Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 178

Welcher Humanismus?

Mitteilungen17806/2002Seite 25-27

Mitteilungen Nr. 178, S.25-27

Gedanken zum bürger­recht­li­chen Lagebild Mitte 2002

Schon die Feierlichkeiten zum 40-jährigen Jubiläum der
HUMANISTISCHEN UNION, aber auch die Delegiertenkonferenz
Mitte September 2001 waren überschattet von den Attentaten in den USA. In den folgenden Monaten gab es vermutlich für zahlreiche von uns, auch für den Bundesvorstand, kaum ein Thema, was zeitlich und inhaltlich mehr herausgefordert hat, als die Sicherheitspakete von Rot-Grün. Podiumsdiskussionen wurden organisiert, warnende Artikel geschrieben, zur Zurückhaltung mahnende Presseerklärungen veröffentlicht – allerdings entstand nach Aussagen einiger, mehr denn je der Eindruck, unsere Botschaft, die „Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte“ dringe kaum noch durch. Der Bundesvorstand
hatte sich unter anderem in einer Erklärung an die Abgeordneten
des Bundestages gewandt und diese – letztlich ebenfalls vergeblich – aufgefordert, die geplante Einbringung biometrischer, also unveränderlicher und automatisch auslesbarer Merkmale von Bürgern in Pässen, Personalausweisen und in den unterschiedlichen Ausweispapieren der bei uns lebenden AusländerInnen zurückzuweisen. Immerhin war Till Müller- Heidelberg (neben drei Beiratsmitgliedern) als Sachverständiger in den Innenausschuss eingeladen und konnte dort vehement unsere aus bürgerrechtlicher Sicht glasklare Ablehnung des sogennannte Terrorismusbe-kämpfungsgesetzes verteidigen.

Zumindest ein Ergebnis unserer Kritik – im Verbund mit anderen Bürgerrechtsvereinigungen – dürfte das ausdrückliche Verbot der Errichtung einer Zentraldatei aller biometrischen Daten sein, das in der Begründung der einschlägigen Gesetzesvorschriften festgehalten wurde.

Technik und Bürger­rechte

Wer in die Geschichte der HU zurückschaut, wird nicht wenige für den Verband zentrale Themen finden, die letztlich eine intensive Auseinandersetzung mit und eine Reaktion auf die Entwicklungen der modernen Technologie darstellen. Nichts anderes war im Kern die Volkszählungsdebatte oder die unsere Arbeit prägende und seit den 70er Jahren kontinuierlich betriebene Ausweitung polizeilicher
Ermittlungsbefugnisse (zum Beispiel Raster- und Schleierfahndung)
sowie die Ausstattung von Polizei und Geheimdiensten mit neuen technischen Hilfsmitteln (ganz aktuell: der sog. IMSI-Catcher). Intensiv wahrgenommene, auch erfolgreiche Aufgabe der HU war und ist aus meiner Sicht dabei, in der politischen Debatte diejenigen
Kräfte zu fördern und zu stärken, die sich ernsthaft für eine nach den Prinzipien unserer Verfassung ausgerichteten, aktiven Gestaltung der sich je neu darstellenden und oftmals die Bürgerrechte gefährdenden Verhältnisse einsetzen.

Welchen Humanismus heute?

Auf einer Podiumsdiskussion zum 11. September wurde ich kürzlich von der Moderation befragt, wie ich es denn nun mit dem Humanismus halten würde, ob er denn nun eine Neuausrichtung erfahren müsse? Ich muss gestehen, dass ich eher trotzig reagierte und auf die anwaltliche Funktion der HUMANISTISCHEN UNION gerade in schwierigen Zeiten verwies, ganz nach dem Motto „jetzt erst Recht“.

Davon möchte ich nun auch nichts zurücknehmen. Aber wir sollten uns klarmachen, dass unter der Fragestellung „welchen Humanismus brauchen wir“ derzeit Neugewichtungen auch in vormals HU-nahen Bereichen der Gesellschaft vorgenommen werden. Da sieht einer wie Peter Glotz heute die Menschenwürde vor allem bedroht durch einen neuen Dreißigjährigen Krieg, weil der sich unter der Gefahr des Terrorismus immer deutlicher abzeichnende starke Staat dann seine Anhänger verlieren könne, wenn diese ihm die Gewährleistung versprochener Sicherheit nicht mehr zutrauten. Und er identifiziert damit den Terrorismus selbst, als die eigentliche Bedrohung auch der
Bürgerrechte, selbst wenn er sich insgesamt eher skeptisch zu den Möglichkeiten von mehr Sicherheit durch weitere Grundrechtsver-kürzungen äußert.

Aus meiner Sicht wird auch heute noch völlig zu Recht die zunächst etwas allgemein formulierte Forderung nach „menschenwürdigen Lebensbedingungen“ als die zentrale Frage des Humanismus genannt. Für den Bundesvorstand der HU kandidiert hatte ich etwa konkret mit dem Versprechen, mich für die beiden thematischen Schwerpunkte „Fragen der Gentechnologie sowie des Datenschutzes“ einzusetzen. Die gesellschaftliche Auseinander-setzung und die Antwort auf diese Technikentwicklung scheint mir –
neben zahlreichen anderen Fragen – beispielhaft für die Tätigkeit einer auf den Erhalt der Demokratie und die Bewahrung und Fortschreibung der Grundrechte gerichteten Vereinigung zu sein. Gerade hier sehe ich Entwicklungen, die uns die unsicheren „Bedingungen der Möglichkeit“ verdeutlichen, von uns als freien und gleichen DemokratInnen zu sprechen.

Gentechnik und Bürger­rechte

Auf der 17. Delegiertenkonferenz der HUMANISTISCHEN UNION vergangenen Jahres in Berlin, forderten gleich zwei Anträge aus dem Plenum unabhängig voneinander die Befassung des Verbandes mit den gesellschaftlichen Folgen der Entwicklungen in der Gentechnologie. Mit großer Mehrheit beschloss daraufhin die DK „die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, welche sich u.a.mit den gesetzlichen
Voraussetzungen, den ethischen Grundlagen und möglichen Folgen der Biotechnologie, insbesondere mit Blick auf die Menschen- und Bürgerrechte“ befassen sollte.

Rechtzeitig zum Verbandstag am 22. Juni diesen Jahres wird die Arbeitsgruppe vom Verlauf der Diskussion und den Ergebnissen ihrer Treffen berichten. Hoffentlich kann diese „Mini-Enquête“ den Anstoß für eine weitere interne Selbstverständigung, ggf. sogar eine gemeinsame Position der HUMANISTISCHEN UNION in diesen Fragen bieten. Zu den Problemfeldern der Bedingungen eines menschen-würdigen Lebens gezählt wird heute auch die Frage des gentechno-logischen Umgangs mit dem Menschen. Hier befinden wir uns auf einer vorgelagerten, grundlegenderen Ebene der Bürgerrechte, bei der, wie etwa von Jürgen Habermas vertreten, eine zentrale Grundannahme unserer Gesellschaftsordnung ins Wanken geraten könnte. Er meint, mit der fortschreitenden Entwicklung und der möglicherweise nicht mehr aufzuhaltenden Ausbreitung des
Einsatzes gentechnischer Test-, Klonierungs- und Selektionsver-fahren könnte unser normatives, auf gegenseitiger Akzeptanz beruhendes Gesellschaftskonzept und damit unser menschliches Selbstverständnis als Freie und Gleiche Schaden nehmen. Denn wie gehen (Gruppen von) Menschen miteinander um, die, womöglich je irreversibel in ihrem Erbgut verändert, nach je unterschiedlichen Vorstellungen ihrer Schöpfer, also von Menschen zumindest
mitkreiert worden sind. Wird es auch hier zu einem Gefälle zwischen Mittellosen und denjenigen kommen, die sich dann einen genetisch optimierten Nachwuchs leisten können?

Moderate BefürworterInnen der Gentechnik dagegen verweisen auf die Grenzen des derzeitigen Standes der Technik und sehen in der Debatte negative Utopien am Werk. Sie fragen konkret: Darf der Staat einem jungen Paar die Möglichkeit verschließen, auf dem Wege der bereits anerkannten In-Vitro-Fertilisation ein eigenes Kind zu
bekommen, bei dem aus mehreren Embryonen ein auf bereits
bekannte Erbkrankheiten Untersuchtes ausgewählt wird (und die überzähligen, möglicherweise erbkranken Embryonen zu Forschungszwecken verwendet oder vernichtet werden). Oder sollte, so fragen die BefürworterInnen, bis zur Pränataldiagnostik zugewartet werden, um dann, allerdings ganz legal nach eugenischer Indikation abtreiben zu können? Welche Bedeutung messen wir BürgerrechtlerInnen eigentlich Artikel 1 GG im Kontext
dieser Auseinandersetzung zu?

Globa­li­sie­rung und Bürger­rechte

Ein anderes wichtiges bürgerrechtliches Thema stellt die im weltweit agierenden, digitalen Kapitalismus sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich dar. Für viele sind überhaupt die GlobalisierungskritikerInnen derzeit die legitime und maßgeblich zu unterstützende soziale Bewegung. Aber geht nicht die Schere bereits heute auch mitten durch unsere Gesellschaft und setzt nicht erst an der Grenze zu Indien an? Bewegt (oder lähmt) nicht die
Sorge um den eigenen Arbeitsplatz die BürgerInnen weitaus mehr, als die „saturierte Frage“ nach letztlich abstrakt bleibenden Bürgerrechten?

Gleichwohl oder gerade deshalb könnte für die HU die Frage aufgeworfen sein, ob nicht mit der Beteiligung am Ausbau der in der Attac- Bewegung noch recht offenen und unfertigen Strukturen
einigen unserer bürgerrechtlicher Forderungen größerer Nachdruck verliehen werden könnte. Auf ähnliche Weise ist es uns ja auch in diesem Jahr wieder gelungen, als Mitglied des angesehenen Netzwerkes Forum Menschenrechte ganz wesentlich die innenpolitischen Forderungen mitzugestalten sowie dort im Zusammenspiel mit international agierenden Verbänden und Gruppen über unseren nationalen Tellerrand zu schauen.            Dazu vielleicht am Rande bemerkt: Jutta Limbach, Festrednerin unseres 40-jährigen Jubiläums, hat als neu ernannte Leiterin des
Goethe-Instituts angekündigt, sie werde sich für die Vermittlung
und Darstellung des Rechts, insbesondere den Bürger- und Menschenrechten als einem zentralen Bestandteil europäischer Kultur, verstärkt einsetzen wollen.

Grenzverschiebungen

Viel ist von wahrnehmbaren Grenzverschiebungen die Rede und Dieter Grimm hat kürzlich einige weitere, neben der bereits genannten Relativierung der Grenzen des bislang als sicher festgelegt geglaubten Lebens etwa durch Biotechnik und lebenserhaltende Maßnahmen, genannt:

Infor­ma­ti­ons­technik und Bürger­rechte

Weiterhin verändert die Informations- und Kommunikationstechnik
unsere Gewohnheiten und Verhaltensweisen. Nicht mehr nur Telefon und Fax, sondern auch das Internet und das E-Mail´en ist heute für viele von uns Teil des Alltags.
Der Bundesvorstand hat sich deshalb dieses Jahr entschieden,
unseren Auftritt (die Webseiten) im Internet zu erneuern und die Möglichkeiten der Nutzung, zum Beispiel das Bereithalten von aktuellen Texten, Pressemitteilungen etc. zu verbessern.
Die Ambivalenz zunehmender Digitalisierung spiegelt sich unter anderem in der damit verbundenen fortlaufenden Speicherung nahezu aller Datenströme, die heute eine umfassende Überwachung der Kommunikationsstrukturen möglich macht. Hier hat sich die Grenze sowohl des staatlichen als auch privaten Missbrauchs im Umgang mit privaten Daten von BürgerInnen enorm ausgeweitet. Der Kampf um die Herrschaft über die „Schnittstellen“ der
elektronischen Netze wird ganz aktuell geführt. Datenschutz bleibt damit ein zentrales Grundrecht, das allerdings seiner effektiven Verwirklichung jenseits von bislang mehr oder weniger symbolischer Gesetzgebung harrt. Es muss in einer undurchsichtiger werdenden und komplexen Welt mehr denn je auch von einer starken Informationsfreiheitsgesetzgebung gegenüber Staat und anderen
starken Institutionen flankiert werden. Die Demokratie lebt von der Informiertheit ihrer Bürger und schützt sich so vor weiterer Passivierung, Politikmüdigkeit und empfundener Ohnmacht gegenüber denjenigen gesellschaftlichen Verhältnissen, die wir geändert sehen möchten.

Staat und Bürger­rechte

Nicht zuletzt die Grenzen des Staates selbst verschwimmen – durch Europäisierung, Globalisierung und Internationalisierung von Aufgabenfeldern und Entscheidungsabläufen vorangetrieben – auf eine Weise, die uns nach dem angemessenen Ausgleich für dadurch bewirkte rechtsstaatliche und demokratische Verkürzungen fragen lässt. Wie geht etwa die auf Deutschland ausgerichtete HU damit um, dass in diesen Tagen auf europäischer Ebene mit der
Unterstützung des europäischen Parlamentes Rechtsvorschriften
zur allgemeinen Speicherung telefonischer Verbindungsdaten für mindestens sechs Monate geschaffen werden? Mit dieser nach deutschem Verfassungsrecht tendenziell unzulässigen Vorratsdaten-speicherung zu Ermittlungszwecken werden bürgerrechtlich schwerwiegende Fakten geschaffen, was die (zukünftig vermehrt europäische) Straftatbekämpfung der Zukunft angeht. Und droht
uns nicht letztlich die Auszehrung unserer verfassungsrechtlichen
Gewährleistungen, wenn auf EU-Ebene keine dem Grundgesetz gleichwertigen Bürgerrechte und keine ausreichend demokratischen Strukturen gewährleistet werden können?

Private und Bürger­rechte

Nach innen schließlich agiert der Staat seit einigen Jahren derart, dass von einer Verschiebung der rechtlichen Grenzen zwischen privat und öffentlich gesprochen werden kann. Kommt der Staat ausreichend seinen Schutzpflichten nach, die sich aus der Privatisierung zahlreicher vormals staatlicher Aufgaben ergeben? Erhalten die BürgerInnen zum Beispiel einen vergleichbaren Rechtsschutz wie im Verwaltungsverfahren und vor den Verwaltungsgerichten?
Wir BürgerrechtlerInnen sind gefragt,wenn die privatisierte Bahn, gemeinsam mit dem BGS, im Sinne ihres Images und Profits eben nicht nur das Rauchen auf dem Bahnsteig verbietet, sondern auch massenhaft uns BürgerInnen intensiv videoüberwacht und die Schwächsten unter uns, AusländerInnen, Obdachlose, Drogenab-hängige und andere Gruppen im quasiöffentlichen Raum in und um die Bahnhöfe belästigt und mit Hausverboten und Platzverweisen
zu vertreiben sucht. Gegen die ebenfalls sich massiv ausbreitende private Videoüberwachung öffentlicher Gehwege in unseren Städten unterstützt die HU deshalb zum Beispiel eine in Berlin zur Zeit anhängige zivilrechtliche Klage.
Zum Verbandstag 2002 in Düsseldorf, aber selbstverständlich nicht nur zu solchen Verbandsereignissen, stehen wir vor einer neuen Gelegenheit, die inhaltlich-politische Zukunft der Arbeit der HUMANISTISCHEN UNION zu diskutieren und ggf. neue Schwerpunkte zu setzen. Lasst uns die Gelegenheit gemeinsam nutzen!

                                                                                          Nils Leopold

nach oben