Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 184

Brauchen wir eine neue Patien­ten­ver­fü­gung?

Mitteilungen18401/2004Seite 2-5

Mitteilungen Nr. 184 (I/2004), S. 2-5

Auch durch unser bürgerrechtliches Engagement haben sich in den letzten Jahrzehnten Patientenverfügungen als ein wichtiges Instrument der Selbstbestimmung über das eigene Sterben durchgesetzt. Wir waren 1984 die Ersten, die eine Patientenverfügung ausarbeiteten und popularisierten. Auf der Delegiertenkonferenz haben wir die Überarbeitung unser Patientenverfügung versprochen. Geplant war, unsere bewährte Patientenverfügung nur geringfügig zu ändern. Das Überarbeitungsversprechen wurde in der Überzeugung gegeben, dass unsere Patientenverfügung, die einst ihrer Zeit weit voraus war, auch heutigen Anforderungen genügt. Inzwischen ist dies mehrfach bezweifelt worden. Gitta Neumann vom Humanistischen Verband ging auf der gemeinsamen Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Humanistischen Akademie und der Humanistischen Union im November 2003 sogar soweit, uns wegen unser Patientenverfügung, in eine Reihe mit den „Lebensschützern“ zu stellen.

Sind wir tatsächlich überholt? Wenn ja, wie müssen wir unsere Patientenverfügung ändern, und was gilt es zu fordern, um für die Selbstbestimmung und die Rechte Sterbewilliger erfolgreich zu streiten?

Die umstrittensten Fragen der Durchsetzung von Patientenverfügungen sind immer wieder:

Gilt die Patientenverfügung auch außerhalb der Sterbephase (1) bei Einwilligungsunfähigen und Unmündigen? Ist die Verfügung zur Einstellung künstlicher Ernährung verbindlich (2)? Wie verhält sich die Patientenverfügung zu den zivilrechtlichen Instituten der Bevollmächtigung und der Betreuung (3)?

1. Gilt die Patien­ten­ver­fü­gung auch außerhalb der Sterbephase ?

Heute ist grundsätzlich unbestritten, dass das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper auch beinhaltet, vorab festlegen zu können, wie bei eintretender Bewusstlosigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit mit einem selbst verfahren werden darf. Juristisch hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass der im Voraus geäußerte, auf einen Behandlungsabbruch und indirekte Sterbehilfe gerichtete Wille eines bewusstlosen Patienten befolgt werden muss. „Ist der Patient im Zeitpunkt der Maßnahme nicht einwilligungsfähig, so gilt: Eine frühere Willensbekundung, mit welcher der Patient seine Einwilligung in Maßnahmen der in Frage stehenden Art für eine Situation, wie sie jetzt eingetreten ist, erklärt oder verweigert hat, wirkt, falls der Patient sie nicht widerrufen hat, fort…“ [1]Dies ist zwar gesetzlich bislang leider noch nicht verbindlich geregelt worden, aber von der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt.

Maßgeblich sind zwei Entscheidungen:

– das strafrechtliche BGH-Urteil im sog. Kemptener-Fall und

der Beschluss eines Zivilsenats des BGH vom 17. März 2003 in einer Betreuungssache.

Im Kemptener-Fall lag keine Patientenverfügung vor. Daher ging es bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit eines Behandlungsabbruchs im Falle der nicht mehr einsichts– und urteilsfähigen Frau entscheidend um die Feststellung ihres mutmaßlichen Willens.

Der Strafsenat des BGH definierte den mutmaßlichen Willen der Betroffenen als ihren individuellen hypothetischen Willen, zu dessen Ermittlung bei fehlenden Anhaltspunkten auf „allgemeine Wertvorstellungen“, etwa die Nähe des Todes, die Aussichtslosigkeit der Prognose oder die Chance der „Wiederherstellung eines nach allgemeinen Vorstellungen menschenwürdigen Lebens“ zurückgegriffen werden müsse. Im Zweifel gehe der Schutz des Lebens vor.[2]

Damit war bei passiver Sterbehilfe eines Entscheidungsunfähigen der Dreischritt vorgegeben:

– ausdrücklicher Wille

– mutmaßlicher Wille

– Rückgriff auf allgemeine Wertvorstellungen.

Im Anschluss an dieses Urteil war zunächst umstritten, unter welchen Umständen Patientenverfügungen, in denen Umfang und Grenzen der Behandlung für den Fall eigener Entscheidungsunfähigkeit niedergelegt werden, als „ausdrücklicher Wille“ des Patienten gelten. Auf Seiten der Ärztevertretungen wurde versucht, Patientenverfügungen auf ein Indiz unter anderen herabzustufen. Das hat sich nicht durchgesetzt.

Im Beschluss über die Betreuungssache vom 17. März 2003, bei der eine Patientenverfügung vorlag, wurde festgestellt: „Liegt eine solche Willensäußerung, etwa – wie hier – in Form einer sogenannten `Patientenverfügung` vor, bindet sie als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts, aber auch der Selbstverantwortung des Betroffenen den Betreuer; denn schon die Würde des Betroffenen (Art. 1 Abs. 1 GG) verlangt, dass eine von ihm eigenverantwortlich getroffene Entscheidung auch dann respektiert wird, wenn er die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Entscheiden inzwischen verloren hat. Die Willensbekundung des Betroffenen für oder gegen bestimmte medizinische Maßnahmen darf deshalb vom Betreuer nicht durch einen `Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen` des Betroffenen `korrigiert` werden,…“[3]. Was für den Betreuer gilt, gilt auch für den Arzt. Gelten die Verfügungen aber auch außerhalb der Sterbephase ?

a) Sterbehilfe und Hilfe zum Sterben

Im Kemptener Urteil hat der BGH festgestellt, dass in der Sterbephase ein lebensbeendender Behandlungsabbruch bei Einwilligungsunfähigen grundsätzlich möglich ist. „Sterbehilfe in diesem Sinne setzt voraus, daß das Grundleiden des Kranken nach ärztlicher Überzeugung unumkehrbar (irreversibel) ist, einen tödlichen Verlauf angenommen hat und der Tod in kurzer Zeit eintreten wird …Ist… insbesondere das Merkmal der unmittelbaren Todesnähe gegeben, so hat der Sterbevorgang bereits eingesetzt. Erst in diesem Stadium ist es deshalb gerechtfertigt, von Hilfe für den Sterbenden und Hilfe beim Sterben, kurz: von Sterbehilfe zu sprechen. Sie erlaubt dem Arzt den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen wie Beatmung, Bluttransfusion oder künstliche Ernährung …“.

In dem zu entscheidenden Fall hatte der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt. Die Frau war – abgesehen von der Notwendigkeit künstlicher Ernährung – lebensfähig: tatsächlich hat sie noch über neun Monate gelebt. Eine Sterbehilfe im eigentlichen Sinn lag hier nicht vor. Es handelte sich um den Abbruch einer einzelnen lebenserhaltenden Maßnahme außerhalb der Sterbephase. Der BGH schloss aber auch für diesen Fall nicht aus, dass ein Behandlungsabbruch, also schon vor Beginn des Sterbevorgangs, zulässig ist. Bei einem unheilbar Kranken und entsprechendem Patientenwillen erkannte er eine „Sterbehilfe im weiteren Sinn (‘Hilfe zum Sterben‘) … als Ausdruck seiner allgemeinen Entscheidungsfreiheit und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) grundsätzlich“ [4]an. Damit wurde das Recht einer einwilligungsunfähigen Patientin auf Behandlungsabbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme auch außerhalb einer Sterbephase für das Strafrecht bejaht.

In der Praxis wurde damit der Behandlungsabbruch in vielen Fällen des apallischen Syndroms (Wachkoma) möglich, in denen nach der engen Definition von Sterbehilfe der „tödliche Krankheitsverlauf“ noch nicht gegeben ist. Wie der XII. Zivilsenat des BGH`s in seinem Beschluss vom 17. März 2003 diese Auffassung des Strafsenats rezipiert hat, ist umstritten. Kritiker der Entscheidung sind der Meinung, dass der Beschluss den Behandlungsabbruch außerhalb der Sterbephase, trotz Vorliegen einer Patientenverfügung, bei Einwilligungsunfähigen verneine und dadurch die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen wieder einschränke.[5]Diese Interpretation des BGH-Beschlusses vom März 2003 ist aber nicht zwingend. Zunächst stellt der Beschluss in vollem Umfang auf das Urteil im Kemptener – Fall aus dem Jahr 1994 ab. Unter III 2 c) aa) wiederholt der Zivilsenat die Unterscheidung einer „Hilfe beim Sterben“ und einer „Hilfe zum Sterben“ und bekennt sich damit auch zur Sterbehilfe im weiteren Sinne. Unmittelbar darauf bezogen wird festgestellt: „Diese objektive Eingrenzung zulässiger Sterbehilfe ist auch für das Zivilrecht verbindlich; denn die Zivilrechtsordnung kann nicht erlauben, was das Strafrecht verbietet.“[6]Dann allerdings wird die vom Strafsenat vorgenommene Differenzierung in Sterbehilfe im weiteren und engeren Sinne bzw. innerhalb oder außerhalb der Sterbephase, auf die sich der Zivilsenat bezieht, zweimal nur verkürzt wieder gegeben. Es wird die Zulässigkeit des Behandlungsabbruchs nur für den Fall des irreversiblen (und) tödlichen Verlaufs bejaht. Zugleich wird aber auch ausdrücklich festgestellt: „Die medizinischen Voraussetzungen, unter denen das Recht eine vom gesetzlichen Vertreter konsentierte Sterbehilfe (auch im weiteren Sinne) gestattet, binden den Arzt ebenso wie den gesetzlichen Vertreter.“[7] Da der zu entscheidende Fall nicht die engen Kriterien für Sterbehilfe erfüllte, dennoch die Entscheidung des Zivilsenats davon ausgeht, dass der Betreuer verlangen kann, die Behandlung einzustellen, sind die vorgenommenen Einschränkungen unerklärlich. Die Verkürzung der Zulässigkeit des Behandlungsabbruchs auf den irreversiblen und tödlichen Verlauf mag man für einen unbeabsichtigten handwerklichen Fehler halten, der im Widerspruch zu anderen Aussagen der Entscheidung steht, oder auch für die Überreste einer im Senat geführten Auseinandersetzung. In jedem Fall ist diese Aussage aber nur ein obiter dictum. Für den konkreten Fall verbindlich entschieden worden ist durch den Beschluss vom 17. März 2003 nur, dass es eine Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichtes für den Streit zwischen Arzt und Betreuer über die Rechtswirksamkeit einer Patientenverfügung zum Behandlungsabbruch gibt, nicht mehr und nicht weniger. Das heißt, dass die umstrittene Formulierung die Rechtslage nicht ändert, die Grundsätze des Urteils von 1994 gelten fort. In unserer bisherigen Patientenverfügung von 1998 (siehe HU-Internetseiten) wird m. E. noch nicht klar genug unterschieden zwischen der Sterbephase und der davor liegenden Zeit. Die Bedeutung der Patientenverfügung besteht nicht nur darin, den Behandlungsabbruch und die Schmerzlinderung unter in Kaufnahme von Lebensverkürzung (indirekte Sterbehilfe) in der Sterbephase durchzusetzen. In dieser Phase ist der Arzt zur Sterbehilfe verpflichtet. Es geht vor allem darum, mittels Patientenverfügung zu erreichen, dass es auch Hilfe zum Sterben gibt. Die erste Verfügung zum Therapieabbruch in unserer Patientenverfügung geht von einem Zustand dauernder Bewusstlosigkeit und dem Ausfall überlebensfähiger Körperfunktionen aus. Das kann man als eine Verfügung zum Behandlungsabbruch außerhalb der Sterbephase interpretieren, das ist aber nicht zwingend. Um dies klarer zu formulieren, sind hiermit insbesondere die Ärzte und sonstigen medizinischen Sachverständigen unter uns aufgerufen, sachkundige Vorschläge zu machen. Wie definiert man die Situation, für die der Behandlungsabbruch außerhalb der Sterbephase verfügt werden soll? Jede Patientenverfügung ist konstruiert nach dem „wenn – dann“ Schema. Wenn das oder jenes eintritt, soll dieses und jenes geschehen. Es gibt eine Situation (Tatbestand), die nach bestimmten Merkmalen definiert werden muss, und es gibt die Maßnahmen (Rechtsfolge), die dann erfolgen sollen. Bei der zweiten Anweisung unserer alten Patientenverfügung wird die infauste Prognose gefordert. Ist infauste Prognose aber gleich irreversibler Krankheitsverlauf und bezieht sich beides auf die Sterbephase, wie es der BGH zum Teil annimmt? Die Juristen übernehmen medizinische Begriffe zur Beschreibung von Tatbeständen, aber was diese bedeuten, wird wiederum von Medizinern bestimmt. Wenn wir weiter kommen wollen, müssen wir an dieser Stelle mehr Klarheit schaffen.

b) Kann in der Patien­ten­ver­fü­gung über den zukünftigen, unmündigen Willen bestimmt werden?

Jede Patientenverfügung kann jederzeit widerrufen werden. Genügt dafür ein natürlicher Wille zum Leben im Sinne von lebensbejahenden Äußerungen oder kann für den Widerruf verlangt werden, dass der Betroffene einsichts- und entscheidungsfähig ist? Ist also auch die Verfügung über den lebensbeendenden Behandlungsabbruch für den Fall der späteren Demenz verbindlich, selbst wenn in diesem späteren Stadium ein natürlicher Lebenswille gegeben sein sollte? Kann z.B. ein an Alzheimer erkrankter Patient verbindlich verfügen, dass in einem späteren Stadium seiner Krankheit, wenn ihm jede Erinnerung an sein früheres Leben verloren gegangen ist, dieser von ihm als „entwürdigend“ angesehene Zustand dadurch beendet wird, dass lebensnotwendige medizinische Behandlungen unterbleiben bzw. abgebrochen werden? Der Sache nach handelt es sich ebenfalls um Sterbehilfe außerhalb der Sterbephase. Im Unterschied zum Komapatienten/Bewusstlosen hat der Betroffene aber noch einen Willen, zwar einen unmündigen Willen, im Zweifel aber einen natürlichen Lebenswillen. In der Literatur werden zur Verbindlichkeit einer solchen Verfügung zwei gegenteilige Auffassungen vertreten: Eine frühere Entscheidung habe wirksam zu bleiben, wenn sie nicht durch eine Entscheidung auf der Grundlage der Fähigkeit zur Selbstbestimmung aufgehoben werde.[8] Nach anderer Auffassung geht dagegen mit dem Verlust der Autonomiefähigkeit auch die Identitätsbeziehung verloren.[9] Der heutige Patient sei mit der früheren Person nicht identisch; in seiner Entscheidung verfüge der frühere Patient deshalb über das Leben eines anderen. Diese Auffassung wird mehrheitlich vertreten. Eine entsprechende Patientenverfügung ist nach dieser Auffassung nicht durchsetzbar. M. E. ist dieser Meinung zu folgen. Auch unterhalb von Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit sind auf das Leben gerichtete Willensäußerungen zu schützen. Es wäre Sache des Gesetzgebers, über die Unwirksamkeit bzw. Wirksamkeit solcher Patientenverfügungen Klarheit zu schaffen. Das hat er bisher wohl auch deshalb nicht getan, weil es in der Gesellschaft darüber keinen Konsens gibt. Auf der November-Tagung hat ein Teil unserer Mitglieder auf der Durchsetzbarkeit auch einer solchen Verfügung bestanden. In unserer Patientenverfügung gibt es keine diesbezüglichen Anweisungen. Sollen sie aufgenommen werden?

2. Ist die Verfügung zum Abbruch der künstlichen Ernährung verbind­lich?

Obwohl bereits die Kempten – Entscheidung den Abbruch der künstlichen Ernährung für zulässig hielt, wird die Verbindlichkeit einer solchen Verfügung zum Behandlungsabbruch immer wieder bestritten. Dem liegt die Auffassung zu Grunde, die Verfügung zum Behandlungsabbruch dürfe sich wirksam immer nur auf die Einstellung lebenserhaltender (Intensiv-) Maßnahmen, nicht auf die Einstellung der Basisversorgung beziehen. Unter der Ärzteschaft ist strittig, ob künstliche Ernährung den Status einer Therapie hat, wie die Gabe von Antibiotika oder eine Beatmung, oder ob sie Teil einer Basisversorgung ist. Nach den Grundsätzen der Bundesärztekammer schließt eine Basisversorgung die menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Linderung von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie das Stillen von Hunger und Durst ein. Auch nach einem Behandlungsabbruch wird die Basisversorgung gewährleistet. Unter Hinweis auf das zur Basisversorgung gehörende „Stillen“ von Hunger und Durst wird die Zulässigkeit des Abbruchs der künstlichen Ernährung verneint. Die Kritiker sprechen vom Verhungern-Lassen, das sie anders als die Einstellung sonstiger lebenserhaltender Maßnahmen für schlechthin unzulässig halten. Weder die Rechtsprechung noch die Mehrheit der Strafrechtswissenschaft ist dem gefolgt. Sie sieht in der Beatmung, Ernährung oder Medikamentenzuführung gleichermaßen künstliche Formen der Lebensverlängerung, für deren unterschiedliche Behandlung es keinen überzeugenden Grund gibt.[10]

Nach der geltenden Rechtslage muss eine Verfügung zur Einstellung künstlicher Ernährung bei Beachtung weiterer Wirksamkeitsvoraussetzungen als verbindlich angesehen werden. Diesbezüglich war unsere Patientenverfügung eindeutig. Wegen der Auseinandersetzung zur Zulässigkeit des Abbruchs künstlicher Ernährung und deren praktischer Bedeutung sollte diese gesondert genannt werden.

3. Das Verhältnis der Patien­ten­ver­fü­gung zu den zivil­recht­li­chen Instituten der Bevoll­mäch­ti­gung und der Betreuung

In welchem Verhältnis stehen Patientenverfügung und Entscheidungen des Vertreters? Abgrenzungsprobleme entstehen in der Praxis, weil bei entscheidungsunfähigen Patienten immer ein Vertreter handeln muss. Vertreter können ein durch das Vormundschaftsgericht bestellter Betreuer oder ein im Rahmen einer sogenannten Vorsorgevollmacht gem. § 1896 BGB zivilrechtlich Bevollmächtigter sein.

Im sog. Kemptener Fall ist der BGH noch von einem Nebeneinander von mutmaßlichem Willen und einer Entscheidung durch den Betreuer bzw. Bevollmächtigten ausgegangen. Wie sich Patientenverfügung und mutmaßlicher Wille zu den zivilrechtlichen Instituten der Bevollmächtigung und der Betreuung verhalten, ist jetzt auch vom XII. Zivilrechtssenat des Bundesgerichtshofs in seinem Beschluss vom17. März 2003 klargestellt worden. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist der Betreuer an die (im Zustand der Entscheidungsfähigkeit verfasste) Patientenverfügung des Betreuten gebunden. [11] Von großer praktischer Bedeutung ist die Frage, ob sich der Betreuer oder der Bevollmächtigte die Entscheidung  für eine passive Sterbehilfe genehmigen lassen müssen. Der BGH gelangte in seinem Beschluss im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung zur Genehmigungsfähigkeit. In welchem Umfang sich aus der BGH-Entscheidung eine Genehmigungspflicht ergibt, ist hingegen umstritten. Die Rolle der Vormundschaftsgerichte will der Zivilsenat des BGH insoweit begrenzen, als ein lebensbeendender Behandlungsverzicht nicht genehmigungsbedürftig sein soll, wenn ärztlicherseits eine lebenserhaltende oder -verlängernde (Weiter-)Behandlung nicht angeboten wird, weil „sie nach Auffassung der behandelnden Ärzte, von vornherein nicht indiziert, sinnlos geworden oder aus sonstigen Gründen nicht möglich ist“. Das Vormundschaftsgericht solle nur „in Konfliktlagen“ angerufen werden. Offen geblieben ist die Frage, inwieweit der Arzt an die Patientenverfügung gebunden ist. Statt von der Bindung des Arztes an die Patientenverfügung auszugehen, wird vom BGH auf die medizinische Indikation verwiesen. Ist bei Einigkeit zwischen Arzt und Betreuer über die Wirksamkeit der Patientenverfügung der Behandlungsabbruch genehmigungspflichtig? Wenn ja, in welchen Fällen? Darüber wird die Auseinandersetzung noch weiter gehen. Neben der Patientenverfügung gibt es auch die Möglichkeit, mittels Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung über das eigene Sterben selbst zu entscheiden. Während bei der Patientenverfügung der Patient selbst die Entscheidung trifft, bevollmächtigt er hierzu in der Vorsorgevollmacht eine von ihm ausgewählte Vertrauensperson. Möglich ist deshalb die Verbindung einer Patientenverfügung mit einer Vorsorgevollmacht. Auch wenn keine Patientenverfügung gegeben ist, muss sich der Bevollmächtigte bei der Entscheidung über medizinische Maßnahmen am mutmaßlichen Willen des Vollmachtgebers orientieren. Der Patient sichert sich durch einen Bevollmächtigten einen „Anwalt“, der sich an seinem Willen orientiert und seine Interessen vorbringt. Gleichzeitig verhindert der Patient auch das staatliche Verfahren einer Betreuerbestellung, da ein Betreuer nach § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB nur bestellt werden darf, wenn die Angelegenheit nicht durch einen Bevollmächtigten oder andere Hilfen (z.B. bestehende Patientenverfügungen) besorgt werden kann. Bei Vorliegen einer Patientenverfügung ist auch der Bevollmächtigte an die Patientenverfügung gebunden. Bereits bisher war in der Patientenverfügung eine Bevollmächtigung vorgesehen. Dabei wurde der Bevollmächtigte einerseits an die Patientenverfügung gebunden, andererseits dazu ermächtigt, die Einwilligung zu medizinischen Eingriffen zu geben. Diese Kombination sollte beibehalten werden.

Prof. Dr. Rosemarie Will, HU-Bundesvorstand

[1]BGH, Beschluss vom 17. März 2003, III 2 a); unter Berufung auf v. Lipp in May et al. Passive Sterbehilfe 2002,37,43 und Fn.37 m.w.N.; Taupitz, Jochen Verhandlungen des 63. DJT 2000 Gutachten, A 41.

[2] BGHSt 40, 257, 263.

[3]BGH, Beschluss vom 17. März 2003, III 2 c) bb); wieder unter Berufung auf Taupitz, Jochen Verhandlungen des 63. DJT 2000 Gutachten, A 41 und A 106 ff.

[4] BGHSt. 40, 257, 260 f.; vgl. auch BGHSt 32, 367, 379; 35, 246, 249; 37, 376, 378 .

[5] Siehe z. B. die Stellungnahme von Neumann, G. im Forum Bioethik des Nationalen Ethikrates am 11. Juni 2003, Wortprotokoll, S. 13 f.

[6] BGH, Beschluss vom 17. März 2003, III 2 c) aa)

[7] Ebenda

[8] Dworkin, Ronald, Die Grenzen des Lebens, Reinbek b. Hamburg 1994, S. 316f.; „Das Recht eines geistig zurechnungsfähigen Menschen auf Selbstbestimmung verlangt, dass seine früheren Entscheidungen über Art und Weise seiner Behandlung im Fall der Demenz auch dann respektiert werden, wenn sie seinen Wünschen in dieser späteren Situation widersprechen“. Siehe auch Hoerster, Norbert, Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt a. M. 1998, S. 81 f.

[9] Merkel, Reinhard, JZ 1999, S. 502, 507 f.; ders. ZStW (1995), S. 545, 567 f.

[10] Vgl. Roxin, Claus, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, in: Revista Electronica de Ciencia Penal y Criminologia, REPC 01-10 V.O: (1999); S.8.

[11] BGH, NJW 2003, 1588, 1591.

nach oben