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Kulturkampf gegen gemeinsamen „Werte­un­ter­richt“ in Berlin

Mitteilungen18905/2005Seite 8-9

Mitteilungen Nr. 189, S.8-9

In Berlin tobt ein Kulturkampf, vorgetragen vor allem von den Kirchen, der CDU und der FDP. Gegner in diesem Kampf sind die Berliner Regierungsparteien und all jene, die sich für einen gemeinsamen Unterricht aller Schülerinnen und Schüler zu Wertefragen und Religionskunde und gegen die Umwandlung des Religionsunterrichts in ein staatliches Wahlpflichtfach aussprechen. Die Auseinandersetzung begann, als sich Ende Februar 2005 abzeichnete, dass es auf dem SPD-Bildungsparteitag im April eine deutliche Mehrheit der Delegierten für ein integratives Unterrichtsfach und gegen eine Abmeldemöglichkeit davon geben wird. Kurz vor und nach dem Parteitag am 9. April 2005, auf dem drei Viertel der Delegierten für einen gemeinsamen Unterricht stimmten, erreichte die Auseinandersetzung ihren Höhepunkt.

Die Grundsatzdebatte „Gemeinsamer Werteunterricht versus Wahlpflichtbereich Religion/Ethik“ ist bekanntlich nicht neu. Seit mehr als 15 Jahren wird darum gestritten. Neu ist allerdings die Maßlosigkeit, mit der die Gegner eines gemeinsamen Werteunterrichts diejenigen diffamieren, die sich dafür einsetzen, dass Jugendliche gemeinsam über die Grundwerte sprechen können, die unsere Gesellschaft tragen und lebensfähig erhalten, dass sie sich eine Grundbildung zu Kulturen, Religionen und Weltanschauungen aneignen und lernen, trotz unterschiedlichster kultureller Prägungen, religiöser bzw. weltanschaulicher Auffassungen miteinander in den Dialog zu kommen. Der bisher freiwillige Religions- und Weltanschauungsunterricht soll ausdrücklich weiter bestehen und weiter gefördert werden. Obwohl Berlin nach dem Grundgesetz – und einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Februar 2000 – nicht verpflichtet ist, Bekenntnisunterricht an den Schulen zuzulassen, wird dieser Unterricht seit Jahrzehnten großzügig unterstützt. Die Bekenntnisgemeinschaften erhalten die Personalkosten zu 90 Prozent erstattet – bei für staatliche Fächer erstrebenswerten Gruppengrößen von unter 20 Schüler/innen.

Ein gemeinsamer Unterricht wird von seinen Befürwortern nicht zuletzt wegen der enormen Pluralität von Kulturen, Religionen und Weltanschauungen in Berlin als mögliches Medium der Verständigung über freiheitlich-demokratische Grundwerte und interkulturellen Lernens unterstützt. In Berlin gibt es eine Vielzahl von Nationalitäten und mehr als 360 Religions- bzw. Bekenntnisgemeinschaften. Mehr als die Hälfte der Berliner Bevölkerung gehört keiner Bekenntnisgemeinschaft an. Derzeit gibt es bereits acht verschiedene Angebote von Religions- bzw. Weltanschauungsunterricht in Berlin. Weitere Religionsgemeinschaften überlegen, ob sie den Zugang zu den Schulen beantragen.

Viele haben die heftige Debatte in Berlin über die Medien mitverfolgen können. Ich möchte die Art und Weise, wie hier seitens der Kirche  diffamiert wurde, am Beispiel von Dr. Wolfgang Huber darstellen, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Vorsitzender des Rates der EKD. Er erwies sich in dem maßgeblich von ihm verantworteten Kulturkampf als fragwürdiger Meister der Manipulation öffentlicher Meinung. So gab er einem vergleichsweise moderat formulierten Aufruf zur Unterstützung des kirchlich favorisierten Modells eines Wahlpflichtbereiches Religion/Ethik einen Begleitbrief mit faustdicken Lügen und Unterstellungen bei (www.ekibb.de – 4. April 2005). Unter anderem behauptete er nach der zutreffenden Feststellung „114.000 Schülerinnen und Schüler besuchen den evangelischen und katholischen Religionsunterricht in Berlin“: „Die regierenden Parteien wollen dies in Zukunft verhindern. Der Religionsunterricht soll ein für alle Mal aus der Schule verbannt werden.“ In Wahrheit haben weder die SPD noch die PDS die Absicht geäußert, den Religionsunterricht in Berlin abzuschaffen oder seine finanzielle Förderung einzustellen. Weiter heißt es, nun offener diffamierend: „Die Religionsfreiheit in der Schule, die sich in der Wahlfreiheit von Lehrangeboten widerspiegelt, wird abgeschafft. Der Staat etabliert sich als Wertevermittler. Dies ist mit Blick auf die deutsche Vergangenheit ein gefährliches und verantwortungsloses Vorgehen.“ (Eine ähnliche Formulierung hat übrigens auch der Erzbischof der Katholischen Kirche Georg Sterzinsky gebraucht.) In Wahrheit bleibt die Wahlfreiheit beim bekenntnisgebundenen Religions- und Weltanschauungsunterricht auch in Zukunft erhalten. Niemand wird gezwungen, einen Bekenntnisunterricht zu besuchen bzw. sich von ihm abzumelden. Das Recht des Staates auf die Einrichtung von Pflichtfächern auch im ethischen Bereich ist kein Verstoß gegen die Religionsfreiheit, sondern sein verfassungsgegebenes Recht.

Der Bezug auf die „deutsche Vergangenheit“ bei Bischof Huber wird in der Berlin-Brandenburgischen evangelischen Wochenzeitung „Die Kirche“ (Nr. 12 vom 20.3.2005) durch Reimar von Wedel, Gründer des „Notbundes für den evangelischen Religionsunterricht“ auf die Spitze getrieben, indem er die aktuelle Situation in Berlin direkt mit der zur Zeit des Nationalsozialismus vergleicht. Er schreibt: „Viele, die unseren Aufruf zur Bewahrung des Religionsunterrichts begrüßt haben, stellen die Frage, warum dieser Vergleich: So schlimm wie 1934, als Niemöller den Pfarrernotbund gründete, ist es doch heute nicht. Das ist richtig, aber es kann so werden und manches ist schon heute vergleichbar.“

Trotz der lautstarken und demagogisch agierenden Front der Gegner hat das Vorhaben, in Berlin ein neues integratives Unterrichtsfach zu Wertfragen und interkultureller Bildung einzuführen, nicht nur in Berlin eine klare parlamentarische Mehrheit, sondern auch viele Organisationen und Persönlichkeiten gefunden, die es befürworten.

Inzwischen zeichnet sich ab, dass die Einführung des neuen Schulfaches ab dem Schuljahr 2006/2007 beginnend in den 7. Klassen erfolgen soll – übrigens eine Rücksichtnahme auf die Bekenntnisgemeinschaften, deren Teilnehmer am Unterricht zu mehr als 70 Prozent in der Grundschule zu finden sind! Dabei ist der Name des integrativen Faches noch offen: Der SPD-Parteitag hat sich für „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ (LER) ausgesprochen, die PDS favorisiert „Interkulturelle Bildung“.

Bundesweite Bedeutung des Berliner Vorhabens

Die seitens der Kirchen betriebene Hetze, von der sich viele Kirchenmitglieder distanzierten, zeugt von einem bedenklichen Niedergang kirchlicher Werte und zugleich von großer Nervosität. Aus meiner Sicht ist ein wesentlicher Erklärungsansatz dafür, dass die Kirchen(leitungen) so unchristlich „aus der Rolle fallen“, in der nicht unbegründeten Furcht zu suchen, das neue Berliner Modell integrativen werteorientierten Unterrichts könnte bundesweit Schule machen. Denn spätestens seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Ethikunterricht in Baden-

Württemberg vom 17. Juni 1998 ist klar, dass selbst in den alten Bundesländern (!) ein Pflichtfach Ethik für alle Schülerinnen und Schüler eingerichtet werden darf und Schülerinnen und Schüler, die konfessionellen Religionsunterricht besuchen wollen, dies dann zusätzlich tun müssen (BVerwG 6 C 11.97). Neuere bundesweite Umfragen weisen im Übrigen auf eine wachsende Akzeptanz für integrative Ethikfächer hin. Der kulturkämpferische Protest der Kirchen gegen das Vorhaben wird aber dennoch wohl in den nächsten Jahren nicht beendet sein. Den Berliner Regierungsparteien und den Grünen ist Kraft und Konsequenz zu wünschen, dass sie trotz des anhaltenden Getöses der Kirchen, der CDU und der FDP (voraussichtlich auch im 2006er Wahlkampf) im Gespräch mit allen dazu bereiten gesellschaftlichen Gruppen die Konzipierung, die gesetzliche Verankerung und die Einführung des neues Schulfaches vorantreiben.

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