Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 210

Karlsruhe und Politik

Mitteilungen21010/2010Seite 29

Mitteilungen Nr. 210 (3/2010), S. 29/30

Karlsruhe und Politik

Schlögel, Martina:
Das Bundesverfassungsgericht im Politikfeld Innere Sicherheit. Peter Lang 2010, 27,80 €, 160 S.

Bei der hier zu besprechenden Schrift handelt es sich – wie bereits der Titel nahe legt – um eine politikwissenschaftliche Abhandlung. Die Autorin wählt deshalb eine Betrachtung der Spruchpraxis des obersten deutschen Gerichts, die der vor allem juristisch geprägten Sicht vieler Aktiver der Humanistischen Union auf Karlsruhe allenfalls entfernt ähnelt. Schon deswegen bietet das Buch – soviel sei vorweggenommen – eine reizvolle Lektüre.

In methodischer Hinsicht umreißt Schlögel zunächst die wesentlichen Debatten, die den Untersuchungsgegenstand charakterisieren. Hierzu zählt auch eine skizzenhafte Vorstellung der im Politikfeld Innere Sicherheit wichtigen Diskurse. Dies war einleitend erforderlich, weil sodann eine – ansonsten kaum nachvollziehbare – Fokussierung auf das Bundesverfassungsgericht als rechtliche Kontrollinstanz der Legislative erfolgt. Diese besteht in der Untersuchung der Frage, auf welche Weise sich seine Tätigkeit im Einzelnen auf (andere?) politische Akteure auswirkt und wie das Selbstverständnis der Verfassungsrichter einzuschätzen ist. Immerhin war in der jüngeren Vergangenheit der Vorwurf selbst aus den Reihen der Karlsruher Richter zu vernehmen, dass das Gericht das Gebot der Zurückhaltung gegenüber der gesetzgebenden Gewalt verletzt und sich Kompetenzen angemaßt habe, indem es über den vom Fall her gebotenen Prüfungsumfang hinausgegangen sei (so die Richterin Haas in ihrem abweichenden Votum zur Rasterfahndungsentscheidung – BVerfGE 115, 320 ff.). In diesem Sinne hätte das Gericht „judicial activism“ betrieben (S. 36 f.). Mit diesen Erörterungen führt die Autorin den Leser / die Leserin auf ihre zentrale Frage hin: Wie politisch ist die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts bzw. wie ist sie motiviert?

Einer der Hauptteile der Arbeit befasst sich mit einzelnen Entscheidungen, deren Auswahl sich an der angenommenen Relevanz für diese Leitfrage orientierte (S. 47 ff.). Jeweils wird kurz der diskursive und – soweit erforderlich – legislative Kontext einer Entscheidung aufbereitet und sodann ihr Inhalt referiert. Schließlich werden die medialen und rechtswissenschaftlichen Reaktionen auf die Judikatur skizziert. Das gelingt Schlögel jeweils auf jeweils drei bis vier Seiten, womit sie gleichzeitig vermittelt, dass es ihr jeweils lediglich auf eine komprimierte Zusammenfassung ankam. Gerade diese Prägnanz macht ihre Arbeit aber lesenswert für eine breitere (und eben gerade nicht nur juristisch geschulte) Leserschaft. Aber auch der Jurist sollte dieses Kapitel nur dann überblättern, wenn ihm aus früherer Befassung mit dem zweiten Abhör-Urteil (BVerfGE 67, 157 ff.) beispielsweise noch geläufig ist, dass vor der Einführung der sog. strategischen Telefonüberwachung zur Früherkennung von Angriffen auf die BRD erwogen worden war, ein Geheimgesetz vom Bundestag verabschieden zu lassen, dessen Inhalt nicht einmal den Parlamentariern bekannt gewesen wäre (S. 50 f).

In chronologischer Reihenfolge werden zunächst das Volkszählungsurteil und sodann die 14 wichtigsten, auf das Sicherheitsrecht bezogenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bis hin zur einstweiligen Beschränkung der Nutzung der Vorratsdaten dargestellt. Dabei hätte man sich freilich eine wenigstens kurze Begründung gewünscht, weshalb mit der Geburtsstunde des modernen Datenschutzes (BVerfGE 65, 1 ff.) begonnen wurde und frühere Entscheidungen, etwa das Erste Abhör-Urteil von 1970 (BVerGE 30, 1 ff.) außer Betracht bleiben.

Schließlich gelangt Schlögel zum eigentlichen Kern ihrer Untersuchung: Der Frage danach, welche Wechselbeziehungen zwischen politischem Raum einerseits und Verfassungsrichtern andererseits bestehen. Hier wendet sie sich zunächst theoretischen Erklärungsmodellen zu und erläutert zunächst – offenbar in Ermangelung europäischer Untersuchungen – mit dem „spieltheoretischen Ansatz“ des us-amerikanischen Politologen Vanberg, der – kurz gefasst – davon ausgeht, dass Verfassungsrichter, indem sie eine Entscheidung fällen, hoffen, Einfluss auf das jeweilige Politikfeld nehmen zu können, oder zumindest den politischen Rahmen beeinflussen zu können (S. 101 f.). Letztlich liefe dies auf ein kalkuliertes Wechselspiel zwischen politischen Mehrheiten bzw. der Legislative und Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus. Im Anschluss hieran wird eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes beschrieben, die in der – kaum zu bestreitenden –  Erkenntnis besteht, dass das Bundesverfassungsgericht als Institution seinerseits mehr oder weniger stark von seinem politischen Umfeld beeinflusst wird und seine Möglichkeit, Politik zu gestalten, letztlich von der Fähigkeit der Verfassungsrichter abhänge, ihre Entscheidungen an das politische Umfeld anzupassen. Hierzu sei das Gericht durchaus auf eine gesellschaftliche Wertschätzung angewiesen (S. 106 ff.). Ein letzter, von Schlögel referierter Ansatz will letztgenannte „Aktivierung der öffentlichen Unterstützung“ ausblenden, weil schon das Verhältnis zwischen diffuser und spezifischer, also entscheidungsbezogener Unterstützung der Institution weitgehend unbekannt sei (S. 110 ff.).

Mit diesen theoretischen Ansätzen gelangt Schlögel auf die Zielgerade ihrer Untersuchung und betrachtet 14 Entscheidungen im Hinblick auf die mögliche Motivation der Verfassungsrichter (S. 115 ff.). Bei den Freiheitsrechten (die Zuständigkeit liegt insoweit primär bei dem ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts) sieht sie eine „geringe Zurückhaltung“ der Karlsruher Kontrolleure, und zwar speziell seit der Entscheidung zum Lauschangriff vom 3.3.2004 (BVerfGE 109, 279 ff.). Und schließlich fragt sie nach den Gründen eines von vielen Rechtswissenschaftlern konstatierten Wandels in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und speziell des Ersten Senats. Hierbei greift sie auch auf Interviews mit amtierenden und ehemaligen Richtern des Bundesverfassungsgerichts zurück und überprüft deren Aussagen anhand der theoretischen Erklärungsmodelle. Schlögels Ergebnis: Die Richterinnen und Richter sehen sich durchaus als Wahrer des Rechtsstaats und scheuen weder in persönlicher Hinsicht noch institutionell einen Widerspruch zu legislativen Entscheidungen. Zugleich weichen sie nach Schlögel aber regelmäßig der offenen Konfrontation mit dem Gesetzgeber aus (S. 130).

Der Autorin gelingt mit ihrer Arbeit der Einstieg in einen Diskurs, der auch in der Humanistischen Union gelegentlich zu Kontroversen führt: Wie sehr darf sich eine Bürgerrechtsorganisation auf Karlsruhe „verlassen“ bzw. die Judikatur der „Roten Roben“ zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit machen? Eine Antwort auf diese Frage gibt Schlögel selbstverständlich nicht. Aber sie leistet einen wichtigen Beitrag zu einem erst am Anfang stehenden Diskurs über die Stellung, Funktion und Funktionsweise des Bundesverfassungsgerichts im Politikfeld Innere Sicherheit.

Fredrik Roggan
ist stellv. Bundesvorsitzender der HU

nach oben