Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 213: Versammlungsfreiheit

Kompendium des Versamm­lungs­rechts

in: vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 131-133

Norbert Ullrich, Das Demonstrationsrecht im Spannungsfeld von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und öffentlicher Sicherheit. Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 2015, 592 S.,
ISBN 978-3-8487-2043-9, 149,- Euro

An fachwissenschaftlicher Literatur zum Versammlungsrecht herrscht kein Mangel. Die meisten Monographien, meist Dissertationen, beschränken sich indessen jeweils auf einen Aspekt, z.B. der Frage des staatlichen Umgangs mit „rechtsextremistischen“ Demonstrationen. Dagegen enthält das hier vorgestellte Werk, die Göttinger Habilitationsschrift des Hochschullehrers Norbert Ullrich, eine systematische Gesamtübersicht nahezu aller Streitfragen des deutschen Versammlungsrechts. In den Blick nimmt der Autor aber auch die Grundzüge des Versammlungsrechts anderer Staaten, so insbesondere der USA sowie Großbritanniens und Spaniens, ferner die einschlägige Rechtsprechung des EGMR. Es handelt sich also um ein umfassendes Kompendium des Versammlungsrechts.

Bei seiner theoretischen Darstellung des Stellenwerts der Versammlungsfreiheit als Voraussetzung eines freien demokratischen Willensbildungsprozesses orientiert sich der Autor weitgehend am Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1985, den Ullrich mit Recht als einen „bis heute leuchtenden Meilenstein“ wertet (S. 518). Von besonderem Interesse sind freilich die Abweichungen von der höchstrichterlichen Rechtsprechung im weiteren Verlauf der Untersuchung. Dies beginnt bereits mit der Begrifflichkeit: Unter den Begriff der Demonstration fasst der Autor jede „gemeinsame Sichtbarmachung von politischen Ansichten unter Einsatz körperlicher Präsenz. Es kommt nicht darauf an, ob die Demonstranten sich dabei fortbewegen.“ (S. 28). Entgegen dem üblichen Sprachgebrauch ist danach auch die Kundgebung auf einem bestimmten Platz eine „Demonstration“. In Rechtsprechung und Literatur werden Demonstrationen hingegen als sich fortbewegende Versammlungen betrachtet; das Versammlungsgesetz des Bundes spricht insoweit von „Aufzug“.

Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht vertritt Ullrich den sog. weiten Versammlungsbegriff. Eine Versammlung ist danach jede „kommunikative zeitweilige Zusammenkunft mindestens zweier Personen, die durch einen gemeinsamen Willen miteinander verbunden sind.“ (S. 231). Danach wären auch bloße Unterhaltungsveranstaltungen wie die Love-Parade oder Fußballspiele durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit geschützt. Dem gegenüber fordert das Bundesverfassungsgericht als Voraussetzung für eine Versammlung, dass das Ziel der Zusammenkunft die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung sein müsse („enger Versammlungsbegriff“). Zur Begründung dieser Position verwies u.a. der ehemalige Verfassungsrichter Hoffmann-Riem mit Recht auf die historisch zu belegende besondere Gefährdungslage für solche Zusammenkünfte, die etwa durch Kritik an der Regierung die öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen suchen. Diese historisch nachweisbare besondere Schutzbedürftigkeit für politische Versammlungen wird bei Ullrich zu wenig deutlich. Das „menschliche Grund-Bedürfnis nach Gemeinsamkeit“ (S. 229) ist ohne Frage schutzwürdig. Ob darin das Grundanliegen des besonderen grundrechtlichen Schutzes für Versammlungen erblickt werden kann, ist allerdings zweifelhaft.

Auch das Friedlichkeitsgebot des Art. 8 GG versteht Ullrich anders als das Bundesverfassungsgericht: Von Friedlichkeit sollte nur ausgegangen werden, „wenn jegliche (auch geringfügige) konkrete Gefährdung von Leben, Gesundheit, Eigentum und (Bewegungs-)freiheit anderer unterbleibt.“ (S. 255). Danach wäre z.B. eine Sitzblockade unfriedlich, weil sie ja die Bewegungsfreiheit anderer einschränkt. Der Autor will insoweit differenzieren: Eine bloß passive Sitzblockade gefährde die genannten Rechtsgüter normalerweise nicht. Anders sei es, wenn ein Demonstrationszug durch eine Blockade tatsächlich daran gehindert werde, den vorgesehenen Weg zu nehmen. Dies stelle „einen massiven Angriff auf die Bewegungsfreiheit dar und kann nicht mehr ‚friedlich’ genannt werden.“ (S. 264). Überzeugender ist insoweit das weite Verständnis des Bundesverfassungsgerichts von Friedlichkeit, das die Grenze erst bei Gewalttätigkeiten und aggressiven Ausschreitungen überschritten sieht. Die genannten Beispiele zeigen, dass es bei diesen begrifflichen Abgrenzungen keineswegs um akademische Spitzfindigkeiten geht, sondern um die konkrete Reichweite der Grundrechtsgewährleistung bei politischen Protestaktionen.

Auch beim umstrittenen Vermummungsverbot versucht sich Ullrich an einer differenzierenden Lösung: Richtig konstatiert er, die Vermummung könne dem Schutz der Versammlungsteilnehmer dienen, „wenn diese etwa zu befürchten haben, im Falle des Erkanntwerdens zur Zielscheibe von gewaltbereiten inländischen Extremisten oder der Schergen eines ausländischen Terrorregimes oder einer ausländischen Terrororganisation zu werden.“ (S. 257). Die Freiheit, vermummt an einer Versammlung teilzunehmen, sei „umfassend vom Grundrecht der Versammlungsfreiheit geschützt.“ (S. 368). Sodann versucht er eine verfassungskonforme Auslegung der Vermummungsverbote in den Versammlungsgesetzen des Bundes und der Länder. Diese seien so zu interpretieren, „dass hier die Verhinderung der Feststellung der Identität durch die Polizei und nicht etwa die Verhinderung des Erkennens durch andere Personen gemeint ist.“ (S. 370). Aber wie soll eine Vermummung beschaffen sein, die nur der – selbstredend rechtsstaatlich agierenden – deutschen Polizei eine Identifizierung der betreffenden Person ermöglicht, nicht aber anderen Beobachter_innen? Auf die mutmaßliche Absicht der Betreffenden abzustellen, ist keine rechtsstaatlich überzeugende Lösung.

Von besonderer Aktualität sind die Ausführungen zum polizeilichen Einsatz technischer Mittel wie insbesondere Videokameras zur Beobachtung von Demonstrationen. Richtig verweist Ullrich darauf, dass solche technischen Mittel nicht mit einer Beobachtung durch Beamte vor Ort gleichzusetzen sind und ein Grundrechtseingriff auch dann vorliegt, wenn keine Aufzeichnung der Bilder stattfindet (S. 446). Es ist allerdings fraglich, ob „reine Übersichtsaufnahmen“ ohne Aufzeichnung wirklich nur ein grundrechtlich geringes Gewicht haben (S. 448). Schließlich ermöglicht die heutige Technik jederzeit ein „Heranzoomen“ einzelner Versammlungsteilnehmer_innen, ohne dass die Betroffenen dies erkennen oder kontrollieren können.

Insgesamt betrachtet, unternimmt der Autor fast bei jeder Streitfrage den Versuch, einen Kompromiss zwischen den hohen grundrechtlichen Ansprüchen der Versammlungsfreiheit und den selbstdefinierten „Erfordernissen“ der Polizeipraxis zu finden. Abgesehen von dieser Kritik bietet das Werk eine breite Fülle an Anregungen für die weitere Diskussion um die Zukunft des Versammlungsrechts.

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