Beitragsbild Die Evaluation als Bürgerrechtsfrage
Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 214

Die Evaluation als Bürger­rechts­frage

Mitteilungen21410/2011Seite 1-3

10 Jahre nach 9/11 fehlt noch immer eine nüchterne Bilanz der Terrorismusgesetzgebung. Aus: Mitteilungen Nr. 214 (3/2011), S. 1-3

Die Evaluation als Bürgerrechtsfrage

Der Ausgangs­punkt

Der Gesetzgeber hat die Terroranschläge vom 11. September 2001 unter anderem dazu genutzt, die Befugnisse der Geheimdienste zu erweitern. Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst und Militärischer Abschirmdienst wurden ermächtigt, umfangreiche Informationen einzuholen, zu speichern und auszuwerten. Dazu gehören Auskünfte über Kontobestände, Geldbewegungen und -anlagen, Post- und Luftverkehr, Telekommunikationsverbindungsdaten und Daten zur Nutzung von Telediensten. Um die kritische Öffentlichkeit zu beruhigen, wurden diese Befugnisse zunächst bis zum 11. Januar 2007 befristet. Zugleich wurde durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz von 2002 eine Pflicht zur Evaluierung der neuen Kompetenzen gesetzlich vorgeschrieben. Zweifelnde Abgeordnete konnten wenigstens hoffen, dass die neuen Überwachungsbefugnisse nach ihrer Evaluation (und einem Abstand von fünf Jahren zu den Terroranschlägen) wieder aufgehoben würden.

Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Wie sich schnell herausstellte, erfüllte die gesetzliche Evaluierungsklausel eine reine Alibi-Funktion. Ihr fehlten jegliche Vorgaben, nach welchen Kriterien evaluiert werden soll und wer Träger des Verfahrens ist. Aus Anlass der Verlängerung, fand vor fünf Jahren die Karikatur einer Evaluation statt (Hirsch, Roggan). Jene „Evaluation“ bestand aus einem Bericht von Anwendern der gesetzlichen Vorschriften, die dem Gedanken verpflichtet waren, dass sie im Anti-Terror-Kampf jede Art von Befugnissen brauchen. Egal wie oft einzelne Befugnisse genutzt wurden, welche Ermittlungsgewinne damit zu erzielen waren (oder nicht) – ihre Schlussfolgerung war immer die gleiche: die Überwachungsbefugnisse müssen verlängert und erweitert werden. Welchen Beitrag einzelne geheimdienstliche Befugnisse tatsächlich zum Anti-Terror-Kampf geleistet haben, wurde mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn ernsthaft analysiert. Auch machten sich die Berichterstatter nicht die Mühe, die eigentliche terroristische Bedrohungslage zu bewerten. Über alle diese Mängel des „Evaluationsverfahrens“ sahen die Abgeordneten der Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD geflissentlich hinweg. Sie verlängerten und erweiterten ohne Zögern die 2001/2002 unter Rot-Grün eingeführten Überwachungsbefugnisse mit dem am 5. Januar 2007 in Kraft getretenen Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz (TBEG). Erneut wurden die KritikerInnen mit einer – diesmal vermeintlich besseren – Evaluation besänftigt, die Überwachungsbefugnisse bis Januar 2012 befristet.

Die CDU/CSU eröffnete die neuerliche „Evaluationsrunde“ mit der Forderung, die Januar 2002 eingeführten Überwachungsbefugnisse ohne weitere Vorbehalte zu entfristen. Das führte koalitionsintern zum Streit über die Evaluation, der mit einem wissenschaftlichen Gutachten befriedet werden sollte. Das Gutachten wurde von Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff von der Europa-Universität Viadrina erstellt, im Auftrag des Bundesinnenministeriums (BMI). Nachdem der neue Anwendungsbericht des BMI und das Wolff-Gutachten vorlagen, haben sich die Koalitionspartner auf einen fragwürdigen Kompromiss zum TBEG verständigt. Er sieht vor, dass einige offensichtlich entbehrliche Befugnisse gestrichen werden, andere erneut befristet verlängert werden (z.T. mit den von Wolff angeregten Verbesserungen). Zudem verspricht er eine erneute Evaluation. Dazu hat das Bundeskabinett am 17. August 2011 Eckpunkte zur Einrichtung einer Regierungskommission beschlossen. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erklärte dazu: „Mit der neuen Kommission wird die Sicherheitsarchitektur und -gesetzgebung der vergangenen zehn Jahre einer umfassenden und kritischen Gesamtschau unterzogen. Die Kommission wird eine übergeordnete rechtsstaatliche Perspektive einnehmen und konkrete Empfehlungen für die künftige Gesetzgebung und Sicherheitsstruktur erarbeiten.“ Das sind weitreichende Ankündigungen, an denen sich auch die Bundesjustizministerin am Ende messen lassen muss. Der Streit darüber, was und wie evaluiert werden soll, ist also in vollem Gange. Nach unserer Auffassung müsste eine solche Evaluation der Sicherheitsarchitektur und -gesetzgebung der vergangenen zehn Jahre über 70 Bundesgesetze in den Blick nehmen, die wir im 2009 vorgelegten „Graubuch Innere Sicherheit“ aufgelistet haben.

Kriterien einer den Grund­rechten verpflich­teten Evaluation

Evaluation bezeichnet allgemein ein Verfahren zur „systematischen Untersuchung von Qualität oder Nutzen eines Gegenstands“ (www.evaluation.de). Im rechtspolitischen Kontext geht es bei der Evaluation um die unabhängige Überprüfung der Grundrechtsverträglichkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Befugnisse. Die Frage, ob ein (Sicherheits-)Gesetz in seinen Grundrechtseingriffen verhältnismäßig sei, ist keine statische Frage, die sich ein für allemal klären ließe. „Evaluation hat die Funktion der Kontrolle, ob die tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen den Einschätzungen und Prognosen entsprechen, die der Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Gesetz zu Grunde gelegt hat.“ (Albers 2006)

Als Bürgerrechtsorganisationen geht es uns bei der Evaluation der Anti-Terror-Gesetze letztlich um die Beseitigung der Geheimdienstbefugnisse, weil wir sie für unerträgliche Eingriffe in die Freiheitsrechte halten. Deshalb verlangen wir von einer Evaluation den Nachweis, dass die mit den Überwachungsbefugnissen verbundenen Grundrechtseinschränkungen tatsächlich wegen höherrangiger Rechtsgüter, als dem der persönlichen Freiheit notwendig sind. Dabei muss die vom Grundgesetz geforderte Abwägung zwischen den legitimen Sicherheitsinteressen und den verfassungsrechtlich verbrieften Freiheitsrechten stattfinden – im Zweifel zu Gunsten der Freiheit. Gelingt dieser Nachweis nicht, sind die Befugnisse verfassungswidrig und müssen abgeschafft werden, weil sie unverhältnismäßig Freiheitsrechte einschränken. Das ist für uns der Kern jeder Evaluation.

Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat sich ausführlich mit der Evaluation von Sicherheitsgesetzen aus menschenrechtlicher Perspektive beschäftigt. Daraus ist – gestützt auf Arbeiten von Marion Albers – ein Policy Paper zur Evaluierung von Sicherheitsgesetzen entstanden [Weinzierl 2006]. Wir folgen im Prinzip den dort entwickelten Kriterien für eine Evaluierung. Danach sind mögliche Kriterien für eine Evaluierung die jeweils betroffenen Grundrechtsnormen und das aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitete Verhältnismäßigkeits- und Bestimmtheitsgebot. Aus der jeweils betroffenen Grundrechtsnorm ergibt sich die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Eingriffs. Dieser muss sich an die Vorgaben des Grundrechts halten, um gerechtfertigt zu sein. Überwachungsbefugnisse wären etwa nicht zulässig, wenn sie anerkanntermaßen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz – Menschenwürde) eingreifen, denn dieser Bereich ist nach unserer Verfassung absolut geschützt. Anders sieht es hingegen bei Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis etwa durch die Vorratsdatenspeicherung aus, denn Art. 10 Grundgesetz in Verbindung mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gestattet unter bestimmten Voraussetzungen eine Einschränkung dieser Rechte.

Bei der nachfolgenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen geht es immer um deren Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit. Schon bei der Geeignetheitsprüfung ist zu erforschen, ob sich die tatsächlichen Annahmen und Prognosen hinsichtlich der Bedrohungslage, auf deren Grundlage das Gesetz erlassen wurde, als tragfähig erweisen. Ebenso muss unter dem Gesichtspunkt der Geeignetheit überprüft werden, ob die eingesetzten Mittel tatsächlich in der beabsichtigten Weise wirken können (und tatsächlich wirken), oder ob sie dysfunktional sind (dann wären sie zu verwerfen). Beim Kriterium der Erforderlichkeit wird geprüft, ob der Ermittlungserfolg auch durch andere mildere Mittel erzielt werden kann (die dann zu bevorzugen sind). Bei der Frage der Zumutbarkeit geht es schließlich auch um die vielen unbeteiligten Dritten, die von Überwachungsmaßnahmen betroffen sind, sowie um die Abwägung der Nachteile, die für unmittelbar oder indirekt Betroffene entstehen können. All diese Fragen sind in einer Evaluation von Sicherheitsgesetzen nicht nur theoretisch zu erörtern, sondern auch in ihrer konkreten, möglicherweise nicht-intendierten Empirie zu untersuchen. Eine vollständige Evaluation wäre daher auch mit dem Mitteln empirischer Sozialwissenschaft, als Wirkungsforschung zu betreiben.

Wichtig für eine Evaluierung von Sicherheitsgesetzen aus menschenrechtlicher Perspektive ist daneben die Art und Weise ihrer Durchführung. Das Deutsche Institut für Menschenrechte stellt grundsätzlich fest, dass die Überprüfung in der Verantwortung des Gesetzgebers, nicht der Verwaltung (der Gesetzesanwender) liege. Der Gesetzgeber dürfe sich der Mithilfe von WissenschaftlerInnen und Datenschutzbeauftragten bedienen. Aus unserer Sicht wäre zu ergänzen, dass an einer echten Evaluation auch VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen sowie jene zivilgesellschaftlichen Gruppen zu beteiligen wären, deren Mitglieder von den Sicherheitsmaßnahmen betroffen sind (z.B. Gewerkschaften, religiöse Vereine). Insofern wird sich die Qualität der erneut vertagten Evaluierung schon daran bemessen, wie sich die Regierungskommission zusammensetzt.

Das Wolff-­Gut­achten

Das vom Bundesinnenministerium (BMI) beauftragte und in Zusammenarbeit mit dem Bundesjustizministerium entstandene Gutachten ist der Versuch, die offensichtlichen Mängel der „internen Evaluation“ wenigstens teilweise auszugleichen. Das BMI hatte zur Erstellung des Evaluationsberichts als externen wissenschaftlichen Sachverständigen (i.S. von Art. 11 TBEG) die Rambol Management GmbH mit der Erhebung der benötigten Daten beauftragt. Bei ihr handelt es sich jedoch nicht um eine wissenschaftliche Einrichtung, die sich durch ihre Beiträge zur Evaluationsforschung qualifizieren würde, sondern um eine Unternehmensberatung. Ihr methodischer Zugriff auf die Evaluationsaufgabe erfolgte – gemäß den Vorgaben ihrer Auftraggeber – mit vorbereiteten Fragebögen, die an die Sicherheitsbehörden versandt wurden. Das Ergebnis dieser „Anwenderumfrage“ entspricht dem alten Untersuchungsmuster, hat aber nichts mit einer Evaluation zu tun. Im Bericht der Rambol Management GmbH werden die möglichen nachteiligen Folgen der Sicherheitsgesetze weder systematisch erfasst und untersucht, noch finden dort die o.g. verfassungsrechtlichen Bewertungen der einzelnen Befugnisse und ihrer Anwendung statt. Nur vereinzelt finden sich Hinweise auf die Belastungen Dritter durch Sicherheitsmaßnahmen, denen jedoch nicht weiter nachgegangen wird. Insofern wiederholt der Bericht der Rambol Management GmbH alle Fehler des Evaluierungsberichtes von 2005. Um dies wenigstens etwas auszubügeln, kamen die beteiligten Ministerien überein, die Anwenderumfrage durch einen Verfassungsrechtler nachevaluieren zu lassen.

Was kam dabei heraus? Kann das Wolff-Gutachten die von uns geforderten Evaluationskriterien erfüllen? Zunächst einmal ist anzuerkennen, dass sich der Autor einer Evaluierung am Maßstab der Grundrechte verpflichtet fühlt. Seinem Gutachten liege die Überlegung zu Grunde, „dass die Evaluierungspflicht wegen der grundrechtseinschränkenden Wirkung der geheimen Eingriffsbefugnisse eingeführt worden ist und nicht um deren Effizienz zu kontrollieren und ggf. zu verbessern“ (S. 2). Tatsächlich prüft er dann anhand der Maßstäbe der relevanten Grundrechte: das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG), das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 i.V.m. Art. 1 GG), das Grundrecht auf Vertraulichkeit und Integrität technischer Systeme (IT-Grundrecht), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) und die Vertragsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). Zugleich ist diese Prüfung aber von vornherein durch den Gutachtenauftrag und die zur Verfügung gestellten Daten über die Anwendungspraxis der Geheimdienste grundsätzlich eingeschränkt. Ausdrücklich wurde durch die Auftraggeber bestimmt, dass das Gutachten nicht die Aufgabe habe,

–   „Anwendungsschwierigkeiten der Eingriffsbefugnisse verbindlich zu klären;
–   die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Praxis der Sicherheitsbehörden zu untersuchen;
–   die Verfassungsmäßigkeit der Normen verbindlich zu klären;
–   die rechtspolitische Frage zu beantworten, ob die Verlängerung der jeweiligen Eingriffsbefugnisse vorgenommen werden sollte oder nicht …
–   den Entwurf des Evaluierungsberichts vom 24.6.2010 zu bewerten;
–  die Eingrenzung des Gutachtenauftrages zu bewerten.“ (S. 25)

Mit einem derart beschränkten Auftrag ist eine an den verfassungsrechtlichen Kriterien ausgerichtete Evaluation von vornherein ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass sich aus dem zur Verfügung gestellten Material nur wenige Angaben zu grundrechtsrelevanten Aspekten der geheimdienstlichen Anwendungspraxis finden. Der dem Gutachter zur Verfügung gestellte Evaluationsbericht vom 20. Juni 2010 stellte nur die Vollzugsinteressen der Geheimdienste dar. Die in diesem Bericht vorgeschlagenen Änderungen beziehen sich daher erwartungsgemäß ausschließlich auf die Abrundung und Erweiterung der Eingriffsbefugnisse – aus der Sicht der Sicherheitsbehörden. Die Grundrechtsbelastungen, der tatsächliche (in rechtsstaatlichen, z.B. gerichtsfesten Kriterien messbare) Nutzen und insbesondere die Notwendigkeit für den Einsatz dieser Überwachungsmittel wurde nicht dargelegt.

Diese gravierenden Einschränkungen sowohl im Auftrag als auch im verfügbaren Datenmaterial führen zwangsläufig dazu, dass Herr Wolff die untersuchten Eingriffsbefugnisse nicht infrage stellen kann. Was ihm bleibt, sind lediglich Erwägungen für einen verbesserten Rechtsschutz der Betroffenen anzumahnen. Von daher ist auch dieses Gutachten weit von einer echten, am Maßstab der Grundrechte orientierten Evaluation entfernt.

Die Humanistische Union wird deshalb die Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsgesetzgebung nicht nur minutiös beobachten, sondern auch ihre Forderungen nach einer den Grundrechten verpflichteten Evaluation weiter verfechten und diese konkretisieren.

Rosemarie Will

Literatur:

Marion Albers: Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Evaluierung neuer Gesetze zum Schutz der Inneren Sicherheit, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.): Menschenrechte – Innere Sicherheit – Rechtsstaat, Berlin 2006, S. 21-36.

Bundesministerium der Justiz: Sicherheitsgesetze auf dem Prüfstand. Pressemitteilung vom 17.8.2011, http://www.bmj.de.

Ruth Weinzierl: Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen. Anregungen aus menschenrechtlicher Perspektive, Policy Paper Nr. 6, Berlin 2006.

Heinrich Amadeus Wolff: Verfassungsrechtliche Bewertung des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes (TBEG) und seiner Anwendung. Rechtsgutachten, Berlin April 2011 [= Innenausschuss des Dt. Bundestages, Drs. 17 (4) 245].

nach oben