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Rechts­grund­lagen ortsbe­zo­gener Versamm­lungs­be­schrän­kungen – vor und nach der Födera­lis­mus­re­form von 2006*

Vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 115-130.

Der folgende Beitrag von Dr. Lehmann analysiert und bewertet, inwiefern die Rechtsgrundlagen für Beschränkungen von Versammlungen an besonders symbolträchtigen Orten wie etwa dem Holocaustmahnmal in Berlin schlüssig sind. Nach § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetz (VersG) des Bundes werden solche Eingriffe auf die öffentliche Ordnung oder auf das Friedensgebot des Artikel 26 Abs. 1 Grundgesetz gestützt. Im Jahr 2005 wurde das VersG (Bund) überdies um einen neuen Absatz 2 ergänzt. Dieser schafft speziell für Gedenkorte an die Opfer des Nationalsozialismus besondere Eingriffsbefugnisse. Einige Länder haben solche Gedenkorte nach § 15 Abs. 2 VersG (Bund) definiert. Andere Länder haben von der ihnen im Jahr 2006 durch die sogenannte Föderalismusreform I übertragenen Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht und in ihren eigenen Versammlungsgesetzen teils weitergehende Eingriffsbefugnisse zum Schutz von Erinnerungsorten geschaffen. Der Autor erörtert u.a. die Problematik von Orts- oder Opferwürde als Schutzgut und verweist auf das ideologische Potential des Konzeptes eines „kollektiven Gedächtnisses“.

I. Demon­s­tra­ti­onen der extremen Rechten an symbol­träch­tigen Orten seit 2000

Zu Beginn des letzten Jahrzehnts rückten Demonstrationen der extremen Rechten verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Ursächlich dafür war, dass die extreme Rechte ihre „Demonstrationspolitik“ geändert hatte1 und dazu übergegangen war, Versammlungen verstärkt an besonders symbolträchtigen Orten wie dem Brandenburger Tor oder dem Holocaustmahnmal abzuhalten.2 Nachdem auf § 15 Abs. 1 VersG gestützte Versammlungsverbote von der 1. Kammer des Ersten Senats des BVerfG wiederholt wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG aufgehoben worden waren, wurden verstärkt Gesetzesänderungen diskutiert.3
1. Der Streit um die öffentliche Ordnung
Zurückgewiesen hatte die Kammer des BVerfG die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, der zufolge extremistische Versammlungen an symbolträchtigen Orten mangels von ihnen drohender Verstöße gegen die objektive Rechtsordnung zwar regelmäßig keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellten4, sich aber wegen eines von der Ortswahl im Zusammenspiel mit anderen Faktoren drohenden Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung nach § 15 Abs. 1 VersG beschränken ließen.5
Was unter der öffentlichen Ordnung des § 15 Abs. 1 VersG zu verstehen ist, wodurch sie gefährdet werden kann und ob und inwieweit darauf gestützte Beschränkungen grundrechtsgeschützter Versammlungen verfassungsmäßig sind, war und ist umstritten.6 In einer im Jahr 2001 zwischen der 1. Kammer des Ersten Senates des BVerfGs und dem OVG Münster entbrannten Kontroverse7 um die Voraussetzungen, unter denen Versammlungen wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach § 15 Abs. 1 VersG beschränkt werden können, war das OVG der Ansicht, die herrschenden sozialen Anschauungen, auf die die öffentliche Ordnung in § 15 Abs. 1 VersG Bezug nimmt, ließen sich anhand der „Wertmaßstäbe des Grundgesetzes“ konkretisieren.8 Derart verstanden werde die öffentliche Ordnung etwa durch einen Protestmarsch deutscher Neonazis über die deutsch-niederländische Grenze in zeitlicher Nähe zum Jahrestag des Einmarsches der Wehrmacht gefährdet.9
Die 1. Kammer des Ersten Senates des BVerfGs betonte demgegenüber: „Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht.”10 Eine Konkretisierung der ungeschriebenen Regeln des zwischenmenschlichen Zusammenlebens anhand der Wertmaßstäbe des Grundgesetzes lehnte die Kammer daher ab, hielt eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach § 15 Abs. 1 VersG aber für gegeben, wenn „einem bestimmten Tag ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, der bei Durchführung eines Aufzuges an diesem Tag in einer Weise angegriffen wird, dass dadurch grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden“11. Dies sei etwa bei einem Aufzug rechtsextremer Gruppen am 27. Januar der Fall12, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, der seit 1996 offizieller Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus (NS) ist.13
Im Schrifttum stützte außer Battis und Grigoleit14 etwa Rossen-Stadtfeld die Position des OVG Münster. Ihm zufolge führe jede rechtsextreme Versammlung unabhängig von ausdrücklich geäußerten Botschaften „stets ein Schauspiel der Gewalt [auf], das nach den Maßstäben des Grundgesetzes als Verletzung der ‚öffentlichen Ordnung‘ zu bewerten“ sei.15 Der weit überwiegende Teil des Schrifttums lehnte die Konkretisierung der öffentlichen Ordnung in § 15 Abs. 1 VersG durch das OVG hingegen ab. Mit der Ersetzung notwendiger Tatsachenfeststellungen durch rechtliche Wertungen im Zuge der Rechtsfindung werde der Unterschied zwischen den empirisch zu ermittelnden sozialen Anschauungen der öffentlichen Ordnung und den im Wege normativer Rechtserkenntnis zu ermittelnden Gütern der öffentlichen Sicherheit verwischt.16 Der Nachweis, dass eine Versammlung gegen ungeschriebene soziale Mehrheitsanschauungen verstoße, werde durch die „persönlichen Weltanschauungen“ 17 des Rechtsanwenders ersetzt. Dieser produziere ein idealisiertes Ergebnis, das sich „wie Mehltau über die auf die gesellschaftlichen Vorstellungen verweisenden Klauseln“ lege18 und an den faktisch herrschenden sozialen Anschauungen vorbeigehe.19 Zugleich würden die klare systematische Trennung des § 15 Abs. 1 VersG zwischen der „öffentlichen Sicherheit“, die auf die geschriebenen Rechtsnormen verweise, und der öffentlichen Ordnung, die auf die ungeschriebenen außerrechtlichen Regeln des Zusammenlebens Bezug nehme, durch das verfassungsnormative Begriffsverständnis übergangen und nur für den Staat verbindliche Verfassungsprinzipien zu „Eingriffstiteln der Exekutive“ gegenüber privatem Grundrechtsgebrauch umgedeutet.20
Der Auffassung der Kammer des BVerfG gebührt zwar der Vorzug. Wird doch bei einer Konkretisierung der öffentlichen Ordnung anhand der Wertmaßstäbe des Grundgesetzes (kontrafaktisch) von einem rechtlichen Sollen auf ein vermeintliches Sein geschlossen und die materielle Beweislast der Behörde für das Vorliegen von Verbotsgründen umgekehrt.21 Allerdings vermag auch das empirische Begriffsverständnis des BVerfG problematische Ergebnisse nicht zu verhindern, wie sein Senatsbeschluss aus dem Jahr 200422 zeigt. Dem Beschluss zufolge können aus den Normen des Grundgesetzes zur wehrhaften Demokratie zwar „keine weiter gehenden Rechtsfolgen als die ausdrücklich angeordneten abgeleitet werden“23. Bei Gefahren für die öffentliche Ordnung kämen „in erster Linie Auflagen in Betracht“24. Reichten diese nicht aus, könne eine Versammlung aber auch verboten werden25, sofern dadurch nicht in die Meinungsfreiheit eingegriffen werde.
Das BVerfG ignoriert damit die besonderen Vorgaben des Art. 8 GG für die Interpretation der öffentlichen Ordnung in § 15 Abs. 1 VersG26: „Sinn der Meinungs- und Versammlungsfreiheit in einem demokratischen Gemeinwesen ist es gerade, den legitimen Versuch zu unternehmen, die herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen zu überwinden. Wird dieser Versuch mit Hinweis auf den gesellschaftlichen Konsens a priori blockiert, so wird eine mögliche Fortentwicklung verhindert.“27 Unter dem Grundgesetz ist es ausschließlich Sache des parlamentarischen Gesetzgebers, die Voraussetzungen für Beschränkungen dieses legitimen Versuchs innerhalb der grundrechtlichen Vorgaben für Eingriffe festzulegen.28 Auf die öffentliche Ordnung gestützte Eingriffe in Art. 8 GG verstoßen daher ausnahmslos gegen den Parlamentsvorbehalt.29
2. Verbot durch das Friedensgebot des Art. 26 Abs. 1 GG?
Ebenso wenig wie auf die öffentliche Ordnung lassen sich Versammlungsbeschränkungen an symbolträchtigen Orten gem. § 15 Abs. 1 VersG direkt auf einen drohenden Verstoß gegen Art. 26 Abs. 1 S. 1 GG stützen.30 Zwar wird überwiegend angenommen, der Inhalt Art. 26 Abs. 1 GG sei konkret genug, um als „verfassungsunmittelbare Schranke, welche die Ausübung der Freiheitsrechte beschränkt“31, auch Private von Verfassungs wegen verpflichten zu können.32 Dem steht indes bereits der Wortlaut entgegen: Handlungen Privater können nur rechtswidrig, nicht „verfassungswidrig“ sein.33 Nach Art. 26 Abs. 1 S. 2 GG hat der Gesetzgeber die Pflicht, friedensgefährdende Handlungen unter Strafe zu stellen.34 Ratio dieses Parlamentsvorbehalts ist es, vor einer missbräuchlichen Anwendung des Art. 26 Abs. 1 GG zur Bekämpfung politisch missliebiger Versammlungen zu schützen.35
Ohne einfachgesetzliche Konkretisierung verstieße eine unmittelbare Anwendung des Art. 26 Abs. 1 GG auf privaten Freiheitsgebrauch im Übrigen auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz.36 Daran kann auch eine Konkretisierung des Normgehalts des Art. 26 Abs. 1 GG anhand des Völkerrechts nichts ändern: Ein Rekurs auf die vermeintlich „feste Grundlage im Völkerrecht“37 führt angesichts der völkerrechtlichen Trends zu einem „materiellen Friedensbegriff, der den Schutz der Menschenrechte einbezieht“38, eher zu einer Vergrößerung der Unbestimmtheit.39 Auch der Verweis auf Art. 20 IPbpR spricht nicht für, sondern gegen eine unmittelbare Verbindlichkeit des Art. 26 Abs. 1 GG für Private.40 Sind es doch die Vertragsstaaten, nicht etwa deren Bürgerinnen und Bürger, die Art. 20 Abs. 2 IPbpR verpflichtet, jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass per Gesetz zu verbieten. 41
II. § 15 Abs. 2 VersG des Bundes von 2005 und die Gesetzgebungskompetenz der Länder
Anfang 2005 legte die damalige Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuches vor, der von den Regierungsfraktionen modifiziert und in den Bundestag eingebracht wurde.42 Der Innenausschuss empfahl weitere Änderungen.43 In der Fassung seiner Beschlussempfehlung wurde der Gesetzentwurf schließlich verabschiedet44 und trat am 1. April 2005 in Kraft.45 Mit dem Gesetz wurde der Volksverhetzungstatbestand des § 130 StGB um einen neuen Absatz 4 ergänzt46 und in § 15 VersG ein neuer zweiter Absatz einfügt. § 15 Abs. 2 VersG (neu) diente mehreren Landesgesetzgebern, die durch die Föderalismusreform I47 ein Jahr später die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht erhielten48, als Vorbild für analog aufgebaute, teils aber viel weitergehende ortsbezogene Eingriffsbefugnisse in ihren Landesgesetzen.49
1. Normstruktur und -kritik der Befugnis nach § 15 Abs. 2 VersG
Nach § 15 Abs. 2 VersG rechtfertigt das Abhalten einer Versammlung an einem symbolträchtigen Ort allein noch keine Versammlungsbeschränkung. Hinzukommen muss die Besorgnis einer Beeinträchtigung der Würde der Opfer. Als ein Ort der Erinnerung an die menschenunwürdige Behandlung der NS-Opfer im Sinne des § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VersG wird durch Satz 2 das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin festgelegt. § 15 Abs. 2 S. 4 VersG ermächtigt die Länder, durch Landesgesetz weitere Orte zu benennen.50 Als Gedenkorte sollen insbesondere dem Andenken der NS-Opfer gewidmete51 ehemalige Konzentrationslager in Betracht kommen,52 nicht aber Kriegsgräberstätten und Soldatenfriedhöfe.53 Berlin54, Brandenburg55, Hamburg56, Rheinland-Pfalz57 und Thüringen58 haben, gestützt auf § 15 Abs. 2 S. 4 VersG, Gedenkstätten im Sinne des § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VersG per Gesetz festgelegt59, die übrigen Bundesländer haben bisher darauf verzichtet.
Bereits Anfang Mai 2005 kam der neue § 15 Abs. 2 VersG zum ersten Mal – soweit ersichtlich aber auch einzigen Mal – zur Anwendung, als ein von der NPD-Jugendorganisation für den Jahrestag des Kriegsendes in Berlin angemeldeter, unter dem Motto „60 Jahre Befreiungslüge – Schluss mit dem Schuldkult!“ stehender Aufzug die Auflage erhielt, nicht am Denkmal für die ermordeten Juden Europas vorbeiziehen zu dürfen.60 Das BVerfG entschied dazu im einstweiligen Rechtsschutz, es begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass das Holocaustmahnmal gem. § 15 Abs. 2 S. 2 VersG als ein Ort bestimmt worden ist, an dem ein Aufzug nach § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VersG verboten oder von Auflagen abhängig gemacht werden könne.61 Auch die Annahme, der konkrete Aufzug lasse besorgen, dass die Würde der jüdischen Opfer der NS-Gewaltherrschaft beeinträchtigt werde, sei nicht zu beanstanden, da in ihm eine Beeinträchtigung des sozialen Geltungsanspruchs und damit der Würde der Juden Europas, derer an diesem Ort gedacht wird, gesehen werden könne.
Unklar blieb aufgrund der apodiktischen Kürze der Entscheidungsgründe, ob das BVerfG auch dem § 15 Abs. 2 VersG nachgebildete Eingriffsbefugnisse in Landesversammlungsgesetzen für Beschränkungen an symbolträchtigen Orten, die an Opfer der NS- oder der kommunistischen Gewaltherrschaft oder aber die Opfer von Krieg allgemein erinnern, verfassungsrechtlich unbeanstandet ließe. So erklärt etwa Satz 3 der analog zu § 15 Abs. 2 VersG aufgebauten Befugnis in § 15 Abs. 2 SächsVersG u.a. „das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, die Frauenkirche mit dem Neumarkt in Dresden sowie am 13. und 14. Februar darüber hinaus auch die nördliche Altstadt und die südliche innere Neustadt in Dresden“ zu Orten, die an die Opfer eines Krieges erinnern. Versammlungen sollen dort beschränkt werden dürfen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung konkret feststellbaren Umständen zu besorgen ist, dass sie die Würde der Opfer eines Krieges beeinträchtigen würden.62

a) Orts- oder Opferwürde als Schutzgut?
Um selbst Schutzgut des § 15 Abs. 2 VersG sein zu können, müssten die der Eingriffsbefugnis unterfallenden Gedenkstätten von ihr mit eigener Ortswürde und darauf bezogenem Achtungsanspruch ausgestattet sein. Durch Statuierung eines Symbols als eigenständiges Rechtsgut mit kommunikativ einzulösendem Achtungsanspruch wird das von dem Ort versinnbildlichte Rechtsgut verdoppelt. Dazu wird ein vergeistigter Teil vom Ausgangsrechtsgut abgespalten, auf einen Symbolträger projiziert und idealisiert.63 Das Mutterrechtsgut soll fortan auch dadurch verletzt werden können, dass die Verweisfunktion des Symbols auf das versinnbildlichte Rechtsgut missachtet wird.64 Dagegen spricht kommunikationstheoretisch, dass ein Symbol nicht unabhängig von dem Versinnbildlichten verletzt werden kann, sondern nur dadurch, dass die Integrität des Versinnbildlichten selbst beeinträchtigt wird. Da Beschränkungen nach § 15 Abs. 2 VersG aber nur zulässig sind, wenn „zu besorgen ist, dass durch die Versammlung […] die Würde der Opfer beeinträchtigt wird“, spricht § 15 Abs. 2 VersG, anders als noch frühere Gesetzesinitiativen65, nicht den Gedenkstätten eine eigene Ortswürde zu, sondern bezweckt vielmehr, die Menschenwürde derjenigen NS-Opfer schützen, an deren Verfolgungsschicksal diese Gedenkstätten erinnern.66

b) Eingeschränkte Geeignetheit zum Schutz der Opferwürde
Ob sich die Befugnis dazu auch tatsächlich eignet, ist jedoch fraglich. Die Geeignetheit eines Gesetzes im Hinblick auf den mit ihm intendierten Zweck setzt zwar lediglich voraus, dass es den mit ihm verfolgten Zweck fördert.67 Der angestrebte Erfolg muss weder vollständig noch in jedem Einzelfall eintreten.68 Bei § 15 Abs. 2 VersG ist aber zweifelhaft, inwiefern er den Schutz der Menschenwürde von NS-Opfern überhaupt zu fördern vermag. Dafür müsste durch den kommunikativen Umgang mit einem Ort das von ihm versinnbildlichte Rechtsgut in zurechenbarer Weise verletzt werden können.69 Ob von einer Versammlung an einem symbolträchtigen Ort Verletzungen der Menschenwürde von Opfern der NS-Gewaltherrschaft drohen können, die der Versammlung zuzurechnen sind, hängt zum einen davon ab, ob und inwieweit der personale Achtungsanspruch der NS-Opfer bis heute fortbesteht. Zum anderen kommt es darauf an, ob und inwiefern der betreffende Ort als dessen Versinnbildlichung auf diesen Achtungsanspruch verweist. Maßgeblich dafür sind sowohl die Eigenschaften des Ortes als auch die der Personen, auf deren Achtungsanspruch er verweisen soll. Nur unter der Voraussetzung, dass ein Ort auf einen noch bestehenden Achtungsanspruch von NS-Opfern in eindeutiger Weise verweist, können Eingriffsbefugnisse gegenüber Versammlungen an den betreffenden Orten überhaupt geeignet sein, deren Würde zu schützen.70 Schließlich müssen die drohenden Beeinträchtigungen den Versammelten zugerechnet werden können.

(1) Keine Perpetuierung der Menschenwürde durch ein „kollektives Gedächtnis“
Der Schutz Menschenwürde durch Art. 1 Abs. 1 GG garantiert nach vorzugswürdigem Verständnis einen Anspruch auf „Anerkennung des anderen in seiner Eigenart und individuellen Besonderheit“71. Ein solcher Achtungsanspruch der NS-Opfer aus Art. 1 Abs. 1 GG setzt deshalb eine personale Beziehung zwischen Individuen voraus. Zu den wenigen, heute noch lebenden Opfern der NS-Gewaltherrschaft besteht eine solche Beziehung.72 Ebenso stehen die noch lebenden Zeitzeugen der NS-Gewaltherrschaft in einer solchen personalen Beziehung zu den ermordeten NS-Opfern. Ob und inwieweit die durch das NS-Regime Ermordeten postum gegenwärtig und in Zukunft einen Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung ihres Verfolgungsschicksals gegenüber den damals noch nicht geborenen Lebenden haben können, hängt davon ab, ob und inwieweit zwischen beiden noch ein personales Verhältnis bestehen kann.
Dazu könnte auf das soziale Gedächtnis abgestellt werden. Da das individuelle Gedächtnis im sprachlichen Austausch mit Mitmenschen aufgebaut und verfestigt wird, lässt es sich nicht trennscharf von dem sozialen Gedächtnis isolieren, sondern ist immer sozial gestützt und mit ihm verschränkt.73 Auch der Zeithorizont des sozialen Gedächtnisses ist indes über die Spanne der lebendigen Interaktion und sozialen Kommunikation nicht verlängerbar.74 Er endet an der Grenze der Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft gleichzeitig existierender Generationen.75
Für das postume Fortbestehen des Anspruchs aus Art. 1 Abs. 1 GG bedeutet dies: „Das Schutzbedürfnis – und dementsprechend die Schutzverpflichtung [des Staates] aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG – schwindet in dem Maße, in dem die Erinnerung an den Verstorbenen verblasst.“76 Über siebzig Jahre nach Ende der NS-Gewaltherrschaft kann sich der von § 15 Abs. 2 VersG bezweckte Schutz der Würde der NS-Opfer nur noch auf wenige Zeitzeugen stützen, durch deren Erinnerung der personale Achtungsanspruch der ermordeten NS-Opfer perpetuiert wird, sowie auf die noch lebenden NS-Opfer.
Um dennoch von einem gegenwärtigen und künftigen Fortbestehen des Achtungsanspruchs der vom NS-Regime Getöteten ausgehen zu können, müsste der Anerkennungsanspruch auf nachfolgende Generationen übergehen können oder zur „Würde der Opfer“ auch ein Recht ihrer persönlich nicht verfolgten Angehörigen und Nachkommen bzw. der Gegenwartsbevölkerung auf Achtung des Verfolgungsschicksals der NS-Opfer durch die Mitmenschen gehören.
Ob personale Anerkennungsverhältnisse über das soziale Gedächtnis einer Generation hinaus perpetuiert werden können, ist zweifelhaft. Zur Begründung seines Fortbestehens wird regelmäßig die Redeweise vom „kollektiven Gedächtnis“ bemüht. Der Begriff geht auf den Soziologen Halbwachs zurück.77 Er verstand darunter ein über die durch die eigene Lebensspanne verbundene Kommunikationsgemeinschaft hinausgreifendes, durch Erzählen und Vergegenwärtigen hervorgebrachtes überindividuelles Gedächtnis. Dagegen wendet Koselleck ein, es gebe gar „kein empirisches Subjekt, das sich kollektiv zu erinnern fähig wäre. […] Die von Durkheim, Halbwachs […] beschworenen Kollektiva mit gemeinsamer Erinnerung oder gemeinschaftlichem Gedächtnis sind sprachliche Konstrukte […]. Befragen wir sie ideologiekritisch, stoßen wir nicht auf kollektive Erinnerungen (denn diese sind immer individuell), sondern auf kollektive Bedingungen der je eigenen Erinnerungen.“78 Zwar könne es „zwischen den unüberholbaren Eigenerfahrungen und den kollektiven Bedingungen möglicher Erfahrungen auch empirisch einlösbare kollektive Handlungseinheiten“79 geben. Minimalbedingung einer gemeinsamen Erfahrung sei aber, dass sie „sinnlich-konkret bleiben muß“80. „Die Integrität einer Person, ihre Menschenwürde […] sind unlösbar zurückgebunden an das Recht auf ihre unaustauschbare Erinnerung.“81 Zur viel beschworenen Würde des Menschen gehöre daher auch ein „Vetorecht der je persönlichen Erfahrung, die sich gegen jede Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv sperrt“82.
Der Kritik am Konzept des kollektiven Gedächtnisses wird von seinen Befürwortern durch die Unterscheidung einer individuellen, einer sozialen und einer kulturellen Ebene des Gedächtnisses zu begegnen versucht. Das kollektive Gedächtnis dürfe nicht einfach als Analogie zum individuellen Gedächtnis verstanden werden: „Institutionen und Körperschaften wie Kulturen, Nationen, Staaten […] ,haben‘ kein Gedächtnis, sondern ,machen‘ sich eines mithilfe memorialer Zeichen und Symbole.“83 Im Unterschied zum kommunikativ gebildeten, biologisch getragenen, intergenerationell befristeten individuellen und sozialen Gedächtnis sei das kollektive Gedächtnis gegenständlich getragen, symbolisch vermittelt und transgenerationell entfristet. Während das kollektive Gedächtnis im engeren Sinne als „offizielles“ nationales politisches Gedächtnis vorgegeben sei, weise das kulturelle Gedächtnis zwar auch über Generationen hinaus, sei aber nicht autoritativ gesetzt, sondern werde in Wechselwirkung mit dem individuellen und dem sozialen Gedächtnis kommunikativ gebildet und symbolisch vermittelt.
Die Einsicht in die Funktion von Symbolen als Medium seiner Vermittlung verweist auf das ideologische Potential des Konzeptes eines „kollektiven Gedächtnisses“. Gerade wegen seiner Angewiesenheit auf Symbole muss das Konzept daraufhin hinterfragt werden, was mit ihm im jeweiligen Kontext bezweckt wird. Im hiesigen Kontext heißt das zu fragen, inwiefern der rechtsförmige Schutz von Symbolen wie Gedenkstätten (und -tagen) den aus ihrem Verfolgungsschicksal resultierenden Achtungsanspruch der NS-Opfer über die zeitliche Grenze der intergenerationellen Kommunikationsgemeinschaft hinaus perpetuieren kann, oder nicht unterschwellig bezweckt, edukatorisch auf innere Haltungen der Bevölkerung einzuwirken.84 Dafür spricht, dass der Achtungsanspruch der NS-Opfer aus Art. 1 Abs. 1 GG ungeachtet der Differenzierungen innerhalb der „kollektiven Gedächtnisformation“ nicht über den Zeithorizont der persönlichen Erinnerungen an sie im kommunikativ gebildeten, biologisch getragenen und daher intergenerationell begrenzten individuellen und sozialen Gedächtnis hinausreichen kann. Beim behaupteten Übergang zum transgenerationell entfristeten, symbolisch vermittelten kollektiven Gedächtnis reißt die für einen postumen Achtungsanspruch Verstorbener gegenüber den Lebenden konstitutive personale Beziehung zu den Lebenden unweigerlich ab.

(2) Keine Perpetuierung der Opferwürde durch Übergang auf Nachkommen
Dennoch bliebe mehr Raum für aus dem Verfolgungsschicksal der NS-Opfer resultierende Achtungsansprüche aus Art. 1 Abs. 1 GG, wenn auch alle Nachkommen von NS-Opfern diese Ansprüche erheben könnten. Dies widerspräche indes sowohl dem Willen des Gesetzgebers des § 15 Abs. 2 VersG85 als auch dem Sinn dieses Achtungsanspruchs: Da die Verfolgungserfahrung nicht Bestandteil ihrer individuellen Biographie ist, fehlt es bei nicht persönlich betroffenen Angehörigen einer unter der NS-Gewaltherrschaft verfolgten Gruppe und ihren Nachkommen an der für ihre Einbezogenheit in den Würdeschutz der NS-Opfer erforderlichen „persönlichen Notwendigkeit“86. Eine Ausnahme hiervon erkennt die Rechtsprechung nur für die heute in Deutschland lebenden Juden an.87 Der Einbeziehung anderer NS-Opfergruppen in diese Ausnahmerechtsprechung steht entgegen, dass sie gerade mit der Singularität des Vernichtungsschicksals der Juden unter der NS-Gewaltherrschaft begründet wird.

(3) Anforderungen an die Beeinträchtigungshandlung
Beeinträchtigungen der Menschenwürde nach § 15 Abs. 2 VersG sollen von Verhaltensweisen ausgehen, die dem Zweck der geschützten Gedenkstätte diametral widersprechen. Um dies zu konkretisieren, wird zumeist auf die im Ursprungsentwurf88 ausdrücklich genannten Formulierungen „billigen“, „leugnen“ und „verharmlosen“ zurückgegriffen.89 Da diese Formulierungen letztlich nicht Gesetz wurden, können sie indes lediglich zurückhaltend herangezogen werden. Generell muss gelten, dass in der Verbreitung von Aussagen, die Verletzungen der Menschenwürde zum Gegenstand haben, noch keine neuerliche Verletzung des personalen Achtungsanspruchs der Opfer der NS-Gewaltherrschaft liegt.90 Damit unvereinbar ist die Annahme, dass „jede auch nur ansatzweise Billigung des Nationalsozialismus als historische Erscheinung […] gleichzeitig mittelbar eine Missachtung der Würde der Opfer von Gewalt und Willkür […] bedeute“91. Auch Inszenierungen an Gedenkstätten, die das „Gepräge historischer Aufmärsche des NS-Regimes“92 aufweisen, können nicht als „stets mit deren Menschenwürde unvereinbar“93 angesehen werden. Nötig sind vielmehr besondere Umstände, die erst einen direkten personalen Bezug des Versammlungsgeschehens zum Würdeschutz konkreter NS-Opfer(gruppen) herstellen.94

c) Zu niedrige Eingriffsschwelle
Nach § 15 Abs. 2 Nr. 2 VersG reicht bereits die Besorgnis, es könne zu einer Beeinträchtigung der Opferwürde kommen, für Versammlungsbeschränkungen aus. Zumeist wird der Begriff der Besorgnis gleichgesetzt mit der gängigen Formulierung, dass Tatsachen eine Annahme rechtfertigen müssen.95 In jedem Fall ist für einen auf § 15 Abs. 2 VersG gestützten Eingriff in die Versammlungsfreiheit keine objektivierte hohe Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutverletzung96, sondern lediglich eine vertretbare Annahme der Behörde nötig.97 „Gefordert sind lediglich Indizien, aus denen nach bestehendem Erfahrungswissen auf eine [drohende] Würdebeeinträchtigung der Opfer geschlossen werden kann.“98 Damit wird nicht nur der Prognosemaßstab subjektiviert, sondern auch der Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts gegenüber § 15 Abs. 1 VersG abgesenkt.99 Unsicherheiten über die Erheblichkeit für die Prognose angeführter Tatsachen gehen nicht, wie grundrechtlich gefordert,100 zugunsten sondern zulasten der Grundrechtsträger des Art. 8 GG. Insgesamt liegt die Eingriffsschwelle bei § 15 Abs. 2 VersG damit deutlich unter der von Art. 8 GG geforderten, an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit.101

d) Partielle Unvereinbarkeit mit Art. 5 Abs. 2 GG
Reduziert wird der verfassungskonforme Anwendungsbereich des § 15 Abs. 2 VersG überdies durch die Anforderungen des Art. 5 Abs. 2 GG an Schrankengesetze der Meinungsfreiheit.102 Da der unreglementierte Umgang mit Symbolen konstitutiv ist für den durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten kommunikativen Prozess,103 ist es Sache der Einzelnen, wie sie den Symbolgehalt eines Ortes verstehen.104 Die Bundesrepublik darf ihren Bürger_innen kein bestimmtes Verständnis eines Symbols vorschreiben.105 Tut sie es trotzdem, verordnet sie ihnen einen „kommunikativen Götzendienst“106, der in Art. 5 Abs. 1 GG eingreift.107 Da Versammlungen an Gedenkstätten nach § 15 Abs. 2 VersG aber gerade beschränkt werden können sollen, wenn der Inhalt ihres kommunikativen Umgangs mit deren Symbolgehalt die Würde von NS-Opfern beeinträchtigt, ist die Befugnis als Sonderrecht nicht vom Vorbehalt der allgemeinen Gesetze des Art. 5 Abs. 2 Var. 1 GG gedeckt.108
Dennoch ist § 15 Abs. 2 VersG mit dem Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG vereinbar, wenn und soweit er sich als Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG) auffassen lässt.109 Da in jeder Würde- auch eine Ehrverletzung liegt, ist die Befugnis zweifellos Recht der persönlichen Ehre, soweit sie die Würde der noch lebenden NS-Opfer gleich welcher Opfergruppe schützt.
Darüber hinausgehend wird zur Begründung des ehrschützenden Charakters des § 15 Abs. 1 VersG auf die Rechtsprechung zum Würdeschutz der heute in Deutschland lebenden Juden110 rekurriert.111 Dieser zufolge weist „das mit normalen Maßstäben nicht zu erfassende Schicksal der Juden“ im NS auch den heute „in der Bundesrepublik lebenden Juden ein besonderes personales Verhältnis zu ihren Mitbürgern zu […], das Teil ihrer Würde ist.“ 112
Insoweit Gedenkstätten im Sinne des § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VersG eindeutig auf den „besonderen Achtungsanspruch“ der in Deutschland lebenden Juden „von Seiten ihrer Mitbürger“113 verweisen, kann § 15 Abs. 2 VersG deshalb als Recht der persönlichen Ehre nach Art. 5 Abs. 2 Var. 3 GG aufgefasst werden.114 Während dies beim Denkmal für die ermordeten Juden Europas gem. § 15 Abs. 2 S. 2 VersG ohne Einschränkung der Fall ist, gilt dies für andere, durch Landesgesetz gem. § 15 Abs. 2 S. 4 VersG festgelegte Gedenkstätten jedoch nur insoweit, wie sie das spezifische Verfolgungsschicksal der Juden unter der NS-Gewaltherrschaft versinnbildlichen. Denn folgt der besondere Achtungsanspruch der heute in Deutschland lebenden Juden von Seiten ihrer Mitbürger gerade aus der Singularität des Verfolgungsschicksals der Juden unter der NS-Gewaltherrschaft,115 ist eine Erstreckung der Annahme eines zu ihrer Würde gehörenden besonderen personalen Verhältnisses zu ihren Mitmenschen auf heute lebende Angehörige anderer Opfergruppen des NS-Regimes – wie etwa der Sinti und Roma – ausgeschlossen.116
2. Fazit: Symbolische Gesetzgebung mit Vorbildeffekt für Landesgesetzgeber
Als die ortsbezogene Eingriffsbefugnis des § 15 Abs. 2 VersG 2005 verabschiedet wurde, sollte sie eine praktikable Handhabe gegen nazistische Versammlungen an NS-Gedenkstätten liefern. Nach der Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht auf die Länder im Jahr 2006 hätte die Befugnis zudem Orientierungsmarke für ortsbezogene Eingriffsermächtigungen in künftigen Landesversammlungsgesetzen sein können. Beiden Ansprüchen ist § 15 Abs. 2 VersG in mehrfacher Hinsicht nur bedingt gerecht geworden:
Erstens begegnet die Befugnis des § 15 Abs. 2 VersG – wie im Übrigen auch die analog aufgebauten ortsbezogenen Eingriffsbefugnisse in den Landesgesetzen von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Bayern – verfassungsrechtlichen Bedenken, die ihren verfassungskonformen Anwendungsbereich stark einengen. Die Bedenken resultieren primär daraus, dass § 15 Abs. 2 VersG seinen erklärten Zweck, die Würde von NS-Opfern vor drohenden Beeinträchtigungen durch extremistische Versammlungen an Gedenkstätten zu schützen, nur insoweit zu fördern vermag, wie NS-Opfern immer noch ein Achtungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG gegenüber den Lebenden zukommt. Da deren Achtungsanspruch aber in dem Maße schwindet, in dem die individuelle Erinnerung an sie verblasst, gilt dies nur für die wenigen noch lebenden Opfer der NS-Gewaltherrschaft und die heute in Deutschland lebenden Juden.
Die eingeschränkte Geeignetheit des § 15 Abs. 2 VersG allein führt allerdings noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der Norm. Den Gesetzgeber trifft nur die Pflicht, ihre Wirksamkeit genau zu beobachten und sie zu korrigieren, sobald sich zeigt, dass sie ihren Zweck nicht (mehr) zu fördern vermag.117 Bei § 15 Abs. 2 VersG kann der Bundesgesetzgeber dieser Pflicht indes nicht mehr nachkommen, da er aufgrund des Übergangs der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder zu Änderungen seines eigenen Gesetzes nicht mehr befugt ist.118 Das daraus resultierende legislatorische Steuerungsdefizit bedingt, dass die Begründung, weshalb von einer Versammlung an einer Gedenkstätte nach § 15 Abs. 2 S. 2 oder 4 VersG der Achtungsanspruch von NS-Opfern beeinträchtigt zu werden droht, nochmals gesteigerten Anforderungen unterliegt. Die Versammlungsbehörde muss besondere Umstände, etwa das Zusammenspiel des Ortes mit dem Motto119, darlegen, aufgrund derer von einer Versammlung eine Beeinträchtigung des Achtungsanspruchs noch lebender NS-Opfer oder der heute in Deutschland lebenden Juden droht, die der Versammlung zuzurechnen ist, um die Versammlung mit Auflagen versehen oder ganz verbieten zu können.
Zweitens haben viele Länder weder von der ihnen durch § 15 Abs. 2 S. 4 VersG eingeräumten Befugnis, durch Landesgesetz Gedenkstätten im Sinne des § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VersG auszuweisen, Gebrauch gemacht, noch ihre neue Gesetzgebungskompetenz genutzt, um eigene Versammlungsgesetze mit ortsbezogenen Eingriffsbefugnissen zu verabschieden. Folge der geringen Neigung der Länder, selbst gesetzgeberisch tätig zu werden ist, dass § 15 Abs. 2 VersG für unabsehbare Zeit in vielen Bundesländern geltendes Recht bleibt, obwohl er nur in den Ländern, die nach § 15 Abs. 2 S. 4 VersG Gedenkstätten festgelegt haben, einen realen Anwendungsbereich hat.
Die weitgehende faktische Irrelevanz des § 15 Abs. 2 VersG ist indes nicht wirklich bedauerlich, da die Befugnis nicht nur in ihrem verfassungskonformen Anwendungsbereich limitiert, sondern überdies auch entbehrlich ist.120 In vielen Konstellationen, für die sie gelten soll, können auch nach § 15 Abs. 1 VersG bzw. den entsprechenden Generalklauseln der Landesversammlungsgesetze Beschränkungen verfügt werden: Sofern Versammlungen an Gedenkstätten gegen das strafbewehrte Verbot der Störung der Totenruhe des § 168 Abs. 2 StGB, welches seit dem 6. Strafrechtsänderungsgesetz121 auch öffentliche Totengedenkstätten, etwa für die Opfer des NS, vor beschimpfendem Unfug schützt,122 zu verstoßen drohen, können die Versammlungen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit beschränkt werden.123 Gegen Versammlungen an Gedenkstätten, für die aufgrund „aggressiven, […] die Bürger einschüchternden Verhaltens“124 wegen ihrer Unfriedlichkeit der Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG gar nicht eröffnet ist, kann wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung nach § 15 Abs. 1 VersG vorgegangen werden.125 Nach der Rechtsprechung des BVerfG zur Beschränkbarkeit von Versammlungen wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung gilt dies ferner auch für vom Schutzbereich des Art. 8 GG erfasste Versammlungen an symbolträchtigen Orten, die keine Gedenkstätten im Sinne des § 15 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 VersG sind.126 Weder Wortlaut noch systematische Stellung des § 15 Abs. 2 VersG schließen eine Anwendbarkeit des § 15 Abs. 1 VersG insoweit aus.127
§ 15 Abs. 2 VersG erweist sich damit letztlich als ein besonders bedauerlicher Fall symbolischer Gesetzgebung128 – besonders bedauerlich deshalb, weil der Bundesgesetzgeber die Eingriffsbefugnis nicht mehr aufheben kann129, während viele Länder im Hinblick auf die drohende Rechtszersplitterung und daraus resultierende Schwierigkeiten beim Einsatz von Polizeikräften aus anderen Bundesländern130 weiterhin gut daran tun, trotz der zu Recht beklagten systematischen Schwächen des Versammlungsgesetzes des Bundes131 auf eigene Versammlungsgesetze zu verzichten.132 Um einer weiteren Ausbreitung menschenfeindlicher Einstellungen in der „Mitte der Gesellschaft“133 entgegenzuwirken, bedarf es gewiss einer Verbesserung der sozio-kulturellen Rahmenbedingungen für ein tolerantes Klima gegenüber besonders verletzlichen Bevölkerungsgruppen. Als (latenter) Zweck von Befugnissen, die in die Versammlungs- und Meinungsfreiheit eingreifen, taugt sozialer Klimaschutz aber nicht.134

DR. JENS LEHMANN  Jahrgang 1970, Jurist, ist als Referent bei der Verwaltung des Deutschen Bundestages beschäftigt. Nebenberuflich ist er als Lehrbeauftragter an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin tätig. Er promovierte mit der Arbeit „Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen“ (Baden-Baden 2012) an der Universität Freiburg im Breisgau.
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