontation zwischen Demonstrationsveranstaltern und Polizei gehört seither zu den zentralen Postulaten der Versammlungspraxis. Allerdings gelingt die praktische Umsetzung längst nicht immer – man denke nur an das unverhältnismäßige Vorgehen gegen Gegner_innen des Bauprojekts „Stuttgart 21“, durch das am 30. September 2010 zahlreiche Menschen teils schwer verletzt wurden. Das Spannungsfeld zwischen der Versammlungsfreiheit auf der einen und polizeilichen Sicherheits- und Kontrollbedürfnissen auf der anderen Seite ist mit einer grundsätzlich positiven Einstellung zu Versammlungen nicht völlig überwunden. Das versammlungsrechtliche Instrumentarium (präventive Verbote, beschränkende Verfügungen, Bild- und Tonaufnahmen, Vermummungsverbot, Vorkontrollen usw.) spiegelt dieses Spannungsfeld wider. Versammlungsbehörden und Polizei haben nach wie vor Schwierigkeiten, sich auf veränderte Protestformen wie diffuse Protestbündnisse ohne personalisierbare Leitung, neue Ausdrucksformen usw. einzustellen. Neue Varianten von Protest führen auf polizeilicher Seite zu Verunsicherung und Abwehr, so z. B. die vor einigen Jahren auch in Deutschland aktive „Clowns-Armee“ oder die Praxis von Sitzblockaden zur Be- oder Verhinderung von Demonstrationen mit missliebigen Anliegen. Viele Polizeibedienstete empfinden die oft am Wochenende stattfindenden Einsätze bei Versammlungen zudem als lästig.

Eine grundsätzlich positiv-ermöglichende Einstellung der polizeilichen Praxis gegenüber der Versammlungsfreiheit steht insbesondere dann in Kontrast zu Misstrauen und Vorsicht, wenn vorherige Erfahrungen oder auch nur Klischeebilder eine schwierige Versammlungslage erwarten lassen, etwa durch die Teilnahme von Personen, die der Polizei negativ gegenüberstehen (z. B. „Autonome“) oder durch eine zu erwartende Konfrontation von Versammlungen mit gegenläufigen Anliegen (z. B. „links-rechts“). Die Absicht, Gewalt gegen Einsatzkräfte oder Dritte zu verhindern, führt zu Vorsichts-Reaktionen,6 die notwendig in einem Spannungsverhältnis mit der grundrechtlich garantierten Versammlungsfreiheit stehen. Teils basieren diese Vorsichtsmaßnahmen auf gesetzlichen Beschränkungen und Eingriffsbefugnissen, z. B. dem Vermummungsverbot oder der Zulassung von Bild- und Tonaufnahmen. Wo das Versammlungsrecht noch nicht durch die Länder grundlegend überarbeitet wurde, basieren Eingriffsbefugnisse teils auf rechtlichen Hilfskonstruktionen.7 Dies ist vor dem Hintergrund der Versammlungsfreiheit besonders problematisch bei solchen Maßnahmen wie Meldeauflagen oder Gewahrsam, mit denen Personen davon abgehalten werden sollen, an Versammlungen teilzunehmen;8 bei der Kontrolle von Personen auf dem Weg zu Versammlungen (Vorkontrollen); oder bei der offenen und verdeckten Informationsgewinnung im Vorfeld.

2. Versamm­lungs­frei­heit und Versamm­lungs­recht in Deutschland – zwischen Beharrung und Wandel

Die Versammlungsfreiheit und das Versammlungsrecht sind in Deutschland durch eine eigentümliche Mischung aus Beharrung und Wandel gekennzeichnet.

Deutlich gewandelt haben sich während der letzten Jahrzehnte die Formen und Mittel, die bei der Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit gewählt werden. Bis in die 1960er Jahre waren vorwiegend zentralistisch organisierte Kundgebungen und Aufmärsche üblich. Seither sind vielfältige Formen der Kommunikation und des politischen Protests im öffentlichen oder halb-öffentlichen Raum hinzugekommen. Demonstrationen werden oft nicht mehr zentralistisch von einzelnen Personen oder Organisationen vorbereitet. Mehr oder minder fest organisierte Bündnisse verschiedener Organisationen und Gruppen oder über das Internet verbreitete, oft spontane Initiativen haben heute für den Gebrauch der Versammlungsfreiheit eine hohe praktische Relevanz. Das alte Versammlungsrecht, das Anmeldern und Leitern eine große Verantwortung zuweist, bildet diese veränderte Wirklichkeit noch nicht ab.9

Die Gesetzgebung versäumte es über Jahrzehnte, das Versammlungsgesetz vom „Flair“ der 1950er Jahre zu befreien. Solange der Bund noch die Gesetzgebungskompetenz hatte, wurde diese für Einschränkungen der Versammlungsfreiheit genutzt, so bei der Einführung des Vermummungsverbots im Jahr 1985 (§ 17a VersG). Nicht einmal die vom Verfassungsgericht etablierten Postulate zur verfassungskonformen Auslegung wurden zum Anlass für Klarstellungen in dem für die meisten Bundesländer immer noch geltenden Bundes-Versammlungsgesetz genommen. Daher ist bis heute in § 14 undifferenziert zu lesen, dass Versammlungen „spätestens 48 Stunden vor Bekanntgabe“ bei der zuständigen (Versammlungs-)Behörde anzumelden sind – obwohl dies dem klaren Wortlaut des Art. 8 GG widerspricht. Die bereits seit der Brokdorf-Entscheidung des BVerfG fest etablierte verfassungskonform einschränkende Auslegung, die auch Versammlungen mit kürzerer oder ohne Anmeldung ermöglicht („Eil- und Spontanversammlungen“), erschließt sich nicht aus dem Gesetzestext, sondern nur durch Hintergrundinformationen zur Rechtsprechung.

3. Zögerliche Bundes­länder beim Gebrauch der Gesetz­ge­bungs­kom­pe­tenz

Bis Anfang 2016 hatten nur fünf Bundesländer von ihrer seit 2006 bestehenden Kompetenz zum Erlass eines eigenen Versammlungsgesetzes Gebrauch gemacht, indem sie das Bundes-Versammlungsgesetz durch ein vollständiges Landesgesetz ersetzten: Bayern (2008), Sachsen-Anhalt (2009), Niedersachsen (2010), Sachsen (2011 und 2012) und zuletzt Schleswig-Holstein (2015). Brandenburg ersetzte 2006 nur einen Paragraphen des Bundes-Versammlungsgesetzes durch ein Gesetz über Versammlungen und Aufzüge an und auf Gräberstätten.10 In Berlin wurden nur die Teilregelungen zu Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen gegenüber dem alten Bundesgesetz aktualisiert, um Übersichtsaufnahmen bei Versammlungen zu ermöglichen11 – im Übrigen gilt weiter das alte Bundes-Versammlungsgesetz. In den meisten Bundesländern hatte sich die Praxis von Versammlungsbehörden und Polizei offenbar so an die „angestaubten“ Regelungen des Bundes-Versammlungsgesetzes gewöhnt, dass wenig Erwartungsdruck an die Landesgesetzgebung entstand. Hinzu kommt die in der Praxis verbreitete Sorge, ein uneinheitliches Versammlungsrecht könne die oft vorkommenden Unterstützungseinsätze erschweren. Diese fallen an, wenn eine Landespolizei mit größeren Demonstrations- oder Veranstaltungslagen personell überfordert ist und daher Unterstützung aus anderen Bundesländern oder von der Bundespolizei benötigt. Dem steht allerdings die Bindung der Landesgesetzgebung an Art. 8 GG und an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entgegen, die auch dann für ein Mindestmaß an Einheitlichkeit sorgen werden, wenn die Länder ihre gesetzgeberischen Gestaltungsspielräume zukünftig stärker nutzen sollten als bisher.12

Die Länderzuständigkeiten im bundesdeutschen Föderalismus eröffnen die Chance, dass einzelne Länder mit innovativen Ansätzen vorangehen, die bei Bewährung von anderen Bundesländern übernommen werden. Hier liegen folglich auch Potentiale für eine liberale, bürgerrechtsfreundliche Ausgestaltung der Versammlungsfreiheit. In den zehn Jahren, die seit der Föderalismusreform I vergangen sind, hätten die Länder die Möglichkeit gehabt, mit innovativen Ansätzen ein modernes, grundrechtsfreundliches Versammlungsrecht zu schaffen. Von dieser Intention ist bisher nur das im Juni 2015 von der dortigen Koalitionsmehrheit aus SPD, Grünen und Südschleswigschem Wählerverband (SSW) verabschiedete Versammlungsfreiheitsgesetz für das Land Schleswig-Holstein geprägt. Bereits der Name, der die Versammlungsfreiheit betont, ist programmatisch.

Die anderen bereits verabschiedeten Landes-Versammlungsgesetze lassen wenig Potential für eine innovative Ausweitung der Versammlungsfreiheit erkennen. In Bayern wurde sehr schnell ein eigenes Versammlungsgesetz verabschiedet – Teile davon erklärte das Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 GG. Insbesondere die Vorschriften, die der Polizei sehr weitreichende Möglichkeiten für Übersichts-Bildaufzeichnungen gaben, mussten nachgebessert werden.13
Einige der Landes-Versammlungsgesetze lehnen sich sehr stark an den Text des alten Bundes-Versammlungsgesetzes an und setzen noch nicht einmal alle wichtigen, in der BVerfG-Rechtsprechung entwickelten Linien zur Auslegung dieser Vorschriften in explizite Gesetzesbestimmungen um. Dies gilt in besonderem Maße für das 2012 im „zweiten Anlauf“ in Kraft getretene Sächsische Versammlungsgesetz, nachdem eine erste Version vom Landesverfassungsgericht wegen des nicht ordnungsgemäß durchgeführten Gesetzgebungsverfahrens aufgehoben worden war. Dieses Landesgesetz übernahm das Bundesgesetz weitgehend wortgleich und integrierte nur an wenigen Stellen Anpassungen. Anlass für die Änderungen waren landespolitische Debatten, insbesondere im Zusammenhang mit konfrontativen Rechts-Links-Demonstrationen anlässlich der Jahrestage der Bombardierung Dresdens durch die Alliierten am 13. Februar 1945. Mit einer weitgehend wörtlichen Übernahme der Formulierungen des bisherigen Bundes-Versammlungsgesetzes versäumte die Landesgesetzgebung, Formulierungsprobleme des Bundesgesetzes zu beheben. Für die Praxis der Versammlungsbehörden und der Polizei, für die Polizeiausbildung und für die Bürger_innen, die sich über ihre Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit Versammlungen informieren möchten, wurde damit die Chance vertan, den Text des Versammlungsgesetzes bei der Übernahme in das Landesrecht dem Stand der Verfassungsrechtsprechung und der Fachdiskussion anzupassen.

Auch die Versammlungsgesetze von Sachsen-Anhalt und Niedersachsen lehnen sich noch stark an das Bundes-Versammlungsgesetz an, passen aber jedenfalls die wichtigsten Gesetzesformulierungen an den Stand der von der BVerfG-Rechtsprechung weiterentwickelten Rechtslage an: Dies betrifft z. B. die zentrale Frage, was genau eine Versammlung ist, die von Art. 8 GG geschützt ist. Die vom BVerfG 2001 in der Loveparade-Entscheidung etablierte, noch immer umstrittene engere Definition,14 die heute auch in der Behördenpraxis gebräuchlich ist, wurde sinngemäß in § 2 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes übernommen: „Eine Versammlung […] ist eine ortsfeste oder sich fortbewegende Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.“ Auch § 2 des Versammlungsfreiheitsgesetzes Schleswig-Holstein übernimmt die Definition mit einer leicht anderen Formulierung. Die vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht entschiedene Frage, ob eine Versammlung aus mindestens zwei oder drei Personen bestehen muss, wurde in Schleswig-Holstein – im Gegensatz zu Niedersachsen – zugunsten der Mindestzahl von drei Personen entschieden. Nach der einengenden Loveparade-Definition sind vorwiegend kommerziell und auf Freizeitaktivitäten orientierte Veranstaltungen keine Versammlungen im Sinne von Art. 8 GG.

Alle bisher verabschiedeten Landes-Versammlungsgesetze setzen die verfassungskonforme Auslegung der Anmeldepflicht für Versammlungen in Gesetzesbestimmungen um, sogar das gegenüber dem alten Bundesgesetz kaum veränderten Sächsische Versammlungsgesetz.15 Mit unterschiedlichen Formulierungen stellen sie klar, dass die Anmeldepflicht 48 Stunden vor einer Versammlung nicht in jedem Fall gilt, sondern dass auch Eil- oder Spontanversammlungen möglich sind. Selbst wenn dies routinierten Demonstrationsveranstalter_innen ebenso wie Mitarbeiter_innen von Versammlungsbehörden und Polizei hinlänglich bekannt war, ist diese Klarstellung jedenfalls für Bürger_innen relevant, die erstmals eine Versammlung organisierten möchten.

Die Anpassung der Landes-Versammlungsgesetze an Elemente der Artikel 8-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die in der Praxis längst akzeptiert und angewandt werden, wird auch durch den Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes erleichtert, der von Rechtswissenschaftlern vorgelegt wurde.16

4. Verpasste Chancen für eine moderne, versamm­lungs­freund­liche Gesetz­ge­bung

Die bisher verabschiedeten Landes-Versammlungsgesetze haben die Gesetzeslage mehr oder weniger auf den Stand der Verfassungsrechtsprechung zur Versammlungsfreiheit gebracht. Weitergehende Chancen für eine moderne, versammlungsfreundliche Gesetzgebung wurden dagegen weitgehend verpasst. Zahlreiche Elemente des Versammlungsrechts böten sich für eine Liberalisierung an – die wichtigsten seien hier beispielhaft aufgeführt.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Durchführung von Demonstrationen in halb-öffentlichen Räumen mit seiner Fraport-Entscheidung aus dem Jahr 2011 zu Versammlungen im Frankfurter Flughafen wesentlich erleichtert. Vordergründig ging es nur um Flächen, die zu mehr als 50 Prozent im öffentlichen Eigentum stehen. Für diese stellte das BVerfG klar, dass die Versammlungsfreiheit gemischt öffentlich-private Firmen unmittelbar bindet, wenn der Staat zu mehr als 50 Prozent Eigentümer ist. Die Entscheidung machte darüber hinaus klar, dass auch andere öffentlich zugängliche Verkehrsflächen, insbesondere Einkaufszentrum, nicht automatisch als Versammlungsorte ausscheiden, weil sie im Privateigentum stehen.17 In diesen Fällen ist vielmehr ein sinnvoller Ausgleich zwischen der Versammlungsfreiheit und den Eigentumsrechten herzustellen. Moderne Landes-Versammlungsgesetze könnten klar formulieren, dass sich die Versammlungsfreiheit auch auf diese Flächen erstreckt. Zudem besteht nach der Fraport-Entscheidung gesetzlicher Klärungsbedarf für Verfahrens- und Zuständigkeitsfragen bei der Organisation von Demonstrationen in solchen halb-öffentlichen Räumen, z. B. bezüglich der Frage, bei wem solche Versammlungen angemeldet werden sollten. Das Versammlungsfreiheitsgesetz Schleswig-Holstein enthält hierzu eine kurze Regelung (§ 18), die aber nur einen Teil der praxisrelevanten Fragen klärt.

Für die verfassungskonforme Ausgestaltung der Versammlungsanmeldung setzen die bisher verabschiedeten Landes-Versammlungsgesetze nur den vom BVerfG bereits in der Brokdorf-Entscheidung etablierten Minimalstandard um, wonach auch Eil- und Spontanversammlungen zulässig sind, die nicht 48 Stunden vorher angemeldet wurden. Nach der Brokdorf-Rechtsprechung kommt es darauf an, dass die Versammlungsbehörde so rechtzeitig von einer geplanten Versammlung erfährt, dass sie ihrem Schutzauftrag für die Versammlung selbst und für Dritte nachkommen kann. Je größer eine Versammlung wird, desto umfangreicher ist auch der Vorbereitungsaufwand, z. B. weil Unterstützungskräfte aus anderen Bundesländern angefordert werden müssen. Die Gesetzeslage spiegelt aber die komplexere Praxis nicht vollständig wider. Häufig werden Versammlungsbehörden und Polizei auf anderem Wege von nicht förmlich angemeldeten Versammlungen Kenntnis erlangen, z. B. weil sie in einschlägigen Internetforen vorbereitet werden, die auch staatlichen Stellen bekannt sind. Auch solche Formen der Kenntnisnahme sind bei verfassungskonformer Auslegung ausreichend, um den Behörden die Vorbereitung auf den Schutz der Versammlung und Dritter zu ermöglichen. Dies sollte auch in den Landes-Versammlungsgesetzen klargestellt werden.

Vor dem Hintergrund, dass Art. 8 Abs. 1 GG explizit keine Anmeldepflicht vorsieht, ist auch jede Form von direkter oder indirekter Sanktionierung der Nichtanmeldung kaum mit dem Grundrecht vereinbar.18 Besonders problematisch ist vor diesem Hintergrund, dass die Nichtanmeldung im alten Bundesgesetz (§ 26 Abs. 2) und in Sachsen (§ 27 Abs. 2) noch als Straftatbestand ausgestaltet ist. Die übrigen Landes-Versammlungsgesetze haben die Nichtanmeldung zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft. Nach dem Wortlaut des alten Bundesgesetz (§ 15 Abs. 3) und in leicht modifizierter Form auch noch in Sachsen (§ 15 Abs. 3) und Sachsen-Anhalt (§ 13 Abs. 4) kann eine nicht angemeldete Versammlung zudem aufgelöst werden. Auch solche Regelungen sind mit der Anmeldefreiheit gemäß Art. 8 Abs. 1 GG unvereinbar und sollten daher aus den Landes-Versammlungsgesetzen gestrichen werden.

Bereits in der Brokdorf-Entscheidung wurde das sogenannte Kooperationsprinzip etabliert. Danach haben Versammlungsveranstalter, die mit Versammlungsbehörde und Polizei kooperieren, einen Anspruch darauf, dass auch die staatlichen Stellen sich besonders versammlungsfreundlich verhalten und die Umsetzung und den Schutz ihrer Pläne und Ideen ermöglichen.19 Hieraus hat sich die Praxis von Kooperationsgesprächen entwickelt – die oftmals allerdings von Versammlungsbehörden und Polizei dazu genutzt werden, den Veranstaltern zu erklären, was aus ihrer Sicht nicht möglich ist.20 Auch hier wäre eine nähere gesetzliche Ausgestaltung der Standards sinnvoll, die klarmacht, dass die Vorstellungen der Veranstalter den Orientierungspunkt der Kooperation bilden müssen. Das Versammlungsfreiheitsgesetz Schleswig-Holstein enthält hierzu eine Regelung, die Kooperation und Schutzaufgaben in einen versammlungsfreundlichen Zusammenhang stellt (§ 3). Andere Landesgesetze erwähnen das Kooperationsprinzip in einer problematisch verkürzten Variante, die kaum über das Anhörungsrecht im Verwaltungsverfahren hinausgeht, so Bayern (§ 14), Sachsen (§ 14 Abs. 5) und Niedersachsen (§ 6).

Moderne Versammlungsgesetze sollten die Rolle und Funktion von Anmeldern und Leitern neu bewerten. Die Verantwortung einzelner Personen für die Art und Weise, in der andere ihre Versammlungsfreiheit in Anspruch nehmen, erscheint angesichts der Vielfalt der Versammlungspraxis nicht mehr angemessen. Übermäßige individuelle Pflichten und Verantwortung können Menschen außerdem davon abhalten, ihre Versammlungsfreiheit auch durch eine Beteiligung an der Vorbereitung von Demonstrationen zu nutzen. Die Vorschriften mit solchen Pflichten sollten auf ein Minimum reduziert werden – auch hier enthält das Versammlungsfreiheitsgesetz Schleswig-Holstein interessante Ansätze (§§ 4 bis 6), wobei die korrespondierenden Ordnungswidrigkeiten hierzu (§ 24) weiter reduziert werden könnten.
Liberalisierungsmöglichkeiten gibt es auch durch den Verzicht auf Straftatbestände im Versammlungsgesetz. Einige der Straftatbestände des alten Bundes-Versammlungsgesetzes sind ohnehin nicht mit Art. 8 GG in der heutigen Auslegung vereinbar, z. B. weil sie die Durchführung einer Versammlung ohne Anmeldung mit Strafe bedrohen. Auch die übrigen Straftatbestände in den Versammlungsgesetzen sind entbehrlich, da bei gravierenden Vorkommnissen die Straftatbestände des Strafgesetzbuches erfüllt sind (Körperverletzung in den verschiedenen Varianten; Landfriedensbruch u. a.). Ein Verzicht auf Straftatbestände im Versammlungsgesetz läge auch und insbesondere im Interesse der Versammlungsbehörden und der Polizei. Bei einer Herabstufung zu Ordnungswidrigkeiten können die Behörden auf Vorkommnisse im Rahmen des Opportunitätsprinzips flexibler, grundrechtsschonend und situationsangemessen reagieren. Das Vermummungsverbot könnte ganz abgeschafft, jedenfalls aber die Nichtbeachtung zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft werden. Das Versammlungsfreiheitsgesetz Schleswig-Holstein hat die Straftatbestände bereits erheblich reduziert (§ 23).

5. Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt als Ersatz-Im­puls­geber für ein moderneres Versamm­lungs­recht

Da die meisten Bundesländer ihre neue Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht entweder gar nicht nutzten oder das alte Bundes-Versammlungsgesetz weitgehend unverändert übernahmen, blieb auch nach der Föderalismusreform I das Bundesverfassungsgericht der maßgebliche Akteur für die grundrechtsfreundliche Weiterentwicklung der Versammlungsfreiheit.
Durch Entscheidungen der zurückliegenden zehn Jahre hat das BVerfG die Versammlungsfreiheit unter wichtigen Aspekten weiterentwickelt und zumeist gestärkt. Von ihm (und nicht von der Gesetzgebung) ging die Klarstellung aus, dass auch neue Varianten des politischen Protests von der Versammlungsfreiheit gedeckt sind. Neben der bereits erwähnten Entscheidung zu Versammlungen in halb-öffentlichen Räumen (Fraport) verdienen auch zahlreiche Kammerentscheidungen Beachtung, mit denen Elemente der Versammlungs- und der Meinungsäußerungsfreiheit gestärkt wurden. So präzisierte die 1. Kammer des Ersten Senats 2009 die Anforderungen an die Begründung von Versammlungsverboten oder -beschränkungen nach § 15 Abs. 1 Bundes-Versammlungsgesetz für die häufig vorkommenden Fälle, in denen sich eine Versammlungsbehörde auf schlechte Erfahrungen mit ähnlichen Versammlungen berufen möchte: „Als Vorgängerversammlungen sind in erster Linie diejenigen Veranstaltungen heranzuziehen, die bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen.“21 Diese Kriterien mögen selbstverständlich erscheinen – diese Entscheidung und viele weitere Rechtsprechungsfälle zeigen aber, dass Verbots- und Beschränkungsverfügungen der Versammlungsbehörden diesen Anforderungen längst nicht immer gerecht wurden. Pauschale Versammlungsverbote mit der Begründung eines „polizeilichen Notstands“ akzeptierte das Gericht ebenfalls nicht.22

Die 3. Kammer des Ersten Senats entschied im Juni 2014, dass auch die Bußgeldvorschriften des Versammlungsgesetzes im Lichte der Versammlungsfreiheit eng auszulegen seien. Den Bußgeldbescheid gegen eine Versammlungsteilnehmerin, die sich per Lautsprecher kritisch über die Anwesenheit von Polizeibeamten in ziviler Kleidung geäußert hatte und damit gegen beschränkende Verfügungen zur Nutzung von Lautsprechern bei dieser Versammlung verstoßen haben sollte, hob das BVerfG daher auf.23 Auch einen Bußgeldbescheid, der Protest anlässlich einer Gedenkveranstaltung auf einem Friedhof sanktionierte, erklärte das Gericht für unvereinbar mit der Versammlungsfreiheit.24

Aus bürgerrechtlicher Perspektive sind solche Interventionen des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der Versammlungsfreiheit erfreulich. Allerdings kann das BVerfG immer nur punktuelle Problemkonstellationen aufgreifen, soweit ihm passende Fälle zugeleitet werden – zumeist in Form von Verfassungsbeschwerden. Eine systematische Anpassung des Versammlungsrechts an eine grundrechtsfreundliche Interpretation der Versammlungsfreiheit bleibt die Aufgabe der hierfür seit 2006 zuständigen Landesgesetzgebung.

6. Schluss­fol­ge­rungen und Ausblick

Auch zehn Jahre nach der Föderalismusreform I und dem Übergang der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder ist das Versammlungsrecht in Deutschland Flickwerk. Dieser Beitrag hat gezeigt, dass selbst die wenigen Länder, die von ihrer Gesetzgebungskompetenz bereits Gebrauch gemacht haben, Liberalisierungschancen weitgehend ungenutzt ließen. Interessante Ansätze enthält das Versammlungsfreiheitsgesetz Schleswig-Holstein. Die Aufgabe, das Versammlungsrecht an die liberaler und bunter gewordene politische Kultur anzupassen, hat die Landesgesetzgebung erst in zögerlichen Ansätzen erfüllt.

Allerdings ist ein modernisiertes Versammlungsrecht allein noch kein Garant für eine Versammlungsfreiheit auf hohem Niveau. Auch die Praxis von Versammlungsbehörden und Polizei bedarf noch einer erheblichen Weiterentwicklung – wie nicht zuletzt die zahlreichen Konfliktfälle zeigen, die bei Gerichten ausgetragen werden. Die Aus- und Fortbildung für die Polizei kann noch stärker als bisher dazu beitragen, den bei Versammlungen tätigen Einsatzkräften ein differenziertes Weltbild zu vermitteln, das Versammlungen im öffentlichen Raum unabhängig von deren Anliegen als wichtige Beteiligungsform einer Demokratie begreift. Die bisweilen übervorsichtige Orientierung der Einsatzplanung an worst case-Szenarien25 sollte ebenfalls überdacht werden. Dafür wäre es auch hilfreich, wenn die polizeiliche Vorschriftenlage an den heutigen Stand der Versammlungspraxis angepasst und nicht vorrangig von Gefahren her denken würde, die bei Versammlungen entstehen können. Der Wandel der Handlungs- und Einflussmöglichkeiten Einzelner bei komplexen Protestformen legt es nahe, auf veraltete Kategorien wie „Rädelsführer“ zu verzichten. Auch paramilitärisches Vokabular sollte nicht mehr für die Einsatzplanung verwendet werden. Stattdessen sollte auch die Polizeipraxis zu einer „Vertrauens- und Dialogkultur“26 beitragen, in der die polizeilichen Einsatzkräfte der Protestkultur grundsätzlich positiv gegenüberstehen und Protestierenden – nicht nur den Veranstalter_innen – mit Respekt entgegentreten. Hierzu gehört auch eine transparente Kommunikation der polizeilichen Strategien zum Schutz der Versammlung und Dritter – ein Thema, das nach dem missglückten „Stuttgart 21“-Einsatz am 30. September 2010 bereits in die Praxis Einzug gehalten hat.

HARTMUT ADEN   ist Jurist und Politikwissenschaftler. Er ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, dort Mitglied des Forschungsinstituts für Öffentliche und Private Sicherheit (FÖPS) sowie behördlicher Datenschutzbeauftragter der Hochschule. Webseite: www.hwr-berlin.de/prof/hartmut-aden.

Literaturverzeichnis

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Enders, Christoph, Hoffmann-Riem, Wolfgang, Kniesel, Michael, Poscher, Ralf & Schulze-Fielitz, Helmuth (Arbeitskreis Versammlungsrecht) 2011: Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes, München: C.H. Beck.

Human Rights Council (United Nations General Assembly) 2016: Joint report of the Special Rapporteur on the rights to freedom of peaceful assembly and of association and the Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions on the proper management of assemblies, Document A/HRC/31/66, 4 February 2016. Online verfügbar unter: http://www.ohchr.org/EN/Issues/AssemblyAssociation/Pages/SRFreedomAssemblyAssociationIndex.aspx (10.3.2016).

Kniesel, Michael & Poscher, Ralf 2012: Versammlungsrecht, in: Lisken, Hans (Begründer), Denninger, Erhard & Rachor, Frederik (Hg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., München: C.H. Beck, S. 1133-1241 (= Abschnitt K).

Ott, Sieghart, Wächtler, Hartmut & Heinhold, Hubert 2010: Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz), Stuttgart u.a.: Boorberg.

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