Erstes Gustav-Heinemann-Forum: Grundstein für ein neues Diskurs-Format
Verfassungspolitischer Disput zu den Perspektiven des nationalen und europäischen Schutzes der Grund- und Menschenrechte. Mitteilungen Nr. 210 (3/2010), S. 6-11
Erstmals hat in Rastatt das Gustav-Heinemann-Forum der Humanistischen Union stattgefunden. Rund 40 Teilnehmer debattierten am 3. und 4. September 2010 im Rastatter Barockschloss – und dort im wehrgeschichtlichen Museum – über Fragen des nationalen und europäischen Grundrechtsschutzes. Die positive Resonanz beim Publikum und die Hochkarätigkeit der Referentinnen und Referenten haben den Grundstein für ein neues Format gelegt, dass zukünftig alle zwei Jahre zum verfassungspolitischen Diskurs einlädt – öffentlich und kostenlos.
Dr. h.c. Renate Jaeger, Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, und Prof. Dr. Siegfried Broß, Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, erörterten am ersten Abend in einer Art Werkstattgespräch Grundfragen des nationalen und europäischen Grundrechtsschutzes. Am Folgetag waren es zwei Fachjuristen, die am Beispiel zweier aktueller Themen das Verhältnis von nationalem und europäischem Grundrechtsschutz kritisch beleuchteten. Prof. Dr. Anne Lenze von der Hochschule Darmstadt referierte zum Thema „Existenzsicherung und Teilhabe am politischen, sozialen und kulturellen Leben. Zur Bedeutung nationalen und europäischen Grundrechtsschutzes für das ‚untere Drittel‘ der Gesellschaft“. Prof. Dr. Alexander Roßnagel von der Universität Kassel sprach über „Datenschutz und Innere Sicherheit“. In Kürze wird die Humanistische Union eine Broschüre zur Tagung vorlegen; bereits jetzt können die Vorträge als Audio-Dateien auf der HU-Webseite abgerufen werden (s. Link am Textende).
Im Werkstattgespräch zum nationalen und europäischen Schutz der Bürger- und Menschenrechte mit Dr. Jaeger und Prof. Broß, das kenntnisreich von Dr. Jürgen Kühling, Rechtsanwalt und Richter am Bundesverfassungsgericht a.D. moderiert wurde, ging es um vier Aspekte:
1. Anhäufung von Grund- und Menschenrechtskatalogen
2. Gegenseitige Prüfkompetenzen der Gerichte für Entscheidungen der anderen Instanzen
3. Sicherungsverwahrung und
4. die häufig lange Verfahrensdauer von Prozessen.
1. „Grundrechtsdschungel“ (Broß)
„Größte Bedenken“ hat Broß gegen eine Kumulation von Grund- und Menschenrechtskatalogen, weil Probleme entstehen, die justiziell nicht mehr zu bewältigen seien. Problematisch sei etwa die Verlängerung der Rechtsschutzwege, nicht zuletzt unter dem Aspekt der Subsidiarität. Durch die entstandene „Gemengelage“ bei den Grund- und Menschenrechten befürchtet Broß eher eine Schwächung als eine Stärkung im Menschenrechtsschutz. Von einem Kooperationsverhältnis der zum Rechtsschutz berufenen Gerichte hält der Bundesverfassungsrichter „schlicht nichts“: „Gerichte haben nicht zu kooperieren, sondern zu entscheiden. Kooperationsverhältnisse gibt es nur da, wo sie angeordnet sind, nämlich durch Vorlagepflichten.“
Dem widersprach die Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Jaeger: „Herr Broß hat nichts Falsches gesagt, aber ich bewerte die Fakten anders“. Die von Broß beklagte Gemengelage sei nichts Neues, schon vor Bestehen der Bundesrepublik habe es etwa die UN-Charta gegeben. Dass Kooperation der Gerichte Früchte trage, würden die an europäischen Gerichten Tätigen immer wieder erfahren – auch wenn dies keine formalisierte Kooperation sei. Jaeger: „Man schaut, was machen die anderen und wie kann man Konflikte vermeiden. Der EuGH, der bis jetzt kein Menschenrechtsgerichtshof ist, hat, um Konflikte zu vermeiden, das Straßburger Gericht immer wörtlich zitiert, sobald es zu einem Problem bei den Menschenrechten kam.“
Was die Stärkung oder Schwächung des Menschenrechtsschutzes angeht, zeigten die Zahlen, so Jaeger, dass er auf deutscher Seite funktioniere. Von 2.000 Beschwerden habe es in fünf Jahrzehnten nur sieben Verurteilungen pro Jahr gegeben, davon erfolgte die Hälfte wegen überlanger Verfahrensdauer. Es gab nur drei bis vier Fälle, wo europäisch anders geurteilt wurde als national. Ein gut funktionierender nationaler Grundrechtsschutz bewirke, dass ein europäisches Gericht nur noch ergänzend tätig werde, erklärte Jaeger.
2. Kontrollen durch den EGMR
Bei der Frage, wie intensiv die gerichtliche Kontrolle bzw. Prüfung durch den EGMR in jenen Fällen ist, in denen nationale Gerichte schon nach Verfassungsstandard entschieden haben, steht häufig das deutsche Prozessrecht im Mittelpunkt und die Zurückverweisungspraxis durch übergeordnete Gerichte. Jaeger illustrierte anhand zahlreicher Beispiele Defizite, die dem EGMR Entscheidungen gewissermaßen aufzwingen. Während Broß betonte, dass die Prüfung des Prozessrechts Sache der Fachgerichte sei und für ihn klar sei, dass der „EGMR das erste und letzte Wort (hat)“, meinte Jaeger: „Noch besser ist es, solche Entscheidungen zu vermeiden“ – beispielsweise dadurch, dass im Fall des ARD-Sportchefs Wilfried Mohren, der seinerzeit unter Korruptionsverdacht in U-Haft genommen wurde, sauber gearbeitet und begründet worden wäre, dass eine unzulässige Verfassungsbeschwerde vorlag.
3. Sicherungsverwahrung – wenn Teil der Strafe, dann gilt Rückwirkungsverbot
Artikel 5 EMRK stellt fest: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit„. Im Gegensatz zum deutschen Verfassungsrecht werden Freiheit und Sicherheit in einem Satz genannt. Für die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit gibt das deutsche Recht keine konkreten Anweisungen. Aber, so Jaeger: „Wann immer wir Entscheidungen treffen, die dann so aufgenommen werden, als würden wir die innere Sicherheit unterminieren, kann man ganz sicher sein, dass wir diesen ersten Satz des Artikels 5 EMRK nicht vergessen haben.“
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe bei der Sicherungsverwahrung Entscheidungen, die eher den Freiheitsaspekt oder den Sicherheitsaspekt betonen, in beide Richtungen für verfassungsrechtlich vereinbar gehalten. Das war bei der Verkürzung der Sicherungsverwahrung auf 10 Jahre und bei der Verlängerung der Fall. Jaeger wies darauf hin, dass in der öffentlichen Debatte häufig übersehen werde, dass der Artikel 5 EMRK freiheitsbeschränkende Maßnahmen enumerativ limitiert – die Sicherungsverwahrung zähle aber nicht zu den genannten Maßnahmen. Zu reinen Sicherungszwecken kennt der Artikel 5 EMRK keinen Freiheitsentzug.
Der EGMR habe die Strafe mit Sicherungsverwahrung in Deutschland nur insofern akzeptiert, als diese Teil der Strafe sei. Nur als Teil der Strafe konnte sie mit der EMRK in Einklang stehen. Wenn die Sicherungsverwahrung aber Teil der Strafe ist, dann gilt das absolute Rückwirkungsgebot und die Sicherungsverwahrung kann rückwirkend nicht verlängert werden.
Für Jaeger und ihre Kollegen am EGMR war die Empörung über diese Auffassung „nicht unerwartet„. Ein Gericht aber, meinte Jaeger, „das feststellt, dass der Gesetzgeber einmal einen Fehler gemacht hat, muss sich deshalb nicht beschimpfen lassen„. Der Gesetzgeber sei vielmehr aufgerufen, eine Lösung zu finden.
Broß schließt sich der Auffassung von Jaeger an und fühlt sich nachträglich durch den EGMR bestätigt. Er habe nie einen Zweifel daran gelassen, dass er das nachträgliche Fallen der Höchstgrenze wie auch die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung „schon nach deutschem Verfassungsrecht nicht für hinnehmbar“ gehalten habe. Für ihn sei der Rückgriff auf die EMRK daher nicht erforderlich. Im Übrigen sehe man hier, welche Bedeutung der EMRK unter dem Aspekt der Rechtskultur als autonomer Rechtsquelle zukomme, der sich die Staaten verpflichten. In Deutschland habe man seit Jahrzehnten die Auffassung, dass die Sicherungsverwahrung keine Strafe sei, „fast mit einem Tabu belegt.“
4. Überlange Verfahrensdauer von Prozessen
Broß: Die Unabhängigkeit der Richter macht es schwer, aufsichtlich oder ggf. disziplinarrechtlich wegen überlanger Bearbeitungsdauer gegen Einzelne vorzugehen. Die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit sei im Hinblick auf die Verfahrensdauer „kein Ruhmesblatt„. Es seien häufig Aufhebungen, Zurückverweisungen und Vorlagepflichten, die zu langen Verfahrensdauern führten.
Jaeger: Die richterliche Unabhängigkeit impliziert „nicht das Recht, nicht fleißig zu sein.“ Am EGMR zählt man die Anzahl der Instanzen von Prozessen und schaut genau, wer für Verzögerungen verantwortlich ist. Es gibt nicht nur „Ausreißer“ mit besonders langer Verfahrensbearbeitung, sondern Beschwerden auch aus Regionen in Deutschland, wo die Gerichte stark unterbesetzt sind. Wie z.B. bei den Hartz-IV-Prozessen vor Sozialgerichten deutlich werde, sei dies ein strukturelles Problem. Es wäre schon viel gewonnen, wenn in den Köpfen deutscher und anderer Richter verankert würde, dass Aufhebungen und Zurückverweisungen zur Verlängerung der Verfahren beitragen. Der EGMR verlange plausible Erwägungen zur Begründung überlanger Verfahrensdauer. Inzwischen gebe es ein Pilot-Urteil gegen Deutschland, das ein strukturelles Problem habe, weil es bisher keine Klagemöglichkeit gegen überlange Verfahrensdauer bereits während eines Prozesses kenne und auch keine Entschädigung vorsehe, wenn ein Verfahren zu lange gedauert hat. Deutschland stehe jetzt unter dem Druck, gesetzgeberisch tätig zu werden, erklärte Jaeger.
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Während das Werkstattgespräch am Freitagabend der Diskussion von verfassungsrechtlichen Grundfragen nationalen und europäischen Menschenrechtsschutzes galt, kamen am Samstagmorgen zwei Fachjuristen mit durchaus politischem Anspruch zu Wort – zur Sozialpolitik und zum Datenschutz im Verhältnis zur Inneren Sicherheit.
Prof. Dr. Anne Lenze: Grundrechtsschutz für das „untere Drittel“ der Gesellschaft
„Die Bürgerversicherung ist ein Thema für Bürgerrechtler.“ Lenze ging zunächst auf die Entwicklung des deutschen Sozialstaats im Zuge der europäischen Integration in den letzten zwei Jahrzehnten ein, dann auf das Urteil des BVerfG zum Existenzminimum vom Februar 2010 und schließlich auf die Chancen für sozialen Grundrechtsschutz durch die europäischen Grundrechte.
Zur Entwicklung des Sozialstaates
Die Schaffung eines Niedriglohnsektors in Deutschland, das Sinken der Realeinkommen der unteren 10 Prozent der Bevölkerung in den vergangenen Jahren um 9 Prozent, während das der oberen 10 Prozent um 15 Prozent gestiegen ist, und in Folge das Schrumpfen mittlerer Einkommensschichten um rund 5 Millionen Menschen vor allem in Richtung Unterschicht – diese Entwicklungen waren keineswegs Ergebnis einer nur nationalen Politik. Dabei handelte es sich um den Vollzug der sog. Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 mit dem Ziel, die EU innerhalb von 10 Jahren zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Hauptinstrumente der Strategie waren eine radikale Marktöffnung, vor allem der Arbeits-, Finanz- und Dienstleistungsmärkte, die Haushaltsdisziplin und die „Modernisierung“ der Sozialsysteme. Lenze: „Seitdem ist soziale Sicherheit nicht mehr – wie im Konzept der sozialen Marktwirtschaft – ein Regulativ zum Markt, sondern selbst Teil des Marktes geworden.“ Aus dem jährlich von der Bundesregierung in Brüssel vorzulegenden beschäftigungspolitischen Aktionsplan, der über die Umsetzung der Beschäftigungsstrategie nach Artikel 148 EU-Vertrag berichtet, wird deutlich, dass große Teile der Agenda 2010 als Erfüllung der europäischen Vorgaben ausgewiesen werden. Beispiele: Lockerung des Kündigungsschutzes, Reduzierung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitslose, Reform der Unternehmensbesteuerung, Senkung der Körperschaftssteuer und Senkung des Spitzensteuersatzes von 53 Prozent im Jahr 1999 auf 43 Prozent in 2005. „In Deutschland haben sich ungebrochen marktradikale Sichtweisen durchgesetzt„, erklärte Lenze.
Auch das BVerfG habe diesen „tektonischen Verschiebungen“ im Sozialsystem nichts entgegengesetzt, was nicht zuletzt an dessen „konturenloser Rechtsprechung“ zum Sozialstaatsprinzip liege, meinte Lenze. Zudem müsse man sehen, dass der Sozialstaat in Deutschland wesentlich von den Beschäftigten abhänge. Die Lohnquote am Volkseinkommen sinkt, dennoch müssten immer mehr Menschen abgesichert werden. Lenze: „Das kann nicht gut gehen; wir erleben gerade die letzten Jahre der Ruhe vor dem Sturm. Im nächsten Jahrzehnt gehen die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand – dann wird das System zusammenbrechen.“ Wenn die Politik nicht handele, würden drastische Kürzungen dann als einzige Möglichkeit ausgegeben.
Das Urteil des BVerfG zum Existenzminimum vom Februar 2010
Seit den 90er Jahren besteht ein enormer Druck auf die Regelsätze der Arbeitslosenversicherung. Deren Höhe wurde letztlich in interministeriellen Arbeitsgruppen mit Geheimhaltungspflicht, „in Hinterzimmern und in Handsteuerung nach Pi mal Daumen“ (Lenze) festgelegt nach dem Motto: Was können wir uns leisten? Beim Gesetzgebungsprozess zum SGB II wurde dies deutlich. Erst wurde die Höhe des Regelsatzes festgelegt – damals 348 € – und ein halbes Jahr später folgte die Berechnung in der Regelsatzverordnung.
Deren Berechnung ist ein zentraler Kritikpunkt des BVerfG-Urteils vom 9. Februar 2010. Das BVerfG hat darin erstmals festgestellt, dass der Staat im Rahmen des Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet ist, dafür Sorge zu tragen, dass Hilfebedürftigen die materiellen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zur Verfügung zu stellen sind. In dieser grundrechtlichen Arbeitsteilung von Menschenwürde-Postulat auf der einen und Sozialstaatsauftrag auf der anderen Seite übernimmt das Menschenwürde-Postulat den Anspruch dem Grunde nach; und das Sozialstaatprinzip soll den Anschluss an einen gesellschaftlichen Mindeststandard herstellen. Lenze: „Das Sozialstaatsgebot des Artikel 20 Absatz 1 GG hält den Gesetzgeber an, die soziale Wirklichkeit zeit- und realitätsgerecht im Hinblick auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums zu erfassen, die sich etwa in einer technisierten Informationsgesellschaft anders darstellt als früher„. Das BVerfG kritisiert die Methode der Berechnung, die sich an den Verbrauchsausgaben der nach ihrem Einkommen geschichteten unteren 20 Prozent der Gesellschaft orientiert – wobei es diese Ausrichtung grundsätzlich für geeignet hält. Allerdings müsse dafür gesorgt werden, dass auch nur die Haushalte in die Referenzgruppe einbezogen werden, die über dem Niveau der Hartz IV-Sätze liegen. Folglich müssten, so Lenze, jene 3 bis 4 Millionen Menschen, die in Deutschland Ansprüche nach SGB II hätten, diese aber nicht wahrnähmen, aus der Referenzgruppe herausgerechnet werden.
Positives im Urteil des BVerfG
Da aus der Verfassung natürlich kein Betrag für die Höhe der Regelleistung herausgelesen werden kann, muss sich der Grundrechtsschutz auf das Verfahren erstrecken. Regelsätze müssen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig begründet werden, und zwar durch ein Parlamentsgesetz. Mit der Begründetheit und Transparenz des Berechnungsverfahrens sind Forderungen aufgestellt worden, „die in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen sind.“ Der „radikalste Satz des Urteils“ (Lenze) lautet: „Legt der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren die eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nicht nachvollziehbar offen, so ist per se von der Unvereinbarkeit der Höhe der Regelleistung auszugehen„. Damit ist das alte „Hinterzimmerverfahren“ der Festlegung der Regelsätze hinfällig geworden, erklärte Lenze.
Wichtige Folge der Entscheidung des BVerfG sei auch, dass das Lohnabstandsgebot zumindest im Verfassungsrecht obsolet sei, wenn auch nicht politisch. Ohne dass das Gericht den Begriff Lohnabstandsgebot verwendet, wird deutlich, dass dessen bisherige Definition nunmehr verfassungswidrig sei. Das Lohnabstandsgebot ist „einfach gesetzlich“ in § 28 Sozialgesetzbuch 12 verankert und besagt, dass eine 5-köpfige Familie, die Leistungen bezieht, nicht mehr Geld zur Verfügung haben darf als ein entsprechender Geringverdiener mit derselben Haushaltsgröße – also Geringverdiener mit Ehefrau und drei Kindern. Das BVerfG stellt aber fest: „Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ Wenn der Gesetzgeber dem nicht nachkomme, sei das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig. Lenze: „Das einfach gesetzliche Lohnabstandsgebot kann das Existenzminimum nicht drücken; wer es einhalten will, kann dies nur noch durch Mindestlöhne tun.“
Defizitäres im Urteil des BVerfG
Das BVerfG ist nicht auf die sozialstaatliche Verteilungsfrage eingegangen, die in der seinerzeitigen Vorlage des Hessischen Landessozialgerichtes (LSG) Gegenstand war. Das LSG hatte darauf hingewiesen, dass in der Einkommens- und Verbrauchsstatistik die hohen Einkommen nicht berücksichtigt seien (Abschneidegrenze bei 18.000 €). Es hielt dies für verfassungswidrig mit Bezug auf eine ältere Rechtsprechung des BVerfG, wonach der Gesetzgeber bei steigendem Finanzbedarf alle Einkommensgruppen gleichermaßen einbeziehen müsse. Darauf ist das BVerfG nicht eingegangen.
Es fehlt auch der ältere Hinweis des BVerfG zum Sozialstaatsprinzip, wonach das Sozialstaatsprinzip den Gesetzgeber anhalte, mehr Gleichheit durch den Abbau von Wohlstandsdifferenzen herzustellen und insgesamt für einen Ausgleich der Gegensätze und damit für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen.
Bedauerlicherweise hat sich die mit dem Urteil verbundene Hoffnung auf eine öffentliche Debatte, in der sich Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Parteien und Betroffenenverbände einschalten, nicht erfüllt. Ministerin von der Leyen fokussiere die Diskussion auf „Nebenkriegsschauplätze“ wie die Frage von Sachleistungen/Dienstleistungen für Kinder. Die wirklichen Fragen müssten sich aber auf die Referenzgruppe beziehen und Fragen klären wie die Einbeziehung von Ein- oder Mehrfamilienhaushalten, die Herausnahme von verdeckter Armut aus der Referenzgruppe usw.
Was können wir von der Europäischen Grundrechtecharta erwarten?
Zunächst muss nüchtern festgestellt werden, dass die Mitgliedstaaten nicht an die Grundrechtecharta gebunden sind, wenn sie kein Unionsrecht durchführen oder außerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechts agieren. Allerdings kann dieser Anwendungsbereich weit ausgelegt werden. Schätzungen besagten, so Lenze, dass 60-80 Prozent aller Regelungen in Deutschland bereits von EU-Recht initiiert sind. Folgende Fragen, die auch die Diskussion in Rastatt bestimmten, stellen sich: Kann die Grundrechtecharta dem „Herunterkonkurrieren“ bei den Unternehmenssteuern, den Sozialstandards oder den Löhnen etwas entgegensetzen? Kann die Grundrechtecharta strukturelle Veränderungen begünstigen, da es ja nicht nur um individuellen Rechtsschutz geht? Könnte etwa ein europäisches Grundrecht auf Bildung die Strukturen unseres Bildungssystems derart verändern, dass der Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abgekoppelt wird? Könnte das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit dazu führen, dass im Rahmen einer Bürgerversicherung die Sozialkosten auf mehr Schultern verteilt würden? Derartige Hoffnungen beurteilt Lenze skeptisch, insbesondere angesichts der aktuellen Erfahrungen mit Griechenland und Spanien: „Zur Zeit sehen wir, dass ganze sozialstaatliche Arrangements praktisch in staatsstreichähnlichen Aktionen geschliffen werden. Hier können europäische soziale Grundrechte sehr wenig ausrichten.“ Umso wichtiger sei es, dass ein Thema wie die Bürgerversicherung auf die politische Agenda von Bürgerrechtsorganisationen genommen würde, erklärte Prof. Lenze. Rechte müssten national durchgesetzt werden.
In der Diskussion wurde u.a. auf das Dilemma von Bürgerrechtsgruppen hingewiesen, die den europäischen Integrationsprozess zwar unterstützt haben, in der Folge aber mit den negativen Konsequenzen konfrontiert seien.
Als zweites Thema des Gustav-Heinemann-Forums am Samstagmorgen referierte
Prof. Dr. Alexander Roßnagel über „Datenschutz und Innere Sicherheit“
Eingangs-Thesen: „Unsere Freiheit droht im technischen Rüstungswettlauf zwischen Kriminellen und den Verteidigern der Inneren Sicherheit zerrieben zu werden. Zur Verteidigung der Freiheit können wir uns unmittelbar nur an den Staat wenden. Dieser soll uns vor Kriminellen und Terror schützen, dabei ist er aber an Verfassung und Grundrechte gebunden. Er darf die Verteidigung der Inneren Sicherheit nicht in einer Weise betreiben, die Grundrechte missachtet. Die einzig relevante Instanz, dies einzufordern, ist offensichtlich das BVerfG. Doch sind auch dessen Handlungsmöglichkeiten beschränkt und ersetzen nicht bürgerrechtliches Engagement. Dieses kann aber an Argumente aus der Rechtsprechung anknüpfen.“
Zur Begründung dieser Thesen beschreibt Roßnagel zunächst den Grundkonflikt zwischen Freiheit und Sicherheit, der sich durch die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik weiter verschärfen würde. Sodann geht er auf die Grundrechte ein, die durch die Maßnahmen der Inneren Sicherheit beeinträchtigt werden. Es folgt eine Darstellung der Rechtsprechung des BVerfG zu den zahlreichen Maßnahmen im Bereich der Inneren Sicherheit des letzten Jahrzehnts.
Hauptthema zahlreicher Entscheidungen des BVerfG war die Frage, wie die Voraussetzungen für Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit der Überwachungsmaßnahmen konkretisiert werden müssen. Auch die Prävention zur Gefahrenabwehr hat das BVerfG als Ziel von Grundrechtseingriffen grundsätzlich akzeptiert. Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahmen sind dabei gleichermaßen erforderlich.
Die praktische Relevanz der vom BVerfG definierten Kriterien der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Gesetze in der Vergangenheit vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand hatten. Am Fehlen der Verhältnismäßigkeit sind z.B die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung, zur Online-Durchsuchung, zur Rasterfahndung, zum Kfz-Kennzeichen-Sccanning, zur polizeilichen Telekommunikationsüberwachung, zur strategischen Telekommunikationskontrolle des BND und zur Wohnraumüberwachung gescheitert. Am Fehlen der Bestimmtheit ihrer gesetzlichen Regelungen sind z.B. gescheitert: Die Online-Durchsuchung, das Kfz-Kennzeichen-Scanning und die polizeiliche Telekommunikationsüberwachung.
Das BVerfG habe erkannt, so Roßnagel, dass die Kriterien der Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit nur im Einzelfall wirken und nur Form und Umstände der staatlichen Überwachung betreffen, die Überwachungsmaßnahmen jedoch nicht umfassend und effektiv begrenzen. Daher hat das BVerfG nach absoluten Grenzen staatlicher Überwachung gesucht. Diese findet es
- erstens im Verbot der gänzlichen oder teilweisen Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit, die mit der Würde des Menschen unvereinbar ist
- zweitens im absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung und
- drittens in der Freiheit vor totaler Erfassung, die zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland zählt.
Eine Gesetzgebung, die auf eine möglichst flächendeckende vorsorgliche Speicherung aller für die Strafverfolgung oder Gefahrenprävention nützlichen Daten zielte, wäre von vornherein mit der Verfassung unvereinbar, erklärte Roßnagel. Daher müsse sichergestellt sein, dass auch durch alle Überwachungsmaßnahmen zusammengenommen keine Erfassung und Rekonstruierung der Aktivitäten der Bürger möglich ist. Zur Wahrung ihrer verfassungsrechtlichen Identität könne die Bundesrepublik sogar verpflichtet sein, in europäischen und internationalen Zusammenhängen gegen weitergehende Überwachungsmaßnahmen zu stimmen.
Aufgaben für Bürgerrechtsorganisationen
Für Roßnagel ist die Proklamation der absoluten Grenzen zwiespältig, denn sie könne „leicht zur Rechtfertigungsrhetorik für weitere Überwachungsmaßnahmen verkommen„. Wenn bei jeder neuen zur Überprüfung anstehenden Maßnahme festgestellt würde, dass diese hohen Hürden der Absolutheitsgrenze noch nicht erreicht seien, helfe diese Grenze in der Praxis nicht: „Entscheidend ist, ob es gelingt, die Absolutheitsgrenzen zu konkretisieren und in praktischen Fällen auch zur Anwendung zu bringen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht bisher nicht getan.“
Die absoluten Grenzen auszuformen und zu konkretisieren, wäre eine Aufgabe engagierter Rechtswissenschaft, aber auch von Bürgerrechtsorganisationen, meinte Roßnagel. Das gelte auch für die Überwachungs-Gesamtrechnung, die die Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung vorsieht. Demnach sind alle staatlichen Überwachungsmöglichkeiten zusammen derart zu beschränken, dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst wird. Auf der Basis einer Gesamtbetrachtung aller verfügbaren staatlichen Überwachungsmaßnahmen sei neben der herkömmlichen Verhältnismäßigkeit auch die Verhältnismäßigkeit der Gesamtbelastungen bürgerlicher Freiheiten zu prüfen. Überwachungsmaßnahmen könne der Gesetzgeber demnach nur austauschen, aber nicht kombinieren. Roßnagel: „Wenn der Gesetzgeber auf die Vorratsdatenspeicherung des Telekommunikationsverkehrs setzt, darf er nicht zugleich auf Vorrat Daten über den Straßen- und Luftverkehr oder den Energieverbrauch speichern lassen. Er muss das effektivste Mittel wählen und in anderen Gesellschaftsbereichen auf weniger effektive Überwachung verzichten.“
Man müsse zudem fragen, wie die Argumentationen des BVerfG aufgegriffen und fortentwickelt werden können. Zwar sei dem BVerfG bei seinen Entscheidungen Weitsicht zu attestieren, die u.a. auch auf der Nutzung von Vorarbeiten der Bürgerrechtsorganisationen beruhte. Allerdings sei das Wissen über das Hineinwachsen von Lebensbereichen in die Überwachungsermächtigungen angesichts der zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung noch gering und auch vom BVerfG kaum thematisiert worden, stellte Roßnagel fest. Auch darin sieht er eine neue wichtige Aufgabe für Bürgerrechtsorganisationen.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat sich neben dem Telekommunikationsgeheimnis inzwischen zum wichtigsten Grundrecht der entstehenden Informationsgesellschaft entwickelt. Ob daneben Bedarf für das neue Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme besteht, wird sich zeigen müssen. Roßnagel: „Noch ist nicht deutlich, in welchen besonderen Anwendungsfällen es Schutz gewährt, in denen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung versagt. Die Anwendungsmöglichkeiten des neuen Grundrechtes auszuloten und argumentativ zu erproben, könnte ebenfalls eine Aufgabe von Bürgerrechtsorganisationen sein.“
Eine weitere Aufgabe für Bürgerrechtsorganisationen bleibe die Kontrolle der praktischen Umsetzung der Vorgaben des BVerfG. Der Gesetzgeber wurde vom BVerfG mehrfach an seine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht erinnert – und zwar wegen des für den Grundrechtsschutz riskanten technischen Wandels. Der Gesetzgeber muss die technische Entwicklung beobachten und gesetzliche Regelungen nachbessern, wenn Grundrechte stärker als erwartet durch technische Entwicklungen beeinträchtigt werden. Diese Kontrollaufgabe bei der Umsetzung der Vorgaben des BVerfG gebe Bürgerrechtsorganisationen die Legitimation, das Parlament auf Fehlentwicklungen hinzuweisen und Korrekturen in der Rechtsordnung einzufordern, erklärte Roßnagel. Die Kontrolle der Umsetzung sei in soweit wichtig, „als Technikanwendungen in die Tatbestände von Überwachungsermächtigungen hineinwachsen„.
Schließlich sei es auch Sache der Bürgerrechtsorganisationen, sich in die Diskussion der Übertragbarkeit der Argumentation des BVerfG auf die Grundrechtecharta einzumischen und auf europäischer Ebene diese Argumentation geltend zu machen, regte Roßnagel an. Dies sei wichtig, weil die EU seit dem Lissaboner Vertrag vom Dezember 2009 neue Kompetenzen erhalten hat. Nach Artikel 87 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union kann sie Rechtsnormen erlassen, die das Einholen, Speichern, Verarbeiten, Analysieren und Austauschen sachdienlicher Informationen zur Verhütung oder Aufdeckung von Straftaten regeln. Daher sei zukünftig vermehrt mit Rechtsakten der EU zur Inneren Sicherheit zu rechnen.
Werner Koep-Kerstin
ist Mitglied des Bundesvorstandes