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Demon­s­tra­ti­onen und Polizei – Bausteine einer Vertrau­ens­kultur

Vorgänge Nr. 213 (Heft 1/2016), S. 61-76.

Kommt es bei einer Versammlung zu Ausschreitungen, wird die Frage nach der Verantwortlichkeit von der Polizei einerseits und den Teilnehmern andererseits meist unterschiedlich beantwortet. Dabei könnten solche Auseinandersetzungen vermieden werden, wenn beide Parteien gewisse „Spielregeln“ einhalten. Wie das geschehen könnte, zeigt Udo Behrendes, ein langjähriger Praktiker. Nach einer kurzen Einführung in die Gesetzeslage weist er auf die kritischen Punkte einer Versammlung hin; anschließend legt er die „Spielregeln“ dar, wie die Beteiligten zu einer Übereinkunft kommen können.

Artikel 8 Grundgesetz (GG) und die Versammlungsgesetze des Bundes und der Länder stellen die „Spielregeln“ für Versammlungen und Demonstrationen auf, nach denen sich die Protagonist_innen „vor Ort“, Demonstrant_innen und Polizist_innen verhalten sollen. Die soziale Wirklichkeit wird jedoch von weit mehr Faktoren beeinflusst als nur von der Rechtslage. Insoweit macht es Sinn, mit einem etwas weiter gestellten Blick auf diese (im Übrigen in allen Staaten und Gesellschaften und zu allen Zeiten fragile und ambivalente) Beziehung zu schauen, um sich den tatsächlichen Bedingungen für das Gelingen friedlicher Versammlungen im Sinne der Verfassung nähern zu können. Dieser Beitrag orientiert sich dabei am Appell von Jürgen Seifert: „Ein Bürgerrechtler muss sich in die Sicht der Polizei versetzen können; aber auch die Polizei (d. h. zugleich: jede Polizistin und jeder Polizist) sollte sich in Demonstranten versetzen können. Für beide Seiten gilt: Feindbilder trüben den Blick! Hass macht blind!“ (Seifert 1998: 206)
Der rechtliche Rahmen
Das aus dem Jahr 1953 stammende Bundesversammlungsgesetz (BVersG) wurde vom Gesetzgeber nie umfassend evaluiert und novelliert, sondern immer nur punktuell erweitert, z. B. in den 1980er Jahren mit Verboten von Vermummung und Passivbewaffnung sowie polizeilichen Befugnissen zur Videografie und in den 2000er Jahren mit Schutzvorschriften für zentrale Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus.
Die Föderalismusreform 2006 hat dann zu länderspezifischen Modifizierungen und damit zu einem versammlungsrechtlichen Flickenteppich geführt. Diejenigen Bundesländer, die bislang von der neuen Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht haben, regeln nun Einzelaspekte anders als im BVersG (das in den Ländern weitergilt, die von der Gesetzgebungskompetenz noch keinen Gebrauch gemacht haben). Dabei haben sie durch einzelne Vorschriften und semantische Neuschöpfungen zum Teil eher Verwirrung gestiftet als zur Normenklarheit beigetragen (vgl. hierzu u. a. den Beitrag von Kniesel in diesem Heft).
Vorschläge zu einer umfassenden Novellierung und Harmonisierung, die 2006 durch eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe (vgl. Gintzel 2010) und 2011 durch den wissenschaftlichen „Arbeitskreis Versammlungsrecht“ (Enders et al. 2011) vorgelegt worden sind, wurden nicht oder nur in einzelnen Punkten aufgegriffen. Auch wenn es in einigen Landesgesetzen nun durchaus bessere Einzelbestimmungen zu Themen wie z. B. dem Vermummungsverbot (vgl. nächstes Kapitel) oder dem polizeilichen Videografieren als im BVersG gibt, führen unterschiedliche landesgesetzliche Regelungen gerade bei Großdemonstrationen mit überregionalem Teilnehmer_innenkreis und Polizeikräften aus unterschiedlichen Bundesländern zu erhöhtem Informations- bzw. Schulungsbedarf und bergen damit letztlich die Gefahr von (zusätzlichem) Fehlverhalten auf beiden Seiten.
Ein genereller Konstruktionsmangel des Versammlungsrechts ist ebenfalls im Rahmen der Föderalismusreform noch verstärkt worden: In den meisten Bundesländern sind „Versammlungsbehörde“ und „Polizei“ nicht identisch. Während häufig eine kommunale oder staatliche Verwaltungsbehörde für Anmeldung, Auflagen bis hin zu einem Verbot im Vorfeld einer geplanten Demonstration zuständig ist, beginnt die polizeiliche Zuständigkeit erst mit dem tatsächlichen Geschehen am Veranstaltungstag. Es liegt auf der Hand, dass dieser Wechsel der Dialogpartner_innen weder auf Veranstalter_innenseite noch auf Behördenseite für Verlässlichkeit und Vertrauensbildung förderlich ist. In der Praxis werden diese Auswirkungen zwar meist dadurch minimiert, dass die Versammlungsbehörde die Polizei an den Vorfeldüberlegungen und Kooperationsgesprächen mit den Veranstalter_innen beteiligt – diese Praxis versucht aber damit nur etwas zu heilen, was in der unsinnigen Zuständigkeitstrennung gesetzlich angelegt ist (vgl. auch hierzu den Beitrag von Kniesel in diesem Heft).
Die summarische Betrachtung führt daher zu dem Zwischenfazit, dass das derzeitige Patchwork-Versammlungsrecht in Deutschland sowohl für Versammlungsveranstalter_innen und -teilnehmer_innen als auch für die Polizei viele (vermeidbare) Unsicherheiten produziert. Dies soll kurz exemplarisch anhand der Regelungen zum Vermummungsverbot aufgezeigt werden.
Die Ambivalenz des Vermummungsverbots
Als Reaktion auf das zunehmende Auftreten militanter „schwarzer Blocks“ im Demonstrationsgeschehen wurden Mitte der 1980er Jahre das Vermummungs- und Passivwaffenverbot in das BVersG eingefügt. Damit erhielt die Polizei neue Befugnisse gegen typische Vorbereitungshandlungen von Gewalttätigkeiten. Mit der Ausgestaltung als Straftatbestand entstand aber direkt ein Dilemma: Die Polizei musste nun aufgrund ihres Legalitätsprinzips (vgl. § 163 Strafprozessordnung) gegen entsprechende Aufmachungen vorgehen und setzte damit in der Praxis nicht selten in einer (noch) nicht gewalttätigen Phase einer Demonstration durch ihre Strafverfolgungsmaßnahmen eine Eskalationskette in Gang, die gerade durch das Verbot verhindert werden sollte.
Das BVersG enthält zwar die Befugnis der Versammlungsbehörde bzw. der Polizei, Ausnahmen vom Vermummungsverbot zuzulassen – diese Option ist aber wenig praxistauglich, da das entsprechende Outfit in der Regel nicht bei der Demonstrationsanmeldung „beantragt“, sondern erst während einer Veranstaltung von Teilgruppen angelegt wird. Die für die ausdrückliche Ausnahme notwendige Prognose der Nicht-Militanz eines solchen Verhaltens kann in einem dynamischen Geschehen „vor Ort“ dann kaum noch mit hinreichender Sicherheit gestellt werden.
Dennoch kann man von Seiten der Polizei (auf der Grundlage der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Fachliteratur – vgl. Güven 2012) aber durchaus flexibel mit diesen Bestimmungen umgehen, wenn man die Vorschriften von ihrem Sinn her interpretiert. Es ging dem Gesetzgeber ja nicht darum, eine Kleiderordnung für Versammlungen vorzuschreiben, sondern um eine bessere Handhabe gegen Militante, die sich im Zuge strafbarer Aktionen vor der Identifizierung durch die Polizei schützen wollen. Wenn es aber zum Beispiel in der konkreten Situation nachvollziehbar ist, dass die Vermummung nur der Verhinderung der Fertigung von Portraitfotos durch Meinungsgegner_innen dient, kann man eben nicht von der durch das Gesetz angenommenen Zielrichtung ausgehen. Aber auch, wenn aus dem Gesamtklima einer Demonstration deutlich wird, dass entsprechende Gruppierungen die Vermummungs-Utensilien eher habituell bzw. aus Imponiergehabe angelegt haben, kann man nach Sinn und Zweck der Vermummungs-Vorschriften von ihrer pauschalen Anwendung absehen.
Allerdings wird man eine solche Einschätzung aus der Blickrichtung der Polizei natürlich nie mit absoluter Sicherheit treffen können – und viele Polizist_innen wollen (auch gegenüber ihren Kolleg_innen) nicht die Verantwortung für die Restrisiken einer entsprechenden Bewertung übernehmen. Daher kommt es in der Praxis leider häufig zu einem eher undifferenzierten Vorgehen gegen Personen mit Vermummungs-Outfit. Insoweit sind die neueren Regelungen der schleswig-holsteinischen und niedersächsischen Versammlungsgesetze sehr zu begrüßen, die das Vermummungsverbot erst bei einer konkretisierenden polizeilichen Weisung, entsprechende Utensilien abzulegen, wirksam werden lassen. Damit ist zumindest in diesen Ländern eine Zwischenstufe eingebaut worden, die die Gefahren einer stereotypen Handlungskette minimiert.

Die Umsetzung des rechtlichen Rahmens:
Beurteilungs- und Ermessensfragen
Auch wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen in der Gesamtsicht defizitär sind – die Polizei ist, wie gerade am Beispiel des Vermummungsverbots aufgezeigt, nach wie vor in der Lage, viele versammlungsrechtliche Regelungen flexibel anzuwenden: Sie beurteilt, ob und inwieweit durch eine Demonstration eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ (als zentrale rechtliche Voraussetzung für die meisten polizeilichen Eingriffsbefugnisse nach den Versammlungsgesetzen) vorliegt. Sie kann (muss aber nicht) videografieren, sie kann (muss aber nicht, zumindest nicht „reflexartig“) gegen das Vermummungs- und Passivwaffenverbot vorgehen, sie kann (muss aber nicht) Teilnehmer_innen ausschließen bzw. einschließen. Der Schlüssel für die der jeweiligen Situation angemessene polizeiliche Einsatzgestaltung liegt somit in der tatsächlichen Umsetzung dieser, dem polizeilichen Ermessen anvertrauten rechtlichen Rahmenbedingungen. Martin Kutscha konstatierte bereits vor 30 Jahren: „Nach wie vor verhilft die Unbestimmtheit […] den zuständigen Polizeibehörden […] zu erheblichen Interpretations- und Entscheidungsspielräumen, so dass von der geforderten „Demonstrationsfreundlichkeit“ im Einzelfall mal mehr und mal weniger übrigbleibt.“ (Kutscha 1986: 29).
Aus Veranstalter_innensicht stellt sich auf Grundlage dieses Befundes damit die „professionelle“ Frage, ob man die Überlegungen zur Ausgestaltung der Interpretations- und Ermessensspielräume der Polizei allein überlassen will oder ob man darauf Einfluss nehmen möchte. In einem konstruktiven Dialog mit der Polizei liegt die große Chance, zu einer möglichst gemeinsamen Lagebeurteilung zu kommen, konkrete Vereinbarungen zu schließen und damit die Risiken für alle Beteiligten zu minimieren. Ein solcher, von gemeinsamer Verantwortung getragener Dialog wird umso mehr zu von beiden Seiten positiv bewerteten Ergebnissen führen, als man sich wechselseitig mit Wertschätzung, Empathie, Offenheit und Ehrlichkeit begegnet. Die einzelnen Bausteine (aber auch die Stolpersteine) einer so verstandenen Vertrauenskultur werden nachfolgend kurz beleuchtet und durch eigene Erfahrungen illustriert.
„Versammlungsfreundliche“ Veränderungen des polizeilichen Aufgabenverständnisses
Die Polizei in der Bundesrepublik Deutschland hat ihre grundsätzlichen Einstellungen und Haltungen zu gesellschaftlichem und politischem Protest in den letzten 60 Jahren grundlegend verändert. Bis Mitte der 1960er Jahre nahm man politische Demonstrationen überwiegend als potenziell destruktive, irrationale Zusammenrottungen wahr, aus denen sich rasch eine Bedrohung der staatlichen Ordnung insgesamt entwickeln könne (Busch et. al. 1985: 319). Ende der 1960er Jahre sahen aber auch, rund 20 Jahre nach Verkündung des Grundgesetzes, lediglich 53% der repräsentativ befragten Bundesbürger_innen Demonstrationen als eine zulässige Form der Meinungsäußerung an (Vogel 1969: 16).
Zu dieser Zeit der „Studentenunruhen“ fand in der Polizei ein intensiver Diskussionsprozess statt (vgl. Kniesel/Behrendes 1996: 301 f.), in dessen Verlauf andere Einsichten langsam die Oberhand gewannen. Zwar dominierte zunächst noch das eher auf Unterdrückung und Konfrontation gerichtete Vorgehen unter Einsatz von Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Pferden das Straßenbild (Hannover 1968: 51), sukzessive ließen aber auch schon damals Einsatzstrategien aufhorchen, die auf Kommunikation und Deeskalation gerichtet waren (zu dem hierfür exemplarischen polizeilichen Einsatz anlässlich des „Sternmarsches auf Bonn“ am 11.5.1968 vgl. den Beitrag von Kniesel in diesem Heft).
Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 1985 (NJW 1985, S. 2397 ff.) markierte einen weiteren, nunmehr allgemein verbindlichen Meilenstein für die polizeiliche Bewusstseinsbildung in Sachen Demonstrations- und Versammlungsfreiheit. Was Ende der 1960er Jahre noch Ergebnis polizeilicher Pionierarbeit war, ist inzwischen zur verpflichtenden Einsatzlinie geworden. Die bundesweit gültige Polizeidienstvorschrift (PDV) 100 (Führung und Einsatz der Polizei) stellt in ihrer Nr. 4.4.3.1 zum Umgang mit Demonstrationen u. a. folgenden Grundsatz auf: „Mit dem Veranstalter und dem Leiter der Versammlung […] ist frühzeitig und grundsätzlich eng zusammenzuarbeiten. Die Polizei ist gehalten, versammlungsfreundlich zu verfahren.“
Wechselseitige Selbst-, Fremd- und Feindbilder
Trotz vorbildlicher Praxisbeispiele, Brokdorf-Beschluss und PDV 100 nehmen jedoch nach wie vor viele Demonstrant_innen die Polizei nicht als „versammlungsfreundlich“ wahr – und umgekehrt viele Polizist_innen die Demonstrant_innen nicht als respektvoll ihrer Funktion gegenüber. Wechselseitig erschweren häufig das eigene Rollenverständnis einerseits und klischeehafte Fremd- und Feindbilder andererseits den (zwangsläufigen) Umgang miteinander.
Ob es sich in den 1950er Jahren um Proteste gegen die „Wiederbewaffnung“ handelte, in den 1960er Jahren gegen die „Notstandsgesetze“, in den 1970er Jahren gegen „AKW“, in den 1980er gegen den „NATO-Doppelbeschluss“, in den 1990er Jahren gegen „Neonazis“, in den 2000er Jahren gegen „Castor-Transporte“ oder in den 2010er Jahren mit „Blockupy“ gegen die internationalen Finanzmärkte – das eigene Rollenverständnis der Demonstrant_innen in Bezug zur Polizei wies, unabhängig vom jeweiligen Protestgegenstand, immer ähnliche Aspekte auf: Die Unzufriedenheit mit dem Parteien-, Verbände- und Verwaltungsstaat, der insbesondere in übergreifenden, existentiellen Menschheitsfragen (Umwelt- und Energiepolitik, Friedenspolitik, Globalisierung) nicht in der Lage war (und ist), einen gesamtgesellschaftlichen Konsens herzustellen (vgl. schon Mayer-Tasch 1985: 35 ff.) und die daraus resultierende Staatsverdrossenheit bzw. Parteien-und Repräsentationsverdrossenheit (vgl. schon Schwind et al. 1990: 107) lässt das Engagement in „Bewegungen“, „Initiativen“ und die Teilnahme an demonstrativen Aktionen als unmittelbare und „echte“ Demokratie erscheinen. Dies geht oft einher mit einem Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber „Angepassten“ und „Etablierten“ – und gegenüber der Polizei, die das kritisierte „System“ auf der Straße repräsentiert.
Insbesondere bei umstrittenen Großprojekten geht man oft davon aus, dass das polizeiliche Handeln weniger durch Recht und Gesetz als durch (partei-)politische Vorgaben gelenkt wird (vgl. Willems et al. 1988: 238). Auch wenn dies nach Erfahrung des Verfassers keineswegs die Regel ist, bestätigen leider immer wieder Einzelbeispiele dieses Vorurteil. Eine Ursache dafür liegt in dem nach wir vor ungenau konturiertem Verhältnis von politischer und professioneller Polizeiführung (vgl. Behrendes 2013b). In der Folge wird die Polizei dann nicht selten als Ersatz-Adressat des Protests bzw. als politischer Gegner wahrgenommen.
Die Polizei selbst sieht sich demgegenüber in einer neutralen Position zum Demonstrationsanlass. Zu „Rolle und Selbstverständnis“ führt die PDV 100 in ihrer Nr. 1.1 u. a. aus: „.Die Polizei gewährleistet durch den Schutz der Grundrechte auch die Austragung von Konflikten in den durch Recht und Gesetz gezogenen Grenzen. Gesellschaftliche Probleme sind mit politischen und nicht mit polizeilichen Mitteln zu lösen. Bei demokratischen Auseinandersetzungen hat sich die Polizei thematisch neutral zu verhalten; ihr Eingreifen ist nur zulässig und geboten, wenn der Inhalt oder die Art und Weise der Konfliktaustragung gegen Recht und Gesetz verstoßen“.
Der Blick auf die Demonstrant_innen durch die „polizeiliche Brille“
Die Polizei weiß natürlich, dass über 95% aller Demonstrationen friedlich und rechtmäßig verlaufen. Ihr Bild vom „Demo-Einsatz“ wird aber dominiert von denjenigen Kundgebungen, die je nach Thema bzw. Veranstalter_innenkreis rechtswidrige bis gewalttätige Verläufe befürchten lassen. Auch wenn man weiß, dass in einer größeren Demonstration meist nur Teilgruppen als gewaltaffin anzusehen sind, fokussiert man sich bei der gesamten Einsatzvorbereitung oft ausschließlich auf diese „Problemgruppen“ und stimmt das gesamte eigene Auftreten darauf ab.
Polizist_innen neigen dazu, vorrangig in Worst-Case-Szenarien zu denken und zu planen. Die Eigensicherung hat gerade für die Angehörigen der meist bei Demonstrationen eingesetzten Bereitschaftspolizei-Einheiten höchste Priorität. Man will auf alle Eventualitäten vorbereitet sein und erwartet von der Polizeiführung in erster Linie die Ausgestaltung dieser Binnensicht. Beim Austausch von Demo-Erfahrungen erzielt, wie überall beim „Story Telling“, der Ausnahmefall einen höheren Aufmerksamkeitsgrad und Behaltewert als der Normalfall. Da es immer mal wieder auch Steinwürfe aus einer ansonsten völlig friedlichen Gesamtveranstaltung gegeben hat, will man auch bei einer bevorstehenden, als völlig friedlich eingeschätzten Demonstration, für solche atypischen Entwicklungen im Wortsinne gewappnet sein. Springerstiefel, die mit Körperprotektoren ausgerüstete Schutzkleidung und der Einsatzhelm werden daher nicht als Spezial- sondern als Standardausstattung für jeden Demonstrationseinsatz angesehen, auch wenn es keinerlei Erkenntnisse über zu erwartende Gewalttätigkeiten von Seiten der demonstrierenden Gruppen gibt. Da man sich selbst ja lediglich vorsorglich schützen will, kann man meist auch nicht verstehen, dass dieses Outfit eben von vielen Demonstrant_innen nicht als „versammlungsfreundlich“ sondern als einschüchternd, ablehnend und feindlich wahrgenommen wird (vgl. Willems et al. 1988: 168).
Hinzu kommt, dass bei der Polizei auch zuweilen das Gespür für die Ambivalenz eines „martialischen“ Aussehens, gerade im Hinblick auf tatsächlich gewaltaffine Teilnehmer_innen, nicht sehr ausgeprägt ist: Ein Auftreten, das den einen Menschen einschüchtert, kann bei dem anderen gerade die Aggression freisetzen, vor der man sich eigentlich schützen wollte.
Letztlich wird der „Blick durch die polizeiliche Brille“ auch noch oft durch den Hang zur Stereotypenbildung getrübt. Man hat vielfältige Erfahrungen mit verschiedenen Demonstrant_innengruppen und nimmt sie dann häufig als die „Linken“, die „Rechten“, die „Antifas“ und die „Autonomen“ wahr und schreibt ihnen relativ pauschal bestimmte Verhaltensweisen zu. Dieses „Labeln“ führt dazu, dass man sich dann auch eher selbst „standardisiert“ verhält, nämlich im gesamten Auftreten habituell Stärke demonstriert (vgl. Willems et al. 1988: 160).
Routinen und Standards sind zwar einerseits Kennzeichen von Professionalität – sie können aber auch zuweilen den Blick auf die vielleicht besonderen Chancen in einer individuellen Situation verstellen.
Der Blick auf die Polizei durch die „Brille der Aktivist_innen“
Die Erwartungen an die Polizei sind aber auch auf Seiten der Demonstrant_innen durch Einstellung, zurückliegende eigene Erfahrungen, aber auch das „Story Telling“ Anderer vorgeprägt. Man geht häufig von einer negativen Haltung der Polizei zum Thema der Demonstration aber auch gegenüber den Demonstrant_innen aus. Einzelne Gruppierungen versuchen in diesem Zusammenhang auch gezielte Provokationen der Polizei zu rechtfertigen – man sorge dadurch nur dafür, dass die Polizei dann bei ihrer (als unangemessen erwarteten) Reaktion ihr wahres Gesicht zeige (vgl. auch Seifert 1998: 207). Der Polizei werden häufig pauschal bestimmte Motive, Interessen und Einstellungen zugeschrieben. Diese Attribuierungsprozesse können dann in Konfliktsituationen, die durch Misstrauen und fehlende Kommunikation gekennzeichnet sind, ihre eigene Dynamik entfalten (vgl. Willems et al. 1988: 162 f.).
„Isolierung“ oder Integration gewaltaffiner Gruppen?
Der vom BVerfG im berühmten Brokdorf-Beschluss formulierte Anspruch ist natürlich auf den ersten Blick vollkommen berechtigt: „Steht kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, […].muss für die friedlichen Teilnehmer der […].Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen.“ Gibt es im Vorfeld einer geplanten Demonstration Erkenntnisse, dass gewaltaffine Gruppierungen teilnehmen werden, sieht das BVerfG einen Vorrang der Demonstrationsveranstalter_innen „bei der Isolierung unfriedlicher Teilnehmer“ (NJW 1985, S. 2400). Erst wenn die Veranstalter_innen dazu nicht bereit oder in der Lage sind, kommen Maßnahmen der Versammlungsbehörde bzw. der Polizei in Betracht, die ihrerseits natürlich auch alles versuchen müssen, nur gezielt gegen entsprechende Gruppierungen vorzugehen, so dass die friedlichen Demonstrationsteilnehmer_innen möglichst nicht beeinträchtigt werden.
Probleme bei der Umsetzung der „Isolierungs“-Vorgaben des BVerfG
Den „Isolierungs“-Ansprüchen des BVerfG werden gerade bei Großdemonstrationen mit heterogenen Teilnehmer_innenkreisen weder die Veranstalter_innen, noch die Polizei umfassend genügen können.
Die Einwirkungsmöglichkeiten der Veranstalter_innenebene werden je nach Zusammensetzung der teilnehmenden Organisationen und Gruppierungen, der Teilnehmer_innenzahl und des Demothemas sehr unterschiedlich sein. Häufig gelingt es ja ohnehin nur in sehr langwierigen, basisdemokratisch strukturierten Prozessen, einen Grundkonsens über Zielrichtung und Art des demonstrativen Protests zu finden (vgl. Willems et al. 1988: 200 ff.). Unabhängig von der Frage, ob ein Ausschluss bestimmter Gruppierungen überhaupt gewollt ist (die Sorge vor der „Spaltung der Bewegung“ wird dem regelmäßig entgegenstehen), würde er sich aber auch rechtlich kaum durchsetzen lassen, da es das Wesen einer öffentlichen Versammlung ist, dass sich grundsätzlich jede(r) Interessierte unabhängig von der Zustimmung der Versammlungsveranstalter_innen oder -leiter_innen der Demonstration anschließen kann. Realistisch stellt sich für verantwortlich Handelnde auf der Veranstalter_innenebene daher dann oftmals die Frage, ob es gelingt, auch gewaltaffine Gruppen in einen friedlichen Grundkonsens einzubinden oder mit der Polizei zusammenzuarbeiten, um diese Gruppen zu separieren oder die Veranstaltung wegen drohender Gewalttätigkeiten abzusagen.
Versammlungsbehörde bzw. Polizei müssen ihrerseits einschätzen, ob sie auf die Integrationskraft der Veranstalter_innenebene vertrauen können. Vorbeugende behördliche Teilverbote für gewaltaffine Gruppierungen sind zwar rechtstheoretisch denkbar, in der Praxis aber kaum umsetzbar. Teilnehmer_innen solcher Gruppierungen werden häufig, zunächst in unauffälligem Outfit, individuell oder in Kleingruppen zu der Demo anreisen. Vorkontrollen auf den Anfahrtswegen werden daher je nach Größenordnung der Veranstaltung und räumlicher Situation dem „Isolierungs-Anspruch“ des Bundesverfassungsgerichts nur unzureichend genügen können.
Darüber hinaus wird es auch in der Situation einer laufenden Veranstaltung zumeist nie „klinisch sauber“ gelingen, die aus dem Schutz der Masse friedlicher Demonstrant_innen agierenden Gewalttäter_innen (z. B. Steinewerfer_innen aus der zehnten Demo-Reihe) festzunehmen. Jede polizeiliche Umsetzung des „Isolierungs-Anspruchs“ birgt daher ihrerseits ein hohes Eskalationspotential, weil sich dann häufig zunächst nicht gewaltbereite Demonstrant_innen, die aber in einem dynamischen Geschehen manchmal gar nicht das Ziel einer polizeilichen Aktion erkennen, dem Vorgehen entgegenstellen.
Praxisbeispiel: Integration statt Isolierung
Trotz dieser schwierigen „Gemengelage“ zeigen Praxisbeispiele, dass es bei vertrauensvoller Kommunikation zwischen Veranstalter_innen und der Polizei gelingen kann, auch größere, generell gewaltaffine Gruppierungen auf einen friedlichen Demonstrationsverlauf zu verpflichten – somit zu integrieren statt zu isolieren. Dies soll anhand einer Großdemonstration in Bonn am 14.11.1992 anlässlich der geplanten Änderung des Asylrechts kurz illustriert werden:
Ein Trägerkreis von über 30 Organisationen (darunter auch die Humanistische Union) hatte mit weiteren, mehreren hundert Unterstützergruppen unter der Überschrift „Grundrechte verteidigen – Flüchtlinge schützen – Rassismus bekämpfen!“ zu einer Großdemonstration in Bonn aufgerufen (inhaltliche Dokumentation der Veranstaltung vgl. FriedensForum 7/1992). In einem angespannten politischen Klima, kurz nach dem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Rostock-Lichtenhagen und unmittelbar vor einem SPD-Sonderparteitag zur Frage der Änderung des Artikels 16 GG, kamen mehr als 100.000 Demonstrant_innen nach Bonn, das zwar nicht mehr Bundeshauptstadt, aber nach wie vor Parlaments- und Regierungssitz war. Der damalige Bonner Polizeipräsident Michael Kniesel hatte die Universität als Eigentümerin der Hofgartenwiese per Duldungsverfügung angewiesen, diese größte Fläche in der Bonner Innenstadt für die Abschlusskundgebung bereit zu stellen. „Wir sind stark. Aber wir zelebrieren diese Stärke nicht“ war seine nach innen und außen gerichtete Leitlinie für den polizeilichen Einsatz.
Besondere Sorgen bereitete sowohl dem Veranstalter_innenkreis als auch der Polizei der „antifaschistisch/internationalistische Block“, in dem rund 3.500 Teilnehmer_ innen „autonomer“ Gruppierungen aus allen Regionen Deutschlands einen eigenen Aufzugsweg zu einer separaten Abschlusskundgebung auf dem Bonner Münsterplatz planten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte im Vorfeld öffentlich (was relativ selten vorkommt) vor der besonderen Militanz dieser Gruppierungen gewarnt, die zum Teil der damaligen RAF nahestanden. Der Verfasser dieses Beitrages war innerhalb des polizeilichen Gesamteinsatzkonzepts mit der Betreuung dieser Teildemonstration beauftragt. Polizeilicher Haupt-Ansprechpartner des Veranstalter_innenkreises war Manfred („Mani“) Stenner (2014 verstorben), Geschäftsführer des in Bonn ansässigen „Netzwerks Friedenkooperative“, der auf eine langjährige Erfahrung als Organisator von vielen (Groß-)Demonstrationen zurückgreifen konnte. Mit Mani Stenner (vgl. zu seiner friedenspolitischen Vita FriedensForum 6/2014) gab es schon nach den Erfahrungen zurückliegender Demonstrationen in Bonn einen simplen gemeinsamen Nenner als Zielrichtung von Kommunikation und Kooperation: „Wir wollen nicht, dass bei Demonstrationen Menschen zu Schaden kommen – weder Menschen mit Transparenten, noch Menschen in Uniformen“. Mani Stenner brachte darüber hinaus auch sein „professionelles“ Ziel als Sprecher der Veranstalter_innenkreises klar auf den Punkt: „Ich will, dass die Tagesthemen am Abend Bilder von den 100.000 auf der Hofgartenwiese zeigen und über unsere inhaltlichen Forderungen berichten und nicht über Randale auf dem Münsterplatz.“
Durch seine Vermittlung kam es im Vorfeld der Demonstration zu einem Treffen mit Vertreter_innen des „autonomen Blocks“ auf einer Bonner Polizeiwache. Vorbedingungen dafür waren u. a. die Wahrung der Anonymität dieser Vertreter_innen und das Akzeptieren ihrer Sonnenbrillen und PLO-Tücher während des Gesprächs, da man Aufnahmen mit verdeckten Kameras befürchtete. Mit Hilfe der Gesprächsmoderation von Mani Stenner gelang es schließlich (in einem gleichwohl mühsamen, mehrstündigem Austausch) die Rahmenbedingungen für eine „politische“ (gleich gewaltfreie) Demonstration dieses „autonomen Blocks“ auszuloten: Die sichtbare polizeiliche Präsenz zur Begleitung der rund 3.500 „Autonomen“ auf ihrem Aufzugsweg vom Bonner Norden zum Münsterplatz sollten 30 Polizist_innen in normaler Uniform (ohne Schutzausstattung) übernehmen, die sich in erster Linie um die Verkehrsregelung auf dem Demoweg kümmern sollten. Den Veranstalter_innen wurde gleichzeitig verdeutlicht, dass rund 1.000 weitere Polizeibeamt_innen mit Schutzausrüstung etwas abgesetzt als „Plan B“ bereit standen, falls es doch zu Gewalttätigkeiten kommen sollte.
Am Veranstaltungstag verlief diese Teildemonstration dann, abgesehen von einigen Farbbeutelwürfen gegen die Fassade des am Aufzugsweg liegenden Bundesinnenministeriums und einigen Leuchtraketen, weitestgehend störungsfrei.
Auszüge der anschließenden Presseberichterstattung vom 16.11.1992:
taz: „Auch der „internationalistisch antifaschistische Block“ ließ sich auf seiner getrennten Kundgebung auf dem Münsterplatz nicht von den zahllosen unbewachten Kaufhausschaufenstern ringsum provozieren. Aus den Lautsprechern des „Antifa“-Wagens hörten die etwa 4.000 Schwarzjacken eins ums andere Mal die Aufforderung, Ruhe zu bewahren: „Hier hat keiner ein Interesse, dass irgendetwas abgeht.““
FAZ: „Die vielfältigen Absprachen zwischen Polizei und Organisatoren der Demonstration zahlten ich aus. „Sorgen“ des Verfassungsschutzes in Köln, es könne zu Gewalttaten kommen, waren von der städtischen Polizei als nicht begründet verworfen worden. Sogar ein Sprecher der Autonomen hatte gesagt, die Seinen hätten mit der Polizeieinsatzleitung gesprochen und er hatte die Polizeiführung „kooperativ“ genannt.“
Die Welt: „Die Polizei zeigte diskrete Präsenz – weiße Mützen statt Schutzhelme.“
Konsequenzen der Nicht-Integration gewaltaffiner Gruppen?
Das gerade dargestellte Praxisbeispiel zeigt auf, dass es erfahrenen und innerhalb des jeweiligen Trägerkreises anerkannten Veranstalter_innen gelingen kann, auch gewaltaffine Gruppen auf friedliches Verhalten zu verpflichten und die flankierenden Bedingungen dafür auch mit der Versammlungsbehörde bzw. der Polizei konstruktiv zu erörtern und zu vereinbaren. Natürlich kann dieses Beispiel nicht als „Blaupause“ für alle Demoanlässe dienen – jede Veranstaltung ist anders und muss individuell geplant werden. An dem Beispiel können aber die Grundbedingungen für erfolgreiche Kommunikation und Kooperation im Versammlungsgeschehen aufgezeigt werden: Empathiefähigkeit und Respekt auf beiden Seiten; Dialog auf „Augenhöhe“; Dialogpartner_innen mit „Prokura“ ihrer Organisationen; Verlässlichkeit hinsichtlich getroffener Vereinbarungen.
Diese Grundbedingungen werden nicht immer gegeben sein. Je nach Thema, generellem Klima, Binnenstruktur einer Veranstaltung und nicht zuletzt nach der Einstellung und Kompetenz der im konkreten Fall handelnden Personen auf beiden Seiten wird es eben nicht immer zu einer tragfähigen Vereinbarung nach innen und außen kommen.
Wird dem Veranstalter_innenkreis deutlich, dass die Integration gewaltaffiner Gruppen im Sinne der Friedlichkeit nicht gelingt, stellt sich die Frage nach der Konsequenz und Verantwortung – rechtlich und moralisch. Auch Vertreter_innen der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung ist bewusst, dass es der Strategie solcher Gruppen entspricht, bei ihren militanten Aktionen andere Demonstrant_innen „ungefragt und ungewollt als Schutz und Unterstützung bietende Masse“ zu nutzen bzw. zu benutzen (vgl. Speck 2009). Mit dieser Strategie stellen sie die „Gewaltfalle“ für die anderen, (zunächst) friedlichen Demonstrant_innen, aber auch für die Polizei auf: Sie setzen darauf, dass sich die friedlichen Teilnehmer_innen solidarisch verhalten und der Polizei den Zugriff auf die Gewalttäter_innen erschweren, in der Folge selbst in Auseinandersetzungen mit der Polizei hineingezogen werden und dadurch letztlich eine tumultartige Situation entsteht, die wiederum Anlässe für neue Eskalationen und weitere Solidarisierungen bietet.
Renate Wanie hat dazu ein eindeutiges Statement abgegeben: „Randale ist keine Politik, Randale ist Randale. Gesellschaftliche Veränderungen in Richtung Emanzipation und Freiheit werden in hochentwickelten Gesellschaften nicht über Gewalteskalationen herbeigeführt. […] Die Kritik an Randalierern aus Demonstrationen heraus spaltet die Friedensbewegung nicht. Steine werfen spaltet die Friedens- und Antikriegsbewegung.“ (Wanie 2009) Dem ist nur hinzuzufügen, dass es „Polit-Hooligans“ gibt, für die Gewalt nicht nur (falsches) Mittel zum (politischen) Zweck, sondern reiner Selbstzweck ist – die politische „Begründung“ wird dem „Kick“ des vorrangigen Macht- und Gewalterlebnisses nur als Feigenblatt umgehängt.
Dauerthema Gegendemonstration
Seit Jahrzehnten stellen Demonstrationen gegen andere Demonstrationen ein schwieriges Handlungsfeld für alle Beteiligten dar. In erster Linie denkt man dabei immer an Gegen-Demonstrationen anlässlich rechtsextremistischer Kundgebungen. Das Gesamtspektrum ist aber deutlich weiter gefasst: Nationalistische Türk_innen vs. Kurd_innen oder Israel-Unterstützer_innen vs. Palästina-Unterstützer_innen sind ebenfalls wiederkehrende Konstellationen – mit Blick auf die politische (Welt-)Lage könnte das Gesamtspektrum bald noch weitere Facetten erhalten. Insoweit macht es Sinn, zunächst auf die grundsätzliche Situation Demo/Gegendemo zu schauen, um dann den häufigsten Anwendungsfall (plakativ: „Rechts-/Links-Demo“) etwas genauer zu betrachten.
Ausgangs- und Gegendemonstration stehen gleichermaßen unter dem Schutz des Art. 8 GG. Versammlungsbehörde und Polizei haben im Rahmen „praktischer Konkordanz“ grundsätzlich dafür zu sorgen, dass beide Veranstaltungen ungestört nebeneinander stattfinden können – genau dies ist aber in der Regel leider nicht das Ziel von Gegendemonstrant_innen.
Das BVerfG hat daher bereits vor 25 Jahren klar gemacht, dass der Grundrechtsschutz von Gegendemonstrant_innen endet, wenn ihr Ziel die Verhinderung der Ausgangsdemonstration ist (vgl. NJW 1991, S. 2694 f.). Das BVersG (§ 21) beschreibt derartige Verhaltensweisen als Straftatbestand: „Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen […] zu verhindern […] oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, […] grobe Störungen verursacht[…].“ Die Polizei hat daher in solchen Konstellationen den gesetzlichen Auftrag, illegale Aktionen von Meinungsgegner_innen bzw. Gegendemonstrant_innen zu unterbinden und entsprechende Straftaten zu verfolgen (Legalitätsprinzip nach § 163 Strafprozessordnung).
Blockaden „rechter“ Demonstrationen
Werden von „rechten“ Parteien oder Organisationen Demonstrationen angemeldet, kommt es meist reflexartig zu Gegendemonstrationen, deren Veranstalter_innen in der Regel keinen Hehl daraus machen, dass nicht die kommunikative Auseinandersetzung, sondern die „Verhinderung des rechten Aufmarsches“ das Ziel ist, was sich häufig auch schon im Namen der zum Teil auf Dauer angelegten lokalen Aktionsbündnisse widerspiegelt (z. B. „Köln stellt sich quer“).
Damit geschieht im Übrigen genau das, was „rechte“ Veranstalter_innen bezwecken wollen: Mit der Gegendemonstration sieht man sich als „wichtig“ wahrgenommen, es entsteht größere öffentliche Aufmerksamkeit und man kann sich gegenüber seinem Sympathisant_innenklientel als „Opfer“ illegaler „linker“ Aktionen inszenieren.
An die Versammlungsbehörde bzw. die Polizei wird dabei oft (auch von Persönlichkeiten der jeweiligen Stadtgesellschaft, die es eigentlich besser wissen müssten) der Anspruch formuliert, die „rechte“ Ausgangsveranstaltung zu verbieten. Verweist dann die Polizei auf die in den meisten Fällen entgegenstehende Rechtslage, wird von interessierten Kreisen immer wieder gern das Klischee der auf dem rechten Auge blinden Polizei bemüht – wodurch natürlich (zuweilen auch bewusst) das Klima zwischen Polizist_innen und Gegendemonstrant_innen negativ beeinflusst wird.
Diese nahezu rituellen Abläufe hat der Verfasser in den letzten 25 Jahren in zig Fällen erlebt – und in vielen Gesprächen, zumeist erfolglos, an die Veranstalter_innen solcher Gegendemonstrationen appelliert, doch mit kreativeren (für die es natürlich auch einige beeindruckende Beispiele gibt) und weniger eskalationsimmanenten Protestformen auf „rechte“ Aufmärsche zu reagieren.
Zwar sind gewaltfreie Blockaden „friedlich“ im Sinne von Art. 8 GG und können im Einzelfall in einem gewissen Rahmen als eigenständige Demonstrationsform zulässig sein – etwa wenn sie nur kurzfristig und „symbolisch“ angelegt sind, also keine massive Störung oder gar Verhinderung der anderen Demonstration bezwecken (vgl. zur komplexen Rechtsmaterie der „Blockadeproblematik“ z. B. Dietel/Gintzel/Kniesel 2011: 330 ff.). Ab einer bestimmten Intensität, insbesondere wenn sie als „Verhinderungsblockaden“ angelegt sind, muss man sie jedoch als rechtswidrig und strafbar einstufen.
Die Polizei hat also in solchen Konstellationen den Auftrag, die jeweilige „rechte“ Demonstration zu schützen und den geplanten Verlauf des Aufzuges grundsätzlich zu ermöglichen. Sie muss dabei teilweise gebetsmühlenartig im öffentlichen Diskurs darauf hinweisen, dass sie damit nicht die Inhalte der „rechten“ Kundgaben unterstützt, sehr wohl aber das Recht dieser Menschen, nicht-strafbare Inhalte öffentlich äußern zu dürfen. Wer von der Polizei etwas anderes erwartet oder fordert, skizziert damit das Bild einer Polizei, die Gesinnungen wertet und politische Zensur ausübt – sie wäre nicht mehr die Bürger(rechts)polizei des Staates des Grundgesetzes! (vgl. hierzu generell Behrendes 2013a)
Bausteine einer Vertrauenskultur
Die Grundbedingungen für den Aufbau einer Vertrauenskultur zwischen Demonstrant_innen und Polizist_innen bzw. zwischen Veranstalter_innenebene und Polizeiführung sind bereits oben benannt worden: Empathiefähigkeit und wechselseitiger Respekt für das Rollenverständnis auf beiden Seiten; Dialogbereitschaft und -fähigkeit auf „Augenhöhe“; Dialogpartner_innen mit „Prokura“ ihrer Organisationen; Verlässlichkeit hinsichtlich getroffener Vereinbarungen.
Gerade in Großstädten, in denen häufig die gleichen Veranstalter_innenkreise von Demonstrationen immer wieder Ansprechpartner_innen der Behörden sind, sollte dabei auch über den Tag hinaus gedacht werden: „Nach der Demo ist vor der Demo“. Dies soll kurz an einem Praxisbeispiel aus der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn illustriert werden.
Bonner Forum BürgerInnen und Polizei e.V.
Das „Bonner Forum BürgerInnen und Polizei e.V.“ wurde 1995 als Dialogexperiment zwischen Polizeiangehörigen und Menschen aus politischen Initiativen (u.a. der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung) gegründet. Diejenigen, die sich bei Demonstrationen in Bonn häufig „auf verschiedenen Seiten der Barrikade“ befanden bzw. empfanden, wollten ihre wechselseitigen Wahrnehmungen und Erfahrungen in einer offenen Gesprächsatmosphäre diskutieren. Da ein offener Dialog bei Wahrung der eigenen Identität und Abgrenzung nach Überzeugung der Mitglieder beider Seiten nur auf einer Diskussionsebene außerhalb der Polizeiorganisation geschehen konnte, hat sich das „Bonner Forum BürgerInnen und Polizei“ als Verein konstituiert und in der Vereinssatzung „Spielregeln“ einer fairen Diskussions- und Streitkultur festgelegt. Das erste Projekt war (noch während der Gründungsphase) die Organisation von Bürger_innen-Hospitationen im polizeilichen Alltagsdienst. Anschließend griff man in öffentlichen Themenabenden grundsätzliche und damals aktuelle Problemfelder im Verhältnis „polizeikritischer“ Bürger_innen und Polizei auf. Dabei ging es, neben lokalen Schwerpunktsetzungen u. a. um: Rassismus in der Polizei?; Polizei und KurdInnen; Castor, Demos und die Polizei; Brauchen wir eine(n) Polizeibeauftrage(n)?; Polizei im NS-Staat; Polizei und Abschiebung.
Die Mehrzahl der Polizeiangehörigen stand der Initiative eher gleichgültig, skeptisch oder ablehnend gegenüber; die aktiven Mitglieder des Bonner Forums wurden zum Teil misstrauisch beobachtet. Ähnlich distanziert verhielt sich die Polizeiorganisation. Aber auch die Mitglieder der „Bürger_innenseite“ sahen sich teilweise Misstrauen und Ablehnung in ihren jeweiligen Organisationen und Initiativen ausgesetzt. Insgesamt war das Bonner Forum in beiden „Lagern“ zwar nie mehrheitsfähig – die erzielten Ergebnisse wurden aber häufig anerkannt.
Im Vorfeld des Castor-Transportes im März 1998 nach Ahaus kam es zu einer Grobkonzeption des Bonner Forums für eine Clearingstelle zwischen der Veranstalter_innenebene der Protestbewegungen und der polizeilichen Einsatzleitung in Münster. Nach Sondierungsgesprächen mit der Bürgerinitiative Ahaus und dem für die polizeiliche Einsatzbewältigung zuständigen Polizeipräsidenten unterbreitete das Bonner Forum den Vorschlag, ein aus Fachleuten der Protestbewegungen und der Polizei paritätisch zusammengestelltes, unabhängiges Beratungs- und Vermittlungsgremium zu organisieren. Dessen Aufgaben sollten in der Unterstützung konstruktiver Kommunikation zwischen polizeilicher Einsatzleitung und Veranstalter_innenebene, der Minimierung von Falschmeldungen sowie wechselseitiger Fehleinschätzungen von Ereignissen und im Erarbeiten von Vorschlägen zur Lösung einzelner Konfliktfelder liegen. Nach Intervention des nordrhein-westfälischen Innenministeriums zog der zuständige Polizeipräsident seine grundsätzliche Bereitschaft zur Umsetzung dieses Vorschlages zurück.
Das Modell der Clearingstelle ist später auch im Vorfeld anderer Großdemonstrationen diskutiert worden – zu einer Praxiserprobung ist es aber bislang (noch) nicht gekommen.
Nach einer sehr aktiven Phase im Zeitraum 1995 – 2000 ist das Bonner Forum anschließend mit seiner Angebots- und Vermittlungsstruktur in eine „Stand-by-Funktion“ getreten, die nur noch selten öffentlichkeitswirksam aktiviert wurde. Die Kontakte beider Seiten wurden allerdings immer wieder im Vorfeld bundesweiter polizeilicher Großeinsätze (z. B. 2007 anlässlich des G-8-Gipfels in Heiligendamm) genutzt, um die Kooperation zwischen Veranstalter_innen von Großdemonstrationen und der jeweiligen Polizeibehörde in Gang zu bringen bzw. zu unterstützen. (vgl. zum Bonner Forum insgesamt Behrendes/Stenner 2008: 77-80).
Etablierung einer belastbaren, auf Dauer angelegten Dialogstruktur
Auch das Praxisbeispiel „Bonner Forum“ kann natürlich nicht als „Blaupause“ für entsprechende Dialogkreise in Berlin, Hamburg oder Dresden genutzt werden – man fängt immer bei den speziellen, wechselseitigen Erfahrungen in einem konkreten lokalen bzw. thematischen Bezug an und ist immer auch darauf angewiesen, Protagonist_innen zu finden, die überhaupt bereit sind, außerhalb des „Mainstreams“ ihrer Organisationen mit „langem Atem“ am Aufbau einer Dialog- und Vertrauenskultur zu arbeiten.
Aber auch allein auf eine konkrete Veranstaltung bezogen, darf sich der Dialog nicht nur auf die typischen „Kooperationsgespräche“ in der Vorbereitungsphase einer Demonstration beschränken. Diese müssen gerade auch das Ziel haben, stabile Kommunikationsstrukturen zwischen Veranstalter_innenebene und polizeilicher Einsatzleitung während der laufenden Veranstaltung zu etablieren, um bei einer situativen Eskalation möglichst schnell und möglichst abgestimmt deeskalierend reagieren zu können.
Die Polizei(führung) muss sich immer wieder bewusst machen, dass der Umgang mit politischem Protest den Lackmustest für ihre Verortung als (eher) Staats- oder (eher) Bürger(rechts)polizei darstellt (Winter 2000: 204). Sie muss ihrerseits alles tun, die Position konstruktiver Gesprächspartner_innen aus dem Veranstalter_innenkreis auch gegenüber solchen Gruppierungen zu stärken, die dem Dialog mit der Polizei ablehnend bzw. distanziert gegenüber stehen. Alle kreativen Demonstrationsformen unterhalb der Gewaltschwelle müssen dabei grundsätzlich „verhandelbar“ sein. Mit dem Zuwachs an gegenseitigem Vertrauen wird bei der Polizei die Bereitschaft steigen, gewisse Risiken bei der Lagebeurteilung im Interesse der Stärkung der gewaltfreien Teilnehmer_innen in Kauf zu nehmen. Jede(r) wünscht sich natürlich, dass man Vertrauen von der „anderen Seite“ geschenkt bekommt. Tatsächlich wird man sich Vertrauen aber gemeinsam erarbeiten müssen – dafür muss man sich wechselseitig die Gelegenheit geben.

UDO BEHRENDES   Jahrgang 1955, Leitender Polizeidirektor a. D.; von 1972 bis 2015 Polizeibeamter des Landes Nordrhein-Westfalen; nach der Ausbildung zum höheren Dienst seit 1988 u. a. Leiter von Polizeiinspektionen in Bonn und Köln, dabei häufig Einsatzleiter bei Demonstrationseinsätzen; zuletzt Leiter des Leitungsstabes des Polizeipräsidiums Köln.
Seit 1995 Sprecher der „Polizeiseite“ des „Bonner Forums BürgerInnen und Polizei“ e. V., eines Dialogexperiments zwischen Vertreter_innen der Bürger- und Friedensbewegung und Angehörigen der Polizei. Veröffentlichungen u. a. in den Themenfeldern Polizeigeschichte, Polizeikultur und Demonstrationsrecht.
Literatur
Behrendes, Udo (2013a): Orientierungspunkte einer Bürger(rechts)polizei. In: Frevel, Bernhard/Groß, Hermann (Hrsg.): Empirische Polizeiforschung XV: Konzepte polizeilichen Handelns. Frankfurt, S. 112 – 139
Behrendes, Udo (2013b): Polizeiliche Verantwortung und politische Erwartungen. In: Lehmann, Lena/Prätorius, Rainer (Hrsg.): Polizei unter Stress? Frankfurt, S. 28-34.
Behrendes, Udo/Stenner, Manfred (2008): Bürger kontrollieren die Polizei? In: Leßmann-Faust, Peter (Hrsg.): Polizei und Politische Bildung, Wiesbaden, S. 45-88.
Busch, Heiner/Funk, Albrecht/Kauß, Udo/Narr, Wolf-Dieter/Werkentin, Falco (1985): Die Polizei in der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt a. M. 1985
Enders, Christoph/Hoffmann-Riem, Wolfgang/Kniesel, Michael/Poscher, Ralf/Schulze-Fielitz, Helmuth: Musterentwurf eines Versammlungsgesetzes. München 2011
Dietel, Alfred/Gintzel, Kurt/Kniesel, Michael (2011): Versammlungsgesetz, 16. Aufl., Köln 2011
Gintzel, Kurt (2010): Beabsichtigte Länderversammlungsgesetze – ein vermeidbares Ärgernis. in: Die Polizei 2010, S. 1-7.
Güven, Baba Nurettin (2012): Zur Reichweite des Vermummungsverbots. NStZ 2012, S. 425-429.
Hannover, Heinrich (1968): Demonstrationsfreiheit als demokratisches Grundrecht. Kritische Justiz 1968, S. 51-59.
Kniesel, Michael/Behrendes, Udo (1996): Demonstrationen und Versammlungen. In: Kniesel, Michael/Kube, Edwin/Murck, Manfred (Hrsg.): Handbuch für Führungskräfte der Polizei – Wissenschaft und Praxis. Lübeck 1996, S. 273-354.
Kutscha, Martin (1986): Der Kampf um ein Bürgerrecht. Demonstrationsfreiheit in Vergangenheit und Gegenwart. in: Kutscha, Martin (Hrsg.): Demonstrationsfreiheit. Köln 1986, S. 13-70.
Mayer-Tasch, Peter Cornelius (1985): Die Bürgerinitiativbewegung. 5. Auflage. Reinbek bei Hamburg 1985
Schwind, Dieter/Baumann, Jürgen/Schneider, Ursula/Winter, Manfred (1990): Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland. Endgutachten der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission). in: Schwind/Baumann et al. (Hrsg.): Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Band I. Berlin 1990
Seifert, Jürgen (1998): Die Behandlung von Demonstranten als Gradmesser der Demokratie. In: Die Polizei 1998, S. 206 – 210
Speck, Andreas (2009): Zum Umgang mit der Gewalt in den eigenen Reihen. In: FriedensForum 3/2009, S. 7
Vogel, Hartmut (1969): Demonstrationsfreiheit und ihre Grenzen. in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Das Recht auf Demonstration. Bonn 1969, S. 15 ff.
Wanie, Renate (2009): Pacefahne oder Hasskappe – wir müssen uns entscheiden! In: FriedensForum 3/2009, S. 5
Willems, Helmut/Eckert, Roland/Goldbach, Harald/Loosen, Toni (1988): Demonstranten und Polizisten – Motive, Erfahrungen und Eskalationsbedingungen. München 1988
Winter, Martin (2000): Polizeiphilosophie und Protest policing in der Bundesrepublik Deutschland – von 1960 bis zur staatlichen Einheit 1990. In: Lange, Hans-Jürgen (Hrsg.), Staat, Demokratie und Innere Sicherheit in Deutschland, Opladen 2000, S. 203-220.

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