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Karlsruhe sollte auch die neue Vorrats­da­ten­spei­che­rung verwerfen

Bemerkungen zu unserer erneuten Verfassungsbeschwerde. In: vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 4-6

Am 18. Dezember trat das „Gesetz zur Einführung einer Speicherfrist und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten“ (BGBl. 2015 Teil 1 Nr. 51, S. 2218) in Kraft. Damit wurde zum zweiten Mal in Deutschland eine Mindestspeicherfrist für alle Kommunikations-Verbindungsdaten bei deutschen Providern eingeführt. Das erste Gesetz war 2010 vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden, u.a. mit der Begründung, dass es über den von einer EU-Richtlinie vorgegebenen Rahmen hinausgehend Verpflichtungen enthielt. Diese Richtlinie wurden später vom Europäischen Gerichtshof in Gänze verworfen – was die Bundesregierung nicht davon abhielt, ein neues Gesetz einzubringen.

Die Kritiker_innen sehen in der Vorratsdatenspeicherung nach wie vor einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis und die Privatsphäre, erlaubt sie doch die lückenlose Erfassung des gesamten digitalen Kommunikationsverhaltens. Gegen das neue Gesetz sind daher mehrere Verfassungsbeschwerden angekündigt (etwa von der Humanistischen Union) bzw. schon eingereicht worden, darunter auch von führenden FDP-Politiker_innen. Sie begründen im Folgenden ihren neuen „Gang nach Karlsruhe“.

Das vorhergehende Gesetz über eine Vorratsdatenspeicherung hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 als verfassungswidrig verworfen. Trotz dieses Urteils drängte die CDU auf eine massive Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses durch eine Neuauflage der elektronischen Überwachung. Sie scheiterte lange an der FDP. Nun setzte sie ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung durch – wie zuvor das alte gemeinsam mit der SPD. Damals hatte sich der Gesetzgeber auf eine Europäische Richtlinie berufen können, die nicht nur in Deutschland, sondern auch in einer Reihe anderer europäischer Staaten äußerst umstritten war. Der Europäische Gerichtshof hat sie dankenswerter Weise aufgehoben, weil die Speicherung „anlasslos” erfolgen sollte, flächendeckend, ohne konkreten Anlass.
Genau daran aber soll nach Meinung der Koalition auch das neue Gesetz festhalten, das wir mit der Verfassungsbeschwerde angreifen. Es fängt schon damit an, dass es maskiert ist: es trägt einen falschen Namen. Es führt keine „Höchstspeicherpflicht für Verkehrsdaten” ein, sondern eine „Mindestspeicherfrist” der Telekommunikationsverbindungen aller Bundesbürger „auf Vorrat”, also ohne konkreten Anlass. Das ist keine technische Kleinigkeit, sondern ein Eingriff in die Privatsphäre von Millionen Menschen, die keinen irgendwie gearteten Anlass für ihre Überwachung gegeben haben.
Aus den gespeicherten Daten kann man schon durch ihre technische Auswertung, unabhängig davon wer dabei was gesagt hat, tiefe Einblicke in private Beziehungen aller Art gewinnen. Das Bundesverfassungsgericht hatte eindringlich darauf hingewiesen, dass es sich dabei um einen Eingriff in die Privatsphäre in einer Tiefe und einem Umfang handelt, die bisher im deutschen Recht nicht möglich waren.
Es geht uns bei der Verfassungsbeschwerde nicht nur um die technische Frage, ob das neue Gesetz die sehr differenzierten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu der früheren Fassung korrekt umgesetzt hat. Schon diese Frage ist zu verneinen. Nicht umsonst hat der Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer den Bundespräsidenten aufgefordert, das Gesetz nicht zu unterzeichnen. Es gefährdet elementar die Berufsgeheimnispflichten zum Nachteil von Anwälten und ihrer Mandanten, von Ärzten und ihrer Patienten und natürlich auch der recherchierenden Journalisten. Man kann auch andere kaum nachzuvollziehende Details nicht unberührt lassen: dass über die Funkzellenabfragen Bewegungsprofile unbescholtener Bürger entstehen, dass bei SMS-Nachrichten nicht nur die Verbindungsdaten, sondern auch ihr kompletter Inhalt gespeichert werden muss …
Es geht auch darum, dass das deutsche Verfassungsrecht Europa nicht einfach übergehen kann. Die Europäische Grundrechte-Charta verlangt nach der neuen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, dass bei elektronischen Übermittlungen ein konkreter Anlass zu der Speicherung gegeben sein muss. Das gehört zu den fundamentalen Grundregeln des europäischen Schutzes der Privatsphäre. Und es geht schließlich auch darum, dass die gut gemeinte Klausel des neuen Gesetzes, die Speicherung der Daten müsse in Deutschland erfolgen, mit der Europäischen Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar ist. Die Kommission hat das bereits formell mitgeteilt.
Das Grundproblem aber liegt darin, dass sich heute niemand der Benutzung elektronischer Kommunikationstechniken entziehen kann, ohne ein kontaktloser Einsiedler zu werden. Sie ersetzen weitgehend das persönliche Gespräch in Gegenwart des Partners. Sie ersetzen „normale” Briefe. Sie überwinden Zeit und Raum wie niemals zuvor. Der Einzelne muss sicher sein können, dass er sich auf die Vertraulichkeit und Integrität der benutzten Technologie verlassen kann, solange nicht tatsächliche Anhaltspunkte für eine konkrete Gefahr für ein wichtiges Rechtsgut bestehen. Denn die Kontakte des Bürgers einer digitalen Gesellschaft hinterlassen elektronische Spuren, deren weiteres Schicksal er nicht übersehen kann.
Das klassische Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis des Artikels 10 GG darf keine museale Erinnerung an graue Vorzeiten werden, in denen man noch unbefangen Kontakte mit anderen Menschen haben konnte. Er muss seine Kraft gerade unter den technischen Bedingungen unserer heutigen Gesellschaft entfalten können. Es muss möglich bleiben, miteinander vertraulich zu kommunizieren, eine Privatsphäre zu besitzen, sich in ihr zu bewegen und dabei sicher zu sein, dass in sie nur aus einem konkreten individuellen Anlass staatlich eingedrungen wird. Deswegen hat auch die Forderung des EuGH nach dem konkreten Anlass der „Vorratsdatenspeicherung“ und die immer wieder gestellte Frage, ob sie sich bei der Bekämpfung schwerer Kriminalität überhaupt bewährt hat, eine erhebliche Bedeutung bekommen, die nicht auf eine Aufzählung von Einzelfällen reduziert werden kann.
Es ist besonders zu bedauern, dass der Gesetzgeber die Aufforderung nicht berücksichtigt hat, eine Bilanz zu ziehen, welche Verhaltensweisen oder Tatbestände schon heute über jedermann elektronisch erfasst und verdatet werden. Die technische Fortsetzung wird schließlich zu einer elektronischen Gesamtkontrolle selbst derjenigen Bürger führen, die „nichts zu verbergen“ haben – als eben ihr Privatleben, das in einer freien Gesellschaft niemanden etwas angeht.
Darum ist es notwendig, „nach Karlsruhe zu gehen“. Und darum sind wir der Überzeugung, dass auch dieses Gesetz keinen Bestand haben wird, von Rechts wegen.

Die drei Autor/innen sind prominente Mitglieder des sog. „Freiburger Kreises“ der FDP und haben sich mehrfach für den Schutz demokratischer Bürgerrechte und gegen staatliche Überwachungsmaßnahmen eingesetzt. Burkhard Hirsch gehört darüber hinaus dem Beirat der Humanistischen Union (HU) an und wurde 2006 von ihr mit dem Fritz-Bauer-Preis ausgezeichnet.

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